Wandernde Grenzen

David Van Reybrouck erzählt in „Zink“ von einer historischen Kuriosität mitten im Herzen Europas

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem monumentalen Buch Kongo (dt. 2012) zog David van Reybrouck auf den Spuren des belgischen Kolonialismus nach Afrika, um dieses riesige Land mit seinen unermesslichen Problemen und Krisen zu verstehen. In offenkundigem Kontrast dazu tritt sein neuestes, schmales Buch Zink: ein Essay über eine Mikronation namens Neutral-Moresnet. Diese historische Kuriosität, auf die der Autor per Zufall gestoßen ist, dürfte wohl nur wenigen bekannt sein. Neutral-Moresnet ist ein Produkt der nationalstaatlichen Neuordnung zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Eingeklemmt zwischen den Niederlanden und Preußen, später dann zwischen Belgien und dem Deutschen Reich, existierte von 1816 bis 1919 ein kleines – fast ist man versucht zu sagen: gallisches – Dorf, das in einer politischen Lücke Unabhängigkeit genoss.

Das Territorium dieser Mikronation umfasste 3,44 Quadratkilometer, auf denen 250 Seelen lebten. Es bestand aus dem Bauerndorf Kelmis sowie dazugehörig dem während Jahrzehnten größten Zinkbergwerk der Welt. Dieses war der Anlass für den historischen Sonderfall. Weil sich auf dem Wiener Kongress die Alliierten Niederlande und Preußen nicht einigen konnten, wem das Bergwerk zugeschlagen werden sollte, richtete man als Übergangslösung eine neutrale Zone zwischen den beiden Ländern ein und rückte sie zwischen die Gemeindeteile Belgisch-Moresnet und Preußisch-Moresnet ein. Aus ursprünglich einer wurden so drei Gemeinden mit unterschiedlicher Nationalität und unterschiedlicher Gesetzgebung. Als unabhängiges Territorium blieb Neutral-Moresnet weiterhin dem alten Code civil von 1800 unterstellt, weshalb die Gasthäuser oder die Alkoholproduktion von jeder Regulierung befreit waren. So begann das kleine Ländchen als Schmuggelparadies wie auch als Versteck für Gauner und Kriegsdienstverweigerer zu florieren. Dies umso mehr, als auch die Zinkmine einen ungeahnten Aufschwung erlebte. Deren Produktion erhöhte sich laufend, weil die Nachfrage nach Zink im 19. Jahrhundert stetig wuchs. Mit seinen speziellen Eigenschaften drückte Zink jener Epoche den Stempel auf, mit Zinkbadewannen oder Zinkdächern, wie sie Baron Haussmann für sein neues Paris vorschrieb. Neutral-Moresnet boomte geradezu, und die Bevölkerung stieg von 250 auf 4668 Menschen (1914) an.

Diese Kuriosität wäre zum Lachen, offenbarte sie nicht eine tragische Kehrseite. David Van Reybrouck ist auf dieses Unikum gestoßen, als er per Zufall von Emil Pauly alias Joseph Rixen erfuhr. Schon die doppelte Identität signalisiert das historische wie biografische Durcheinander. Seine schwangere, aber ledige Mutter Maria Rixen war nach Kelmis geflohen, weil sie sich hier sicher fühlte. 1903 gebar sie ihren Sohn Joseph, den sie bei der Familie Pauly in Pflege gab. Hier wurde er allerdings Emil genannt, weil bereits einer der Pauly-Söhne Joseph hieß. Durch Nachkommen erfährt David Van Reybrouck von dessen tragikomischem Schicksal als einem „modernen Hiob“, der fünf Staatsangehörigkeiten in seinem Leben auf sich vereinte und fast so viele Militäruniformen trug, und dennoch nie das Dorf verließ:

„Ohne jemals umgezogen zu sein war er Einwohner eines neutralen Mikrolandes, Untertan des deutschen Kaiserreichs, Bürger des Königreichs Belgien und Staatsangehöriger im Dritten Reich. Bevor er wiederum Belgier werden wird, sein fünfter Wechsel der Staatsangehörigkeit, wird er als deutscher Kriegsgefangener abgeführt. Er hat keine Grenzen überschritten, die Grenzen sind über ihn hinweggegangen.“

Sein historischer Essay Zink – er war 2016 in den Niederlanden als „Buchwochen-Essay“ erschienen – bildet ein Gegenstück zum gewaltigen Kongo-Buch, auch wenn in beiden der Bergbau eine gewichtige Rolle spielt. Gemeinsam ist ihnen die Anlage des Textes. Van Reybrouck misst die historischen Kontexte an realen Geschichten und macht sie am Beispiel von individuellen Schicksalen lebendig. In Kongo orchestriert er einen vielstimmigen Chor von Meinungen und Vorkommnissen, die das riesige Land repräsentieren; im schmalen Essay Zink ist es das Exempel von Joseph Rixen. Der Autor resümiert sachlich knapp und präzise die Geschichte des Zink-Metalls, umreißt die historischen Umstände und hört den letzten noch lebenden Zeitzeugen zu.

Neutral-Moresnet ist nicht die Welt, aber ein Spiegel im Kleinen für den Irrsinn eines beschränkten Nationalismus. Schlüsse daraus zieht Van Reybrouck in seinem Essay keine, er enthält sich jeden Kommentars bezüglich des drohenden Neo-Nationalismus in der Welt oder des politischen Versagens im innereuropäischen Diskurs. Wer sich allerdings in Europa umschaut, erkennt, dass längst nicht alle Grenzen sakrosankt und fest verankert sind – mit ambivalenten Effekten. Die einen Grenzen werden geöffnet, andere neu befestigt oder sie werden infrage gestellt, um die territoriale Befestigung nach völkischen Gesichtspunkten zu verschieben. Zink erzählt nur eine kleine vielsagende Geschichte. Was in ihr alles zu erkennen ist, bleibt den Leserinnen und Leser überlassen.

Heute ist Neutral-Moresnet kein Zankapfel mehr. Auf dem Territorium der verlassenen Zinkmine blühen bloß noch die „Galmeiveilchen“, die Zinkveilchen. „Nirgendwo anders auf der Welt kommen sie vor“ – sobald es wieder Frühling wird. Wer will sich darum streiten?

Titelbild

David Van Reybrouck: Zink.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
87 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783518072905

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