Erich Kästner

Ein Kapitel aus „Mein Leben“ (1999)

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vorbemerkung der Redaktion: Vor zwanzig Jahren, genauer: im August 1999, erschien Marcel Reich-Ranickis Autobographie „Mein Leben“. Sie erzählt auch über erste Leseerlebnisse des Autors und enthält in diesem Zusammenhang ein Kapitel über Erich Kästner, das wir hier mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Verlags-Anstalt gesondert und mit kleineren Kürzungen veröffentlichen. Ein Anlass dazu ist der 120. Geburtstag Erich Kästners am 23. Februar 2018. Hinweise auf weitere Publikationen zu Kästner von Marcel Reich-Ranicki und seiner Frau Teofila stehen unter dem folgenden Text. T.A.

Das Lesen von Geschichten, von Romanen und sehr bald auch von Theaterstücken machte mir immer mehr Spaß. Und ehe ich mich’s versah, da war’s um mich geschehn. Ich war glücklich – wohl zum ersten Mal in mei­nem Leben. Ein extremes, ein unheimliches Gefühl hatte mich befallen und überwältigt. Ich war verliebt. Halb zog sie mich, halb sank ich hin – ich war verliebt in sie, die Literatur.

Herr Kästner, seelisch verwendbar

Zunächst las ich, den meist nur beiläufigen Hinweisen und gelegentlichen Ratschlägen unserer Lehrer folgend, die gleichen Bücher wie meine Mitschüler. Auch ich hatte, schon sehr früh, eine Zeit, in der mich populäre historische Romane interessierten – der Bestseller „Ben Hur“ des Amerikaners Wallace also und „Quo Vadis“ des polnischen Nobelpreisträgers Henryk Sienkiewicz, „Der Löwe von Flandern“ des Flamen Conscience und „Die letzten Tage von Pompeji“ des Engländers Bulwer-Lytton.

Ferner las ich, respektvoll und doch ein wenig gelang­weilt, Coopers „Lederstrumpf“-Romane. Eine Weile lang regten auch mich die Bücher jenes deutschen Autors auf, der sich nicht genierte, die billigsten Mittel zu verwenden, der vor keinen Primitivismen, vor keinen Sentimentalitäten zurückschreckte und der dennoch ein beachtlicher, ein er­staunlicher Erzähler war – ich meine Karl May.

[…]

Aber ich habe alle diese Bücher mit gemischten Gefüh­len gelesen, jedenfalls ohne Enthusiasmus. […] Ein ganz anderes Buch hatte mich damals begeistert: Erich Kästners „Emil und die Detektive“, ein „Roman für Kinder“.

Zu seinen Lebzeiten schrieb ich mehr als einmal und wohl etwas trotzig, Kästner, dieser Sänger der kleinen Frei­heit, dieser Dichter der kleinen Leute, gehöre zu den Klas­sikern der deutschen Literatur unseres Jahrhunderts. Habe ich zu dick aufgetragen? Ich weiß schon: Seine Romane, auch der wichtigste, „Fabian“, sind längst verblaßt, wenn nicht vergessen. Für die Bühne ist ihm nichts geglückt. Seine Aufsätze waren meist nützlich, aber es sind nur Gelegenheitsarbeiten ohne sonderliche Bedeutung. Was bleibt? Mit Sicherheit gar nicht so wenige seiner Gedichte und vielleicht noch das eine oder andere von seinen Büchern für Kinder.

Emil Tischbein und sein Freund Gustav mit der Hupe – sie standen mir ungleich näher als der rote Gentleman Winnetou und der edle Schläger Old Shatterhand, als die um Rom kämpfenden Feldherrn Cethegus, Narses und Belisar. Diese Geschichte von den Berliner Kindern, denen es gelingt, den Dieb zu fassen, den Bösewicht, der den Emil in der Eisenbahn bestohlen hat, die ähnlich wie Old Shatterhand dafür sorgen, daß die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen kann und daß die Ordnung wiederhergestellt wird – sie ist nicht ganz frei vom Rührseligen, wohl aber, anders als bei Karl May, frei vom Exotischen, vom Pathetischen und vom Bombastischen. Was Kästner erzählte, spielte sich nicht in fernen Zeiten und Ländern ab, es passierte hier und heute: auf Berliner Straßen und Höfen, also dort, wo wir uns auskannten. Die Personen, die hier auftraten, sprachen wie wir alle, die wir in der Großstadt aufwuchsen. Das ist es: Die Glaubwürdigkeit dieses Buches und somit auch sein Erfolg beruhten vor allem auf der Authentizität der Alltagssprache.

Die etwas später geschriebenen Kinderromane von Käst­ner, vor allem „Pünktchen und Anton“, haben mir auch ge­fallen, ohne mich ebenso stark zu beeindrucken. Sein Name freilich war bald nicht mehr zu hören. Als seine Bücher am 10. Mai 1933 auf dem Platz vor der Berliner Staatsoper verbrannt wurden, stand er inmitten der vielen Menschen, die Zeuge des in der Neuzeit einzigartigen Schauspiels sein wollten. Gleichwohl blieb er in Deutschland. Wenn aber in manchen Nachschlagebüchern der deutschen Exilliteratur Kästner als Emigrant angeführt wird, so hat dies, obwohl falsch, dennoch seine Ordnung: In der Zeit von 1933 bis 1945 hatte er, der Mann zwischen den Stühlen, sich klar entschieden. Nicht er war emigriert, doch waren es seine Bücher – sie konnten damals nur in der Schweiz erscheinen. Erich Kästner war Deutschlands Exilschriftsteller honoris causa.

So kamen mir seine Schriften in jenen Jahren nur selten in die Hände. Es gab sie nun weder in den Stadtbibliotheken noch in den Buchhandlungen; freilich konnte man sie in manchen Antiquariaten für ein paar Pfennige erstehen: Die jetzt unwillkommenen Titel wurden unter der Hand verramscht. Doch las ich Kästner nicht mehr, ich war ihm, glaubte ich, mittlerweile entwachsen, auch seinen Gedichten. Vergessen konnte ich ihn allerdings nicht.

Daß die Zeit meiner Zuneigung im Grunde nichts anha­ben konnte, zeigte sich überraschend einige Jahre später – im Warschauer Getto. Ich hatte einen Bekannten besucht, von dem ich irgend etwas brauchte. Bei ihm fand ich, wo­mit ich nicht gerechnet hatte: deutsche Bücher. Plötzlich fiel mir ein kleiner, schmucker Band auf: „Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke“, 1936 in Zürich veröf­fentlicht. Sofort las ich das Gedicht, das die Sammlung eröffnet: das „Eisenbahngleichnis“. Es beginnt: „Wir sitzen alle im gleichen Zug / und reisen quer durch die Zeit.“ Und es endet: „Wir sitzen alle im gleichen Zug. / Und viele im falschen Coupe.“

Ich wollte dieses Buch unbedingt haben, ich hätte es mir sofort gekauft, wenn dies nur möglich gewesen wäre. Nein, erwerben konnte ich den Band nicht, er ließ sich auch in keinem Antiquariat im Getto finden. Immerhin bekam ich ihn geliehen – für eine begrenzte Zeit, versteht sich. Ein Mädchen, das Teofila hieß, aber Tosia genannt wurde und von dem hier noch mehr als einmal die Rede sein wird – Tosia also hat Kästners „Lyrische Hausapotheke“ für mich von Hand kopiert. Sie hat die Gedichte auch illustriert und schließlich die Blätter sorgfältig geheftet. Das so entstan­dene Buch erhielt ich zu meinem einundzwanzigsten Ge­burtstag am 2. Juni 1941 im Warschauer Getto. War mir je ein schöneres Geschenk zugedacht worden? Ich bin nicht sicher. Doch nie habe ich eins bekommen, auf das mehr Mühe verwendet wurde – und mehr Liebe.

Da saßen wir also zusammen, Tosia und ich, und lang­sam und nachdenklich lasen wir in dunkler Nacht und bei kümmerlicher Beleuchtung diese deutschen Verse, die sie für mich abgeschrieben hatte. Von einem nahe gelegenen Gettoeingang hörten wir ab und zu deutsche Schüsse und jüdische Schreie. Wir zuckten zusammen, wir zitterten. Aber in jener Nacht lasen wir weiter – die „Lyrische Haus­apotheke“. Uns, die wir die Liebe noch nicht lange kann­ten, entzückte die etwas wehmütige, die dennoch wun­derbare „Sachliche Romanze“. Wir lasen also von den bei­den, denen die Liebe nach acht Jahren plötzlich abhanden gekommen war „wie andern Leuten ein Stock oder Hut“ und die das einfach nicht fassen konnten. Wir dachten an unsere gemeinsame Zukunft, die es, davon waren wir über­zeugt, gar nicht geben konnte – es sei denn, vielleicht, in einem Konzentrationslager. Wir lasen die irritierenden Fra­gen „Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn?“ und „Wo bleibt das Positive, Herr Kästner?“ Wir lächelten über die Charakteristik des Strebers („Die Ahnen kletterten im Urwald. / Er ist der Affe im Kulturwald“). Wir erschraken vor der Mahnung: „Nie dürft ihr so tief sinken, / von dem Kakao, durch den man euch zieht, / auch noch zu trinken.“ Mitten in unsere jämmerliche Existenz trafen uns die zwei Verse mit dem Titel „Moral“, diese acht Worte: „Es gibt nichts Gutes, / außer: man tut es!“

