Auch das noch: Georg Büchner als Ethnograf

Tim Webers Dissertation über Jagdallegorien in Büchners „Woyzeck“ ist nicht auf Erkenntnis angelegt

Von Christian MilzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Milz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Knapp daneben ist auch vorbei. Da untersucht ein Doktorand der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Rahmen einer Dissertation akribisch eine (thematisch begrenzte) Auswahl von Volksliedern in Georg Büchners Woyzeck-Fragment – ein seitens der universitären Literaturwissenschaft eher vernachlässigter, dennoch möglicherweise brisanter Teil der Dramaturgie eines immer noch hermeneutisch stark umstrittenen Textes – und kann infolgedessen nicht umhin, durchgängig die Verschränkung der „sexualmetaphorischen Bilderwelten des schriftsprachlichen Textes“ mit den „Sexualmetaphern des Volksliedes“ zu konstatieren, ohne dass er auch nur einen selbstständigen Gedanken riskiert, welche dramaturgische Funktion die Lieder als solche wie auch das Allegorische in ihnen haben könnten. Aber möglicherweise bringt das keinen Doktortitel ein.

Schon der Titel der Dissertation Der ethnografische Blick. Büchners Woyzeck und das Volkslied stempelt Georg Büchner neben denen ihm üblicherweise zugeschriebenen Charakteristika eines Dichters, Revolutionärs, Naturwissenschaftlers und Philosophen nun auch noch zum „Ethnographen“. Immerhin passt das wahrscheinlich nach Meinung der zuständigen Fachbereiche in die beträchtliche Lücke zwischen dem Dramenfragment und dem, was man von der Dichtung eines Revolutionärs und Naturwissenschaftlers und so weiter eigentlich erwartet, bei Büchner aber weitgehend vermisst. Näher läge da noch der Psychiater Büchner, allerdings gibt es auch diese Perspektive bereits, nur scheut man sich hier anscheinend vor dem einschlägigen Renommee des Etiketts.

In Tim Webers Buch erfährt der Leser also einiges über Georg Büchners verbale Rundumschläge gegen den Idealismus, sein Faible für das Volkslied und dessen Einfließen in das Woyzeck-Fragment, über Ethnografie und den zeitgenössischen Kontext. All das wird unter dem Begriff der „Volksnähe“ zu einer Melange aus Theoriefragmenten und Sozialromantik (das Volk mag’s halt gerne deftig), ohne dass solche keineswegs illegitimen Vorurteile (eines davon offenbart bereits der Titel Der ethnographische Blick) und die dazugehörigen Prämissen kritisch hinterfragt werden. Das ist indes weniger ein Fehler, der hin und wieder passiert und überall vorkommen kann, sondern teleologisch bedingt und modernen Konzeptionen von Interdisziplinarität, Intermedialität und Sexualität geschuldet, für die Büchner Pate stehen soll: Büchner geht ins (ethnografische) Feld. Seine literarischen Texte geben Aufschluss über „Quellen der Volksweisheit“. Er integriert die Volkslieder im Sinne einer literarischen Anthropologie in authentische Volksszenen. Summa summarum: „Der empirische, zeitgemäße Blick auf die Welt und das Leben ist hierbei das äußerste soziale Moment, mit dem Büchner seinen Woyzeck als explizit ethnographischen, modernen Text markiert, als Text, der keinen reinen wissenschaftlichen Eifer an den Tag legt und mit dem Büchner seine Methode eher im Sinne einer literarischen Kulturanthropologie bzw. Ethnographie reflektiert“.

