Das Leid des Menschen, die Suche nach Gott und das In-der-Seele-Versinken

Persisch-mystische Fragen nach dem Sinn des Lebens

Von Nathanael RiemerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathanael Riemer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Was haben ein Jude, ein Christ, ein Moslem und ein Atheist gemeinsam?“ , fragen gängige Witze und suchen in subtil-humorvoller Weise nach Ähnlichkeiten und Differenzen der menschlichen Kulturen. So unterschiedlich die diversen Verehrungen und Ablehnungen der monotheistischen Gottheiten sein mögen, sie eint doch das Problem der Theodizee: Die Frage, warum Gott seine Schöpfung – insbesondere die Menschen – nicht besser behütet oder möglicherweise vielfältige Gründe haben mag, dies gerade nicht zu tun, verbindet seit der Antike über die Krankenbetten, Todeslager und Katastrophen hinweg Menschen mit höchst konträren Anschauungen.

Einige von diesen Mit- und Gegen-Gott-Hadernden sind hinreichend bekannt: Als besonders prominentes Vorbild gilt Hiob beziehungsweise die altorientalische Erzähler- und Gelehrtenschule, die diese faszinierende Figur konstruierte und tradierte. Historisch greifbarer ist jedoch ein persisch-muslimischer Gelehrter namens Farīd ud-Dīn ʿAṭṭār (um 1145–um 1221). Der Dichter war ein Anhänger des Sufismus und verdiente – wie die Beifügung ʿAṭṭār seines Schriftstellernamens andeutet – als Drogist seinen Lebensunterhalt, ohne jemals seine Heimatstadt Nishapur für längere Zeit zu verlassen. Der größte Teil der Erzählungen und Nachrichten, die sich mit seiner Person beschäftigen, gehören in das Reich der Legenden: Sowohl seine familiäre Herkunft und seine Lebensumstände als auch seine Zugehörigkeit zu einer sufischen Initiationskette lassen sich nicht mehr exakt ermitteln. Es wird gemeinhin angenommen, dass er beim Einfall der Mongolen (um 1220) in das persische Seldschukenreich gestorben ist. Sein Mausoleum, das der Dichter und Künstler Nizām-al-Din ʿAli-Shir Herawī (1441–1501) errichten ließ, kann noch heute in Nishapur, dem Nordosten des heutigen Irans, besichtigt werden.

ʿAṭṭār soll 114 Werke verfasst haben. Tatsächlich geht jedoch nur eine sehr viel kleinere Zahl auf ihn zurück, was seinen Ruf nicht schmälert, da sie für ihre besondere Schönheit bekannt sind und neben Dschalāl ad-Dīn Muhammad ar-Rūmī (Rumi, 1207–1273) und Hāfez (Hafis, um 1315–um 1390) seinen Rang als Dichterfürsten der persischen Literatur begründen. Eines dieser Werke ist das Buch der Leiden (Moṣībat-Nāmeh, مصیبت‌نامه), das sich mit der Frage des menschlichen Leidens auseinandersetzt. Das Werk ist im deutschsprachigen Raum vor allem durch die Vorarbeiten von Helmut Ritter, Annemarie Schimmel und zuletzt Navid Kermani bekannt geworden, sodass die vorliegende (nahezu vollständige) deutschsprachige Übersetzung zu begrüßen und zu würdigen ist.

In einer auch für Laien verständlichen Einleitung stellt Monika Gronke zunächst das Leben und Werk des Dichters vor, führt dann den Leser an die sufische Mystik mit ihrer innerlichen Gottessuche und Verschmelzungssehnsucht heran und skizziert den Textaufbau. Das Buch der Leiden ist in vierzig Kapitel unterteilt – eine Gliederung, die sich an der vierzigtägigen Selbstabschottung der Sufi orientiert. Der gesamte Text wird durch eine Rahmenhandlung umfasst, in die zahlreiche Erzählungen und Diskussionen zwischen den Akteuren eingeschoben sind, so dass philosophische, diskursive und narrative Elemente eine kurzweilig-nachdenkliche Lektüre bilden.

ʿAṭṭār beschreibt die menschliche Seele als einen Pilger, die auf der Suche nach dem „verlorengegangenen“ Gott an ihrer inneren Zerrissenheit leidend das gesamte Universum durchwandert. Der Gottessucher stellt seine Welt, die menschlichen Typen und ihre Werte in Form eines absolut nüchternen Realismus dar.

