Gelebte Versöhnung von Sein und Zeit

Der tschechische Schriftsteller Bohumil Hrabal vereint in seiner Prosa Lebensfreude und Sinnlichkeit mit einer unnachahmlichen Lust am Erzählen

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Noch zu seinen Lebzeiten hatte Bohumil Hrabal (1914-1997) eine Vielzahl von Texten zu einem Manuskript zusammengefaßt, das 1984 in der ČSSR unter dem Titel Fleißaufgaben erschienen ist: gekürzt und zensiert! Unter dem etwas sperrigen Titel Ein Heft ungeteilter Aufmerksamkeit liegt dieses Büchlein jetzt, noch dazu in kenntnisreicher Übersetzung von Susanna Roth, als vollständige Separatausgabe vor, die auch als eine Art Testament verstanden werden kann.

Unübersehbar ist der bekenntnishafte Charakter, der dieses Gewimmel an Texten, Notizen, Erinnerungen, Tagträumen, Gedankensplittern und Skizzen durchzieht. Die Berichte des Erzähler-Ichs von absurden Pointen und abstrusem Kneipengeschwafel, dem von Hrabal in die Weltliteratur hineingetragenen sogenannten „Bafeln“, veranlassen den Leser zum Spekulieren über vermeintliche autobiografische Enthüllungen. Diese Wahrscheinlichkeit ist nicht ausgeschlossen, geht den Texten des „Heftes“ eine Beichte der besonderen Art voraus, der „Leitfaden eines Baflerlehrlings“.

Pralle Lebensfreude verstellt in diesen Texten keineswegs den Blick auf die sogenannten dunklen Seiten des Daseins. Ganz im Gegenteil – die wahre Fülle alles Erlebbaren wird in tiefer Dankbarkeit empfunden. Zuweilen wirkt diese vitalistische Lust wie eine Provokation. So kommt es zu sonderbaren Begegnungen im Alltag. Als den Erzähler die Kunde vom Tod seiner Mutter erreichte, „hörte ich, wie der schwarze Kater Schwarzwald das aufgeschlagene Bett fürchterlich vollschiß, den geblümten Überwurf, die Decke und den grünen Filz. Ich wollte den Kater züchtigen, lächelte dann aber, denn er hatte an meiner Stelle zum Zeichen der Trauer den Schleier zerrissen“.

Hrabals aufmerksame Beobachtungsgabe sorgt für ungewöhnliche Blickwinkel auf die Wirklichkeit, die zuweilen auch in surrealistische Momente zu kippen vermag. Dies entspricht durchaus der tschechischen Tradition der originären Strömung des Poetismus der 1920er- und 1930er-Jahre.

Weil sich alles auf geheimnisvolle Weise irgendwie und irgendwann zusammenfindet, gibt es letztlich keine Fremdheit mehr. Dem Erzähler bleibt ein nirwanahaftes Eintauchen in alles, was möglich ist und die Angst vor der Vergänglichkeit fällt ab, denn, so schreibt Hrabal, „ich weiß, das einzig Gewisse, die Gewißheit aller Gewißheiten ist die Tatsache, daß so, wie ich mich heute und täglich im Bach wasche und mir Verstorbene ins Gesicht spritze, sich einmal jemand Reste meines destillierten Ich in sein Gesicht schmieren wird, ein schönes Wässerchen mit ziemlich viel Glanz und dem Duft, in den sich alle Gerüche verwandeln“.

Eine pantheistische Universalität schimmert hier durch, eine Versöhnung von Sein und Zeit: „Eigentlich gibt es den Tod nicht. Ich bin unsterblich. Also gehe ich getrost in die Hájenka, um Bier zu trinken“.

Absurde Situationen hat Bohumil Hrabal im Laufe seines Lebens zur Genüge erlebt. Obwohl er zu den bedeutendsten tschechischen Schriftstellern gezählt wurde, konnte er seine Werke während der bleiernen Jahre nach der gewaltsamen Niederschlagung des „Prager Frühlings“ im August 1968 nur sehr eingeschränkt publizieren. Das Exil wäre für ihn niemals infrage gekommen, zu sehr benötigte er die böhmischen Kneipen als realen Ort gelebter Fantasie. Er liebte es ebenso, stundenlang an Bächen und Flüssen entlang zu spazieren und fügte dieser Horizontale des Begehbaren immer zugleich auch die gedankliche Vertikale „zum Himmel und den Sternen“ hinzu.

So maßlos die Ausweitung des Hrabalschen Wahrnehmungsapparats ist, so ausgelassen präsentieren sich in direkter Folge die ungeahnten Verbindungen poetischer Bilder. Hrabal-Leser wissen, dass ihr Bedürfnis nach Humor nicht zu kurz kommt und gleichzeitig das lautlose Gewicht der Bildmotive einen verstummen lassen können, weil einer ausgesprochen hat, auf was alle gewartet haben ohne jedoch darüber vorher zu wissen.

Das ,totale Ende‘, welches alle Bafler zeitlebens beschäftigt, hat auch den Schriftsteller Bohumil Hrabal 82-jährig im Februar 1997 erreicht. Dass der Tierliebhaber beim Füttern von Tauben das Gleichgewicht verlor und einem absurden Fenstersturz erlag, würde sich als weitere Anekdote in die Sammlung seines Heftes der ungeteilten Aufmerksamkeit hinzufügen lassen. Als Abschluss. Oder als Auftakt, da es durchaus ernst zu nehmende Stimmen gibt, die davon berichten, daß Hrabal seinem Leben ein Ende gesetzt hat. Seine Übersetzerin Susanna Roth, die den Autor gut kannte, äußerte sich einst in einem streitbaren Einwurf über Hrabals Tod: „Bohumil Hrabal ist nicht tragisch verunglückt. Mir scheint vielmehr tragisch, daß, nachdem sein Werk in seiner Heimat lange Jahre zensuriert und in letzter Zeit von Kritik und Publikum praktisch ignoriert wurde, man nun auch noch seine Biographie zensuriert“.

Seine Zeit, über die Bohumil Hrabal so viel nachgedacht hat, war vorüber. Dass er sie genutzt hat, kann man in Ein Heft ungeteilter Aufmerksamkeit nachlesen.

Titelbild

Bohumil Hrabal: Ein Heft ungeteilter Aufmerksamkeit.
Übersetzt aus dem Tschechischen von Susanna Roth.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
97 Seiten, 9,95 EUR.
ISBN-13: 9783518240366

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