Echte Preußinnen?

Burkhard Spinnen porträtiert Theodor Fontanes Frauengestalten in „Und alles ohne Liebe“ unkonventionell

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gottfried Benn gestand Theodor Fontane eine historische Bedeutung zu, mäkelte aber 1944 über das „Pläsierliche“ seiner Romankunst, die er geringschätzig als „medioker“ abtat. Der Expressionist Benn murrte also verstimmt. Burkhard Spinnen, selbst ein bekannter deutscher Erzähler, indessen möchte zur Lektüre von Fontanes Romanen und Erzählungen ermuntern. Zu Beginn seines Buches Und alles ohne Liebe. Theodor Fontanes zeitlose Heldinnen berichtet er von Ernüchterungen. Spinnens Sohn musste Fontanes Irrungen, Wirrungen in der Schule lesen. Romane wie diese würden „in kleinste Leseeinheiten zerschnitten, bis das Wesentliche des Textes gar nicht mehr wahrnehmbar“ sei. Er beschreibt anschaulich, wie gängige didaktische Modelle exerziert werden, bis jegliche Lesefreude konsequent ausgetrieben sei. „Figuren-Charakteristiken“ oder ein limitiertes Verständnis, das den jeweiligen Roman auf ein „Dokument früherer gesellschaftlicher Zustände“ reduziert, fördern den Lesefrust. Wer gerne liest, mag vielleicht mit der Schule erste Erkundungen unternehmen, sich aber auch gegen die Disziplinierungsmaßnahmen der Didaktik – und somit auch durchaus gegen die Schule – auf literarische Entdeckungsreisen begeben. Spinnen rät, Fontanes Romane neu zu lesen, und zwar so, als spielten sie nicht „anno Tobak“ – eine floskelhafte, altmodische Redewendung, an die sich Leser in mittleren Jahren erinnern werden –, sondern in einem „zeitlosen Jetzt“. Allein dieses Begriffspaar taugte für philosophische Debatten. Forsch heißt es aber sogleich: „Raus auf dem historischen Dschungel!, lautet die Devise.“

Spinnen beobachtet in den Romanen und Erzählungen Fontanes zwischenmenschliche Situationen, die zwar in einen historischen Kontext eingebettet sind – in die ständische, aber nicht mehr in sich gefestigte preußische Gesellschaft –, aber auch Konstellationen zeigen, die den Erfahrungen insbesondere einer jungen Leserschaft heute entsprechen könnten. Fontane gilt es also wiederzuentdecken oder ganz neu zu lesen, vor dem Horizont der Welt von heute.

Auch die Poggenpuhls beispielsweise leiden unter sich verändernden Lebensbedingungen, sind konfrontiert mit dem „Dünkel“ von Verwandten und liefern ein anschauliches Beispiel für eine „Illustration des vollkommenen Stillstands“ – im ausgehenden 19. Jahrhundert allerdings. Darum rät Spinnen: „Wichtig für uns gegenwärtige Leser ist dabei nicht so sehr, dass hier […] der Kleinadel untergeht. Wir sollten den Text vielmehr als Lehrstück dafür begreifen, wie sich einzelne Individuen zum gesellschaftlichen Wandel verhalten.“ Auch das klingt wie ein didaktischer Vorschlag. Müssen wir überhaupt etwas Handfestes lernen, wenn wir lesen? Ein Buch als „Lehrstück“? Die Wissbegierde erlahmt, das Staunen schwächt sich ab – genau in dem Moment, in dem ein Kunstwerk instrumentell reduziert wird auf irgendeine Form von Nützlichkeit. Belletristik ist auf eine gewisse Weise vollkommen überflüssig und nutzlos, darum vielleicht unverzichtbar.

Im Anschluss an die didaktischen Reflexionen weist Spinnen auf die besondere Begabung der Damen aus der Familie Poggenpuhl hin. Sie können sich „ihren Platz beim Abgrund beständig halbwegs sicher und leidlich erträglich reden“:

Die Vier bilden einen Chor mit verteilten Stimmen, in dem die Mutter für die Klage, Therese für die festen Standpunkte, Sophie fürs Sachlich-Praktische und Manon für den Optimismus zuständig ist. Und was dieser Chor auch immer intoniert, er tut es so, dass letzten Endes das gerade noch Erträgliche als das Richtige und das Richtige als gerade noch erträglich erscheinen. Mag auch das Leben der vier Frauen, nach Maßgabe ihrer Erwartungen und ihrer Wünsche betrachtet, eine dauernde Qual und Erniedrigung sein, so sind sie doch in der Lage, sich als Team über die Katastrophe ihres Aussterbens zu Lebzeiten hinwegzureden.

Es kommt also anscheinend nicht darauf an, die Welt zu verstehen oder gar zu verändern, sondern vielmehr plaudernd noch ein wenig weiterzuleben. Ähnlich alltagstauglich, wenngleich anders lebt auch Effi Briests Mutter Luise, „final unzufrieden mit ihrem Leben“, aber „auf hohem Niveau“. Sie tritt auf als „strenge Hüterin von Ordnung und Sittlichkeit“ und kompensiert dadurch ihre „ganz persönliche Herzlosigkeit“. So bewahrt Luise eine kalte, tote Ordnung und „lässt ihre Tochter treiben“: „Die trägt noch mit siebzehn Kinderbekleidung und turnt herum wie ein kleiner Junge.“ Am Ende muss sie Geert von Instetten heiraten und kann mit ihm nur unglücklich werden. Dass Kinder kindlich bleiben sollen, so Spinnen, habe sich nicht verändert: „Man kennt das heute mehr denn je.“ Tatsächlich? Den vermittelten Ehebund mit Instetten, einem ausgemachten Langweiler, nennt Spinnen „Menschenhandel“, eine „gesellschaftlich geduldete Sklaverei“. Er folgert: „Denn solange die Männer bloß eine seelenlose Verkörperung der gesellschaftlichen Regeln sind, lebt es sich wahrscheinlich um einiges besser ohne sie.“ Geschlossene Gesellschaften stelle Fontane vor, in denen „moralische Verhältnisse“ nach den Vorstellungen der Reichen herrschten. Der „Finanzier“ trete zuweilen als „feuriger Liebhaber“, manchmal als „lächerlich-seniler Lüstling“ auf. Ein Greis schwadroniere zuweilen über die „sexuelle Komponente“, aber Fontanes Damen, hier Pauline Pittelkowa aus dem Roman Stine, wahre auch inmitten einer „beschämenden Inszenierung“ ihre „Haltung“ und „Würde“. Fontane zeige ebenso das „aristokratisch-rassistische Standesdenken“ wie das „plebejische“ Gegenstück.

Von heute aus gesehen werde, so Spinnen, besonders am Beispiel von Irrungen, Wirrungen sichtbar, „wie moderne Menschen so ticken, wenn es ums Lebensglück geht“. Er denkt an Lenes Liebesbeziehung zu Botho, die zu Ende geht, und deren Ende „schön“ und „traurig“ zugleich sei. Die Erinnerung könne Lene niemand rauben. Spinnen meint: „Hat das nicht schon etwas Hippiehaftes? Heute muss man nur den Fernseher anschalten und in irgendeine Soap zappen, dann wird man dergleichen umgehend hören.“ Nicht nur Germanisten werden Bemerkungen wie diese, sprachlich wie inhaltlich, für unangemessen halten. Das vorgestellte „Entsagungskonzept“ beurteilt der Autor als sehr zeitgemäß.Fontane vermöge das „tendenziell Banale“ indessen auf eine „ungemein beeindruckende, wenn nicht gar überwältigende Art und Weise darzustellen“. Abschließend sei noch Melanie aus L’Adultera erwähnt, „verwöhnt, aber gebildet“, auch „bildschön“ und „tizianrotes Haar“ tragend. Ihr Mann ist reich, töricht und deutlich älter, räsoniert unausgesetzt, gibt sich gewitzt und liefert fortwährend ironische Kommentare, er ist also eine unausstehliche Person. Melanie begegne ihm anständig, aber souverän. Sie breche die Ehe, sei aber weitaus mehr als eine „Stichwortgeberin im Schmierentheater ihrer Ehe“. Der Ehebruch sei „Vertragsbruch“. Melanie spreche von „Anstand und Moral“, um ihrem „Schwätzer von Ehemann contra zu geben“: „Sie will einfach weg. Und indem sie sich als Ehebrecherin outet, kann er sie nicht halten. Aktion gelungen. Basta.“ Das ist plastisch, aber gewiss nicht tiefgründig oder elegant formuliert. Melanie geht eine neue Beziehung ein, die ihr am Ende unerwartet zu ökonomischer Selbstständigkeit verhilft. Die Geschichte dazu erzählt Fontane souverän, klug, ernst und heiter. Jeder mag L’Adultera gern für sich lesen – denn ja, es lohnt sich unbedingt, sich diese alten, gar nicht langweiligen Bücher anzuschauen, nicht aber weil sie unerwartet modern oder zeitgemäß wären.

Salopp, launig und mitunter sehr alltags-, ja umgangssprachlich soll mit diesem Buch die Leselust geweckt werden – eine ehrenwerte Absicht. Aber regt eine betont jugendlich gestaltete Sprechweise junge Menschen tatsächlich zur Lektüre an? Es wäre sehr zu wünschen, dass eine neue Begeisterung entfacht werden könnte für die Werke Theodor Fontanes. Der große preußische Romancier selbst schrieb stilistisch versiert und vergnüglich, frei von allen didaktischen Absichten. Burkhard Spinnen bewundert Fontane, ja, aber auf eine unkonventionelle, ganz eigene, eigensinnige und auch eigenartige Weise – was dieser schmale Band unverkennbar zeigt.

Titelbild

Burkhard Spinnen: Und alles ohne Liebe. Theodor Fontanes zeitlose Heldinnen.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2019.
111 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783895610486

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