Das Herz hat kein Wissen über den Zustand der Dahingegangenen; die Seele hat keinen Eindruck von den Verhältnissen der Verblichenen. […] Alle im Tumult der Unachtsamkeit, alle mit der Auswirkung von Fehlerhaftigkeit beschäftigt. Hunderttausend verwirrte Geschöpfe; alle mit der Plünderung der Welt beschäftigt. Einer schafft von da etwas fort, einer von dort; einer ist sich einer Sache sicher, ein anderer zweifelt daran. Einer verirrt sich wie ein Schwein, ein anderer wird durch List zu einem Fuchs. […] Einer nimmt Art und Wesen des Hundes an, ein anderer wird tückisch wie eine Maus. […] Einer wird zum Leichenfresser wie der Geier, ein anderer zum Schreihals wie die Krähe. […] Einer betrügt alle mit Arglist, ein anderer vergiftet alle mit seinem Stolz. […] Einer trägt das Monogramm des Neides auf seinem Körper, ein anderer verbindet Heuchelei mit rasender Lust. […] Jeder ist in einer anderen Sekte, auf einem anderen Weg; jedes Herz liegt zweifelnd in einem anderen Abgrund.

 Der an diesem „Weltschmerz“ verzweifelnden Seele erscheint ein „Meister“, nämlich ein in mystischen Dingen bewanderter Mensch, und entsendet sie auf die Suche: „Der Weg ist lang, mein Sohn, sei achtsam! Hebe den Schlaf für das Grab auf und bleibe wach! Jedem wird ein besonderes Werk zugewiesen, wie du haben viele diesen Kummer gespürt. […] Trage die Last, iss Disteln, höre zu.“

Die suchende Seele tritt den Pilgerweg an und fleht in ihren 40 Etappen alle Wesen des Universums um Auskunft an. Unter ihnen befinden sich die Engel und der Thron Gottes, das Paradies und die Hölle, Sonne und Mond, die vier Elemente, Mineralien, Pflanzen, Tiere, der Satan und die Geister, et cetera. Nachdem der Pilger selbst von den verschiedenen Propheten (unter anderen Adam, Moses, Jesus und Mohammed) keine zufriedenstellenden Antworten erhält, setzt er die Reise durch die innerlichen „Räume“ des Menschen fort und befragt sogar die Sinnesempfindungen, den Verstand, das Herz und schließlich die menschliche Seele selbst. Ihre Antwort vermag den Gottessuchenden irritieren:

O Pilger mit der verwirrten Seele! Du bist so weit durch die Welt geirrt und hast aus Liebe zu mir hundert Welten durchquert, bis du endlich an das Ufer meines Meeres gelangt bist. […] Was Du verloren hast, liegt in Dir selbst; du bist dir selbst der Schleier. Der Mensch eilte anfangs zu jedem Stäubchen, aber solange er den Weg zu sich selbst nicht fand, fand er keinen Weg. […] Jetzt, wo du hier angekommen bist, sei ein Mann! Tauche in mein Meer ein; sei mutig! Ich bin das grenzenlos Meer, auf ewig ohne Anfang und Ende. Überwinde an meinem Ufer die Trennung, löse dein Herz vom Leben, und ertrinke in mir! Wenn du einmal völlig in dieses Meer eingetaucht bist, so versinke immer weiter!

Man hat den Eindruck, dass nach ʿAṭṭār der hoffnungslose Mensch bei der verzweifelten Suche nach Gott und Rettung aus seinem Dilemma entweder letztlich doch auf sich selbst angewiesen ist und sich in seine eigene Existenz „hineinwerfen“ muss oder von der Welt und seinem Dasein nichts versteht. Beides fordert heraus – schon deshalb lohnt sich die Lektüre des Buches. Die Einleitung und der Text selbst machen neugierig und erlauben einen kleinen Einblick in die muslimisch-persische Literatur- und Denktraditionen. Bedauerlich ist, dass die „theologisch und philosophisch schwierige“ Vorrede von ʿAṭṭār – trotz nachvollziehbarer Gründe – nicht mitübersetzt wurde, sodass das Buch der Leiden dem heutigen Leserpublikum ohne diesen wichtigen Kontext in einem eher säkularen Gewand entgegentritt. Dennoch ist es erfreulich, dass ein bedeutendes Werk der persischen Kultur veröffentlicht wurde, das diese besser vorzustellen vermag als couchsurfende, klischeebehaftete Reisebüchlein. Durch eine gezielte Förderung von Übersetzungen wichtiger Texte der Weltliteraturen aus „vergessenen“ Regionen könnte man den derzeitigen Vereinfachungsstrategien und Vorurteilen, die in Politik und Gesellschaft kursieren, besser vorbeugen und widerstehen.

Titelbild

Farid ud-Din Attar: Das Buch der Leiden.
Mit einer Einführung von Monika Gronke. Unter Mitarbeit von Nasi Shahin, Mehrdad Razi, Tahereh Matejko und Jutta Wintermann.
Übersetzt aus dem Persischen von Bernhard Meyer.
Verlag C.H.Beck, München 2017.
399 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406697623

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