Allerdings handelt man sich damit gewaltige Probleme sowohl im Hinblick auf interpretatorische Plausibilität als auch auf die Verfehlung von wissenschaftlichen Standards ein. Der Büchner attestierte „empirisch zeitgemäße Blick“ ist keine inhaltliche, sondern eine formale Kategorie des literarischen Zugriffs auf die Welt. „Unverstellter Blick“ bis hin zur poetologischen Metapher „Autopsie“ besagen nichts über die Inhalte dessen, was Büchner autopsiert. Eine Analyse der Lieder und Liedtexte ist schon deswegen eine angemessene wissenschaftliche Aufgabe, weil heute, anders als zu Büchners Zeit, die Lieder als solche mehr oder weniger unbekannt sind. Ihr Sinn muss aus historischen Kontexten erschlossen werden. Eine begründete wissenschaftliche Methode würde dabei von den derzeitigen kulturellen Werten und Normen abstrahieren und zwar schon allein deswegen, weil das Allegorische der Liedtexte eher in die andere Richtung, die der Vergangenheit, weist. Ob und inwieweit Büchner modern ist, wäre (allenfalls) nach einer sorgfältigen Analyse auszuweisen, als Prämisse ist es unwissenschaftlich. Geradezu eine wissenschaftlicher Kunstfehler ist es aber, die Volkslieder (beziehungsweise Lieder überhaupt) im Dramenfragment nur ausschnittsweise zu untersuchten; so groß ist das entsprechende Korpus nicht, als dass es im Rahmen einer Dissertation nicht komplett zu bewältigen wäre. Selbstverständlich darf der „ethnografische Blick“ die beiden Lieder des Mordkomplexes mit ihrer dezidierten Reinigungsmetaphorik nicht aussparen, Dreh- und Angelpunkt der Woyzeck-Dramaturgie.

Inhaltlich ist zunächst nämlich völlig offen, worauf Büchners wie auch immer theoretisch verortete Perspektive hinauswill. Der „Blick“ allein besagt gar nichts. Hier aber verweigert die Dissertation eine eingehende und unvoreingenommene Untersuchung. Als Arbeitshypothese leuchtet die sexual(a)moralisch eingefärbte ethnografische Prämisse keineswegs ein. Bloß deswegen ein solch gewaltiges Drama, das vielleicht sogar wegen seiner existentiellen Intensität Fragment geblieben ist, will sagen seinen Autor innerlich zerrissen hat? Auch das wäre eine mögliche Hypothese.

Es sind daher die nicht gestellten Fragen, die bei der Lektüre von Tim Webers Dissertation ins Auge springen. Warum die doppelt verdeckten Inhalte der Lieder (verdeckt erstens durch die indirekte Rede der Allegorie und zweitens durch die Unvollständigkeit)? Was soll sowohl angedeutet als auch nicht ausgesprochen werden? Warum wird überhaupt so viel gesungen? Und schließlich: In welchem Zusammenhang steht das Singen mit dem Allegorischen? Insbesondere wäre die ganze Untersuchung in den Zusammenhang des Mordkomplexes mit der Märchenparabel zu stellen, die zwar nicht gesungen wird, als indirekte Rede aber mit dem Allegorischen der Liedtexte korrespondiert.

Konsistenter im Kontext der Dramenhandlung wäre Büchners „ethnografischer Blick“ daher weniger idealisiert zu beleuchten. Ein Seitenblick in das Revolutionsdrama lieferte dafür erste und deutliche Anhaltspunkte. Denn in Dantons Tod erfreut sich eine Mutter an der Prostitution der Tochter (und zwar nicht nur aus materiellen Gründen), im Woyzeck singt die Mutter (gleichfalls in der Dissertation unberücksichtigt geblieben) von ihrer Sinnlichkeit – mit dem Kind auf dem Arm.  Kind und Kinder im Dramenfragment plus Sexualität plus Gesang auf der Bühne und schließlich die Hinrichtung der Mutter (als Katharsis?): Das sollte auch der ethnografische Blick nicht aus den Augen verlieren. Die Frage stellt sich, ob Tim Webers Dissertation, die das Forum Vormärz Forschung als Band XLII der Vormärz-Studien herausgegeben hat, ein Beispiel für die mittlerweile in der geisteswissenschaftlichen Forschung übliche Anspruchslosigkeit ist. Vielleicht trifft aber auch das zu, was schon Heraklit (nach Karl Jaspers) feststellte: Die meisten Menschen verstehen den Logos nicht, aber sie bilden es sich ein.

Titelbild

Tim Weber: Der ethnographische Blick. Büchners Woyzeck und das Volkslied.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2018.
279 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783849812737

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