Ich weiß schon: Zur großen deutschen Poesie kann man Kästners Gebrauchslyrik mit Sicherheit nicht zählen. Gleichwohl haben mich seine intelligenten, seine kessen und doch etwas sentimentalen Gedichte damals gerührt und ergriffen, sie haben mich begeistert. Was sich täglich abspielte, konnte nicht ohne Einfluß auf meine Lektüre bleiben. Inmitten des Elends im Warschauer Getto, in einer Zeit also, da ich täglich mit dem Tod rechnen mußte, fiel es mir schwer, Romane, ja, sogar Erzählungen zu lesen.

Ich habe während der ganzen deutschen Okkupation Polens, also in einem Zeitraum von fünf Jahren, keinen einzigen Roman gelesen, nicht einmal jenen, dem im Getto ein unerwarteter Erfolg zuteil wurde, der von Hand zu Hand ging. Ich meine Franz Werfels „Die vierzig Tage des Musa Dagh“, die Geschichte der Verfolgung und Ermordung der Armenier während des Ersten Weltkriegs. In ihrem Schicksal glaubten viele jüdische Leser Parallelen zur eigenen Situation erkennen zu können.

Wohl aber las ich Gedichte, am häufigsten Goethe und Heine. Dem Alltag zum Trotz interessierten sie mich im­mer noch und immer wieder. Allerdings wurden mir damals manche Dichter, die ohnehin nicht zu meinen Lieb­lingsautoren gehörten, fremd, wenn nicht gar unerträglich. Das gilt für die Poeten mit dem priesterlichen Gestus, für die Propheten, die Raunenden, für die „Hüter des heiligen Feuers“ – für Hölderlin also, teilweise für Rilke und ganz gewiß für Stefan George. Ihre Orakelsprüche gingen mir jetzt auf die Nerven, ihre bisweilen herrliche Wortmusik büßte ihren Zauber ein – freilich nicht für immer, wie sich viel später erweisen sollte.

Es ist im Grunde unmöglich, Kästner in einem Atemzug mit Rilke und George zu nennen oder gar mit Hölderlin. Aber in manchen Situationen des Lebens hat man keine Geduld für Bruckners Symphonien, wohl aber eine Schwäche für Gershwin. So standen mir damals eine Weile lang die Skepsis und der Humor von Erich Kästners ganz und gar unfeierlicher Großstadtlyrik ungleich näher als die erhabene Poesie der Seher.

Aber da gab es noch einen ganz anderen Umstand, über den ich mir im Warschauer Getto nicht viele Gedanken machte. Die „Lyrische Hausapotheke“ erinnerte mich an den Geist und das Klima jener Kultur der Weimarer Repu­blik, die mich (das oft mißbrauchte Wort ist hier am Platze) fasziniert und beglückt hatte – in den letzten Jahren vor Hitler, obwohl ich noch ein Kind war, und in den ersten Jahren nach ihrem Zusammenbruch, da ich mich von den Büchern und Schallplatten, den Zeitschriften und Pro­grammheften aus den zwanziger Jahren kaum losreißen konnte. Natürlich war es ein Zufall, daß ich 1941 gerade die Gedichte von Kästner gefunden habe. Es hätten auch Verse von Brecht sein können oder Feuilletons von Tucholsky, auch Reportagen von Joseph Roth oder Egon Erwin Kisch, Rezensionen von Alfred Kerr oder Alfred Polgar, die Songs aus der „Dreigroschenoper“ und aus „Mahagonny“ oder die Lieder aus dem „Blauen Engel“, die Stimmen von Marlene Dietrich, von Lotte Lenya oder Ernst Busch, von Fritzi Massary und Richard Tauber, die Zeichnungen von George Grosz oder die Fotomontagen von John Heartfield. Das alles vergegenwärtigte die Welt, die mich in den frühen Jahren prägte und die ich noch unlängst als die meinige empfand, die ich geliebt hatte und aus der ich verjagt und vertrieben worden war.

