So viel mehr als Rätselspannung!

Das „Handbuch Kriminalliteratur“ manifestiert die literaturwissenschaftliche Aufwertung eines lange Zeit geringgeschätzten Genres

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Keine Zäsur, nein, das wohl doch nicht. Zu viele Indizien in Form von Monografien und Sammelbänden gab es bereits in den letzten Jahren. Aber ein symbolischer Akt, ein Meilenstein in der Forschungsgeschichte, eine Nobilitierung geradezu. Man möchte Siegfried Kracauer zitieren, der schon Mitte der 1920er Jahre ausführte: „Der Detektiv-Roman, den meisten Gebildeten nur als außerliterarisches Machwerk bekannt, das in Leihbibliotheken sein Dasein auskömmlich fristet, ist allmählich zu einer Stellung aufgerückt, der Rang und Bedeutung nicht wohl abgesprochen werden können.“ Versteht man „Detektivroman“ stellvertretend für „Kriminalliteratur“ im Allgemeinen, dann ist spätestens jetzt, mit der Publikation des Handbuchs Kriminalliteratur im ehrenwerten Metzler Verlag, der Punkt markiert, an dem ein Genre, das lange Zeit wie kaum ein anderes als Sammelsurium „außerliterarischer Machwerke“ galt, zum legitimen Gegenstand literaturwissenschaftlicher Auseinandersetzungen erhoben wird.

Zugegeben: Die Flut geistes- und kulturwissenschaftlicher Handbücher in den letzten Jahren relativiert die Emphase ein wenig. So betrachtet, könnte man auch – in Anlehnung an Wolf Haas, einen großen modernen Vertreter der Zunft der Krimiautoren – nüchtern konstatieren: „Jetzt ist schon wieder was passiert.“ Ein weiteres Handbuch, diesmal eben zur Kriminalliteratur. Gemessen daran, dass „der Krimi“ sich in all seinen medialen Spielarten einer nicht abnutzbaren Popularität erfreut, die Forschung längst sehr produktiv und die Unterscheidung von Hoch- und Populärkultur ohnehin nicht mehr allzu stabil ist und zuweilen wie ein überkommenes Relikt wirkt, ist ein Handbuch zur Kriminalliteratur aber überfällig. Ein fundiertes Nachschlagewerk, das ebenso den erreichten Forschungsstand abbildet wie künftige Beschäftigungen mit dem Themenfeld inspiriert, ist angesichts der Vielzahl unterschiedlicher systematischer Aspekte, Subgenres, theoretischer Ansätze und nicht zuletzt der längst auch nennenswerten Historie geradezu eine Notwendigkeit.

Die Herausgeber*innen Susanne Düwell, Andrea Bartl, Christof Hamann und Oliver Ruf legitimieren ihr Handbuch im Vorwort, indem sie unter anderem eine „unverminderte Aktualität“ konstatieren, eine „anhaltende Ausdifferenzierung der Kriminalliteratur“, „neue mediale Ausprägungen des Genres“, eine „große und hoch differenzierte Aufmerksamkeit in der Forschung“ und eine „Offenheit des Genres für immer neue Themen, Motive und Schreibweisen“, wodurch wiederum immer wieder neue wissenschaftliche Beschäftigungen mit dem Genre angeregt werden. Um all die unterschiedlichen Aspekte, Ausprägungen und Zugangsweisen versammeln zu können, bedarf es eines großen Rahmens und der Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter. Doch selbst ein konzertiertes wissenschaftliches Vorhaben wie ein Handbuch stößt bei einem solch weit verzweigten Feld an seine Grenzen. Es kann schlechterdings nicht „die Kriminalliteratur“ in ihrer Gänze abgebildet werden. Das hat zur Folge, dass das Handbuch primär systematisch angelegt ist und die Geschichte der Kriminalliteratur weitgehend ausgespart bleiben muss, mit Ausnahme der deutschsprachigen Kriminalliteratur seit dem 17. Jahrhundert, die in insgesamt acht Artikeln kenntnisreich vorgestellt wird.

Obwohl diese Artikel zu den größten Stärken des Bandes zählen und Beschränkungen pragmatisch unausweichlich sind, ist diese Fokussierung nicht ohne Verluste zu haben. Zwar ist die Geschichte der deutschsprachigen Kriminalliteratur einem größeren Publikum noch immer weitgehend unbekannt, wodurch diese Artikel zu fulminanten Neuentdeckungen einladen, aber genau das birgt die Kehrseite dieser konzeptionellen Entscheidung in sich. Die Kriminalliteratur ist keine deutsche Spezialität, sondern ein internationales Genre, das die Grenzen von Sprache und Nationalphilologie gütlichst ignoriert. Die wesentlichen Trends, Neuerungen und Standards setzen spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts Autoren aus anderen Sprach- und Kulturräumen. So bedeutend etwa Texte von Friedrich Schiller, Heinrich von Kleist, E. T. A. Hoffmann, Friedrich Glauser oder Friedrich Dürrenmatt auch sind: Gerade für die populären Spielarten und ihre diversen medialen Filiationen waren es die Pionierleistungen von fremdsprachigen Autoren wie Edgar Allan Poe, Wilkie Collins, Emile Gaboriau, Arthur Conan Doyle, Dashiell Hammett, Georges Simenon, Maj Sjöwall und Per Wahlöö, die dem Genre entscheidende Impulse gaben. Insofern ist die Konzentration auf deutschsprachige Kriminalliteratur, so notwendig sie auch sein mag, um das Format eines Handbuches nicht zu sprengen, doch eine erheblich Verengung – wenn schon keine Artikel zur Kriminalliteratur etwa in England, Frankreich oder Schweden enthalten sind, wäre eine Art globaler Abriss zu einer (und sei es eurozentristischen) Weltkriminalliteratur eine willkommene Ergänzung gewesen.

Das kann allerdings durch die systematischen Aspekte teilweise aufgefangen werden. Die Spuren, die die genannten Klassiker hinterlassen haben, ziehen sich durch zahlreiche der 53 Artikel, die sich auf sieben größere Sektionen verteilen. Dadurch wird ein deutlich weiteres Feld abgesteckt als in bisherigen Einführungsbücher. Dennoch bleiben manche Wünsche offen (was unvermeidlich, in einigen Fällen aber doch bedauerlich ist). Zunächst werden Literaturwissenschaftliche Konzepte der Kriminalliteratur vorgestellt. Im profunden Artikel Gattungsreflexion/Schemaliteratur erläutert Metin Genç die zentralen Begriffe und Spielarten der Kriminalliteratur (unter anderem „Detektivliteratur“, „Hard boiled Literatur“, „Polizeiroman“, „Thriller“ und „Anti-Kriminalroman“), bevor die anderen Beiträge beispielsweise Narratologie, Intertextualität, Raumkonzepte oder Genderforschung auf das vorliegende Erkenntnisinteresse hin zuspitzen. Darauf folgen im zweiten Teil unter dem etwas irreführenden Titel Theorien des Kriminalromans Forschungsperspektiven aus so unterschiedlichen Disziplinen und Wissensbereichen wie Soziologie, Psychoanalyse oder Kriminologie, die gerade für Fachfremde informativ sind (teils aber ihren Gegenstand sehr eng fassen, wenn in Philosophie und Semiotik nur ein oder zwei Referenzautoren vorgestellt werden).

Der dritte Abschnitt bietet Poetologische Reflexionen, stