Die geheimen Beziehungen zwischen Leben und Werk
Biografisches und Nichtbiografisches zu Marcel Proust
Von Olaf Kistenmacher
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWer im 21. Jahrhundert über Marcel Proust sprechen will, kommt kaum umhin, Roland Barthes zu erwähnen. Barthes erscheint wie ein Nachfahre des berühmten Romanciers, zumindest was den Stil und die Themen angeht: die Melancholie, die Trauer um das Verlorene, die Faszination für die Fotografie und ein Denken, das zwischen Objektivem und Subjektivem oszilliert. Allerdings war es dem Linguisten und Soziologen Barthes nicht vergönnt, selbst einen Roman zu schreiben. Im Rahmen der Vorlesung Die Vorbereitung des Romans, in der Barthes in den 1970er Jahren sein Scheitern analysierte, sagte er, dass wir „im Grunde […] sehr wenig über die Suche nach der verlorenen Zeit“ wüssten. Das Gleiche scheint für Proust selbst zu gelten, was kaum zu glauben ist, wenn man Jean-Yves Tadiés Biografie Marcel Proust, im Original 1996 veröffentlicht und nun in deutscher Übersetzung als Taschenbuch erhältlich, mit ihren über 1.000 Seiten vor sich hat. Doch eine wiederkehrende Aussage in dieser Biografie lautet: „Im Grunde ist dieser Zeitabschnitt in einem an Geheimnissen reichen Leben der geheimnisvollste.“ Der unmittelbare Leseeindruck bleibt gleichwohl ein anderer: Man meint, in jedem Augenblick im Leben Prousts dabei zu sein. Tadié begleitet den Autor Jahr für Jahr, Monat für Monat, mitunter Tag für Tag. Wer etwas über das Leben des Schriftstellers erfahren will, kommt um diese Biografie nicht herum.
Der Herausgeber der französischen Proust-Werkausgabe unterscheidet dabei allerdings sehr genau zwischen Leben und Werk, was dadurch erschwert wird, dass Proust ebendiese Unterscheidung untergraben hat. Von sich selbst sagte Proust, er verfüge über „keine Erfindungsgabe“ und könne lediglich das schreiben, „was er selbst erlebt habe“. Entsprechend liest sich Á la recherche du temps perdu wie eine Lebenserinnerung. Doch dieser Eindruck täuscht. Nach der Veröffentlichung der ersten Bände wies Proust befreundete Leserinnen und Leser unermüdlich darauf hin, dass sein Buch „ein von Grundsätzen geleitetes, durchkonstruiertes Werk“ sei und dass die dargestellten Personen Erfindungen sind. Allerdings interessieren seine Figuren, wie schon den Ich-Erzähler in dem Romanfragment Jean Santeuil, „die geheimen Beziehungen, die notwendigen Metamorphosen zwischen dem Leben des Schriftstellers und seinem Werk“, und in Prousts Leben vermischten sich ebenfalls das Faktische und das Fiktive: Er lebte vornehmlich, um zu schreiben, und er erfand, so Tadié, „das Reale, um es in literarische Sprache zu verwandeln“.
Bei der Dreyfus-Affäre, in der sich Proust für den zu Unrecht verurteilten und verstoßenen jüdischen Hauptmann einsetzt, „hilft ihm seine literarische Bildung dabei, die Realität zu lesen und später auf umgekehrte Weise das Romanhafte des Realen in den Roman zu transponieren“. Tadié spürt unermüdlich den Momenten im Leben Prousts nach, die sich – verwandelt – im Hauptwerk wiederfinden lassen, jedoch ohne Auf der Suche nach der verlorenen Zeit damit als Schlüsselroman zu interpretieren. „Völlig nutzlos“ sei, so Tadié entschieden, die Frage, ob die zentrale Figur des fünften und sechsten Bands, Albertine, „Agostinelli gleiche, ob sie ein verkleideter Mann sei“, weil das von Proust erlebte Drama mit seinem Chauffeur, in den der Dichter unglücklich verliebt war, „anschließend verinnerlicht, analysiert und rekonstruiert“ wurde. „Dieser Abstand der Meditation zur Realität und zur Biographie ist der Spielraum der Einbildungskraft.“
Dass sich Tadié in seiner Biografie auf den großen Schriftsteller konzentriert und nicht allgemein über den Menschen Marcel Proust schreibt, wird bei der Darstellung des politischen Intellektuellen deutlich. In der Schilderung von Prousts Engagement für Dreyfus fehlt zwar kein einziges Moment, doch das größere Ganze. Man erfährt, dass Proust wahrscheinlich 1897 von Joseph Reinach, dem späteren Historiker der Dreyfus-Affäre, über Émile und Geneviève Straus erfahren hat, dass die bei Gericht vorgelegten Beweise gefälscht waren. Man weiß, dass Proust 1898 eine Petition zugunsten Emile Zolas unterschrieb, nachdem Zola in dem berühmten „J’Accuse“ für Dreyfus Partei ergriffen hatte. Man liest bei Tadié, dass schon Prousts Romanfragment Jean Santeuil die Affäre behandelt und dass dies bemerkenswert sei, weil zur Zeit der immerhin zwölf Jahre andauernden Dreyfus-Affäre nur zwei Romane geschrieben wurden, die sich mit ihr befassten. Doch über Prousts politische Wirkung, über die Diskussionen im Kreis der Intellektuellen, über die Affäre selbst liest man wenig. Es geht Tadié darum, wie der große Romancier die Affäre „erlebt und nachzuzeichnen versuchte“. Bezeichnend für seine Biografie ist der anschließende Satz: „Von seiner Lektüre wissen wir wenig.“
Roland Barthes zeigte 1978 bis 1980 begleitend zu seiner Vorlesung in einem Seminar Fotografien aus der „Proustschen Welt“, um der Beziehung zwischen der Romanwelt und seinem Lesepublikum nachzuspüren. Die schöne Proust-Bildbiografie, die der Literaturkritiker Andreas Isenschmid verfasst hat, erinnert an diese Vergegenwärtigung durch die Vorlage von Fotografien. Doch während Barthes eine kritische Perspektive auf die Suche nach der Wirklichkeit hinter dem Roman einnimmt und sich fragt, warum wir enttäuscht sind, „wenn es zu einer Figur der Suche nach der verlorenen Zeit kein Photo gibt“, bedient Isenschmids Bildband genau dieses Bedürfnis.
Fotografien spielen in Prousts Hauptwerk eine bedeutende Rolle. Die Fotografie der Herzogin von Guermantes ist für den Ich-Erzähler „wie eine weitere Begegnung“, wie er im dritten Band, Der Weg nach Guermantes, konstatiert. Zugleich dient das Medium Fotografie als Metapher oder als Vergleich für das menschliche Bewusstsein und den Erinnerungsvorgang, dem zentralen Thema in Prousts Hauptwerk. Was man in „der Gegenwart“ eines geliebten Menschen aufnehme, heißt es in Im Schatten junger Mädchenblüte, sei „nur ein Negativ, man entwickelt es später, wenn man zu Hause angekommen ist und einem jene innere Dunkelkammer wieder zur Verfügung steht“. In seinem dicht gewobenen biografischen Essay – der leider keine Quellenangaben enthält – zitiert Isenschmid aus einem von Prousts Notizbüchern, wonach das Haus, in dem die berühmte Eingangsszene aus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit spielt, in der das Kind auf den Gutenachtkuss der Mutter wartet, nicht mehr existiere. Das Bild in seinem Kopf sei „vielleicht der einzige Abzug, den es noch davon gibt und nicht mehr lange geben wird“.
Isenschmid sucht nach den biografischen Quellen des großen literarischen Werks und seine Darstellung befriedigt den populären Wunsch nach dem geborenen Genie. Er zitiert eine frühe Liebe Prousts, Daniel Halévy, der 1888 schrieb, der jugendliche Proust sei „völlig verrückt“ und „begabt wie niemand“.
Mit Proust zum Vergnügen versucht Bernd-Jürgen Fischer, der von 2013 bis 2016 eine Neuübersetzung von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit erstellt hat, ein neues Publikum zu gewinnen, indem er die heitere Seite Prousts vorstellt. In der Tat hat der melancholische Romancier, dessen Leben durch Krankheiten und Einsamkeit geprägt war, sich kalauernde Briefe mit seinen Freunden geschrieben. Auch die von Fischer wiedergegebene Passage aus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, in der der jugendliche Ich-Erzähler das erste Mal die große Sängerin Berma, die Sarah Bernard nachempfunden ist, hören darf und bekennen muss, dass er zwar so gut wie er konnte, zugehört habe, „um herauszufinden, was so bemerkenswert an ihr ist“, die Darbietung aber nicht wirklich genießen konnte. Allerdings ist dieses Verpuffen umso komischer, je länger man den Ich-Erzähler mit seiner Vorfreude, seiner Ungeduld und seiner Erwartung an den wahrhaftigen Kunstgenuss begleitet. Das heißt, man muss doch den ganzen Roman lesen, um wirklich lachen zu können. Grundsätzlich ist Fischers Strategie bekannt, jedoch ist fraglich, ob sie aufgeht: Auch von Franz Kafka wird erzählt, er habe beim Vorlesen von Der Process Tränen gelacht, von Virginia Woolf berichtet, wie sie Lachanfälle bekommen habe. Doch lesen deswegen mehr Menschen Kafka und Woolf, und können sie dabei ebenfalls diese Heiterkeit empfinden?
Dass Bernd-Jürgen Fischer schließlich Proust in einer Fußnote als „Halbjude“ bezeichnet, ist nicht zum Lachen. Nicht nur fällt er damit in die Sprache des Nationalsozialismus zurück. Die unzulässige Markierung verdunkelt mehr, als sie erhellen könnte. Bei Tadié lässt sich nachlesen, dass Proust zwar mehrere jüdische Figuren für seine Romane schuf – nicht zuletzt die Titelfigur des ersten Bands von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Charles Swann –, dass er sich selbst aber nicht als Jude verstand. Seine Mutter war lediglich „aus Achtung vor ihren Eltern der jüdischen Religion treu geblieben“. Marcel Proust war Katholik, und als aufgeklärter Franzose, als Intellektueller, als Homosexueller, der sein Begehren gegenüber seiner Umwelt immer mehr verbarg (nachdem er als junger Mann relativ offen schwul lebte), ergriff er wiederholt Partei für die Opfer, die Ausgegrenzten der Gesellschaft, für Jüdinnen und Juden. Es sei „irrig“, so Tadié, Prousts politische Positionierung „seiner jüdischen Herkunft zuzuschreiben“.
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