Daß ich Kästner je kennenlernen würde, auf diese Idee bin ich nicht gekommen. Abgesehen davon, daß meine Chancen, den Krieg zu überleben, mikroskopisch klein wa­ren, würde ich jemandem, der mir ein Treffen mit Kästner vorausgesagt hätte, wohl geantwortet haben, das sei so ab­surd wie der Gedanke an ein Treffen mit Wilhelm Busch oder mit Christian Morgenstern. Doch im Herbst 1957 be­suchte ich, immer noch in Polen lebend, die Bundesrepu­blik. Die Reise begann in Hamburg und führte mich über Köln und Frankfurt nach München. Ich bemühte mich gleich um Kästners Telefonnummer. Das war gar nicht ein­fach, aber schließlich bekam ich sie. Als Kästner hörte, daß ich ein Kritiker aus Warschau sei – solche Gäste gab es damals in München selten –, leistete er keinen Widerstand: Er schlug ein Treffen im Cafe Leopold in Schwabing vor.

Er war wieder populär, wie einst, unmittelbar vor 1933. Er wurde geschätzt, wenn auch immer noch, glaube ich, unterschätzt. Gerade war ihm der Büchner-Preis verliehen worden. Eine siebenbändige Ausgabe seiner „Gesammel­ten Schriften“ wurde vorbereitet. Freilich machte er den Eindruck weniger eines würdigen als vielmehr eines höchst liebenswürdigen Menschen, schlank und charmant, flott und elegant. Wenn man bedachte, daß er 58 Jahre alt war, wirkte er erstaunlich jung.

Nachdem Kästner meine Fragen höflich beantwortet hatte, wollte er wissen, wie es mir im Krieg ergangen war.

So knapp wie möglich berichtete ich ihm vom Warschauer Getto und kam gleich auf seine Gedichte zu sprechen. Ich zeigte ihm das handgeschriebene, das zufällig erhalten ge­bliebene und nun schon ziemlich ramponierte Exemplar seiner „Lyrischen Hausapotheke“. Er war überrascht und wurde schweigsam. Allerlei habe er sich vorstellen können, nicht aber, daß im Warschauer Getto seine Verse gelesen wurden, ja, daß man sie sogar von Hand kopierte – wie man im Mittelalter literarische Texte abgeschrieben hatte. Er war gerührt. Ich glaube, der smarte Poet hatte Tränen in den Augen.

Erst im Herbst 1963 sah ich ihn wieder: Wir waren Mitglieder der Jury eines „Deutschen Erzählerpreises“, den der „Stern“ gestiftet hatte. Die Jurysitzungen fanden im Schloßhotel Kronberg bei Frankfurt statt. Als er ankam, stand ich zufällig an der Rezeption. Er begrüßte mich freundlich und rasch, wandte sich aber sofort ab, um einen doppelten Whisky zu ordern. Er wartete ungeduldig. Erst nachdem er ihn getrunken hatte, war er bereit, die Hotel­anmeldung auszufüllen. Auch während der Jurysitzungen, die er meist aufmerksam verfolgte, ohne viel zu reden, trank er in regelmäßigen Abständen Alkohol.

Zum dritten und letzten Mal traf ich Kästner Ende Januar 1969. Der Norddeutsche Rundfunk hatte mich ge­beten, ihn aus Anlaß seines siebzigsten Geburtstags für das Fernsehen zu interviewen. Die Aufzeichnung des Ge­sprächs wurde in einem Lokal gemacht, zu dessen Stamm­gästen er in seiner Berliner Zeit gehört hatte und auf das er bei verschiedenen Gelegenheiten gern zu sprechen kam – im Restaurant Mampe am Kurfürstendamm, zwischen der Joachimsthaler Straße und der Gedächtniskirche. Damals sah dieses Lokal noch aus wie vor dem Krieg. Kästner kam pünktlich und, so schien es mir jedenfalls, flott wie immer. Er sah recht gut aus, man konnte ihn für einen Sechzig­jährigen halten. Doch in Wirklichkeit war sein Zustand traurig und bedauernswert. Schon im Vorgespräch fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren, seine Antworten waren nichtssagend und etwas wirr. Ich bekam fast nur klischee­hafte Wendungen zu hören, ich war erschüttert. Wahr­scheinlich fürchtete ich das uns bevorstehende Fernsehge­spräch noch mehr als er.

Ich versuchte, ihn auf alle Fragen, die ich ihm stellen wollte, vorzubereiten. Doch die meisten dieser ganz einfa­chen Fragen kamen ihm zu schwierig vor, zu ihnen, sagte er wiederholt, würde ihm doch nichts einfallen. Er tat mir leid in seiner kaum getarnten Ratlosigkeit. Ich wollte ihm helfen, ihm soweit wie möglich die Situation erleichtern. Auch die Leute vom Norddeutschen Rundfunk waren sehr geduldig – vielleicht deshalb, weil sie alle, wie sich bald herausstellte, „Emil und die Detektive“ gelesen hatten. Die Phrasen, die Kästner schließlich ins Mikrophon stotterte, ließen gleich erkennen, daß sein Gedächtnis kaum noch funktionierte. Wir konnten nichts anderes tun, als alles aufzuzeichnen. Insgesamt waren es etwa vierzehn Minuten. Davon ließen sich letztlich nicht mehr als zwei oder drei Minuten senden – und auch diese waren kümmerlich. Nachdem er die ganze Zeit über Alkohol getrunken hatte, war er nun vollkommen erschöpft. Was er lallte, konnten wir nicht verstehen. Dann bemühte er sich aufzustehen. Man mußte ihn stützen. Die Kellner sahen schweigend zu. Wir brachten ihn ins Taxi. Als ich ihm zum Abschied die Hand drückte, versuchte er zu lächeln.

Einige Tage später erhielt ich von Kästner einen Brief: In dem Umschlag fand sich der Faksimile-Druck eines neuen, eines harmlosen Gelegenheitsgedichts, betitelt „An die Gratulanten“. Es endet mit den Versen: „Bin gerührt und trotzdem heiter. / Danke sehr. Und mache weiter.“ Of­fenbar wollte er noch ein persönliches Wort hinzufügen, und so schrieb er unter dieses Gedicht: „Lieber Fachmann, ,Mampe‘ ist ein nettes Lokal, und wir sind reizende Leute. Ihr Kästner.“

Am 29. Juli 1974 – inzwischen war ich in der Redaktion der „Frankfurter Allgemeinen“ für Literatur zuständig – brachte mir der nicht mehr junge Bürobote eine Meldung der Deutschen Presseagentur, die er resigniert auf den Tisch legte – mit dem üblichen Kommentar: „Da haben Sie wieder eine Leiche.“ Ich las rasch, der deutsche Dichter Erich Kästner sei in einem Münchner Krankenhaus gestorben. Wie immer in solchen Fällen, sah ich erst einmal auf die Uhr: Ja, der Nachruf werde sich noch vor Redaktionsschluß schaffen lassen. Aber es mußte sehr schnell geschehen. Doch bevor ich damit anfing, rief ich jene an, die 1941 im Warschauer Getto seine Gedichte abgeschrieben hatte. Sie reagierte mit einem einzigen Wort: „Nein!“ Dann war es ganz still. Wenn ich mich recht entsinne, waren meine Augen wieder einmal feucht – und die ihrigen wohl auch.

1998 erreichte uns, Tosia und mich, eine nicht alltägliche Bitte: Der Autor und Verleger Michael Krüger wünschte, daß wir zusammen einen Band mit der Lyrik Kästners herausgäben. Tosia sollte die Gedichte auswählen, und ich sollte das Nachwort schreiben. Wir erfüllten diesen Wunsch gern. Dem Buch haben wir, eine Formulierung Kästners aufgreifend, den Titel „Seelisch verwendbar“ gegeben.

Titelbild

Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999.
568 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 3421051496
ISBN-13: 9783421051493

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Titelbild

Erich Kästner: Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke. 50 Gedichte im Warschauer Getto aufgeschrieben und illustriert von Teofila Reich-Ranicki.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2000.
82, VI, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3421053731

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Titelbild

Erich Kästner: Seelisch verwendbar. 66 Gedichte, 16 Epigramme und 1 Prosaische Zwischenbemerkung.
Ausgewählt von Teofila Reich-Renicki.
Carl Hanser Verlag, München Wien 1998.
150 Seiten, 12,30 EUR.
ISBN-10: 3446195092

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Titelbild

Erich Kästner: Ein Dichter gibt Auskunft. 121 Gedichte.
Ausgewählt und mit einem Essay von Marcel Reich-Ranicki.
Atrium Verlag, Zürich 2017.
208 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783038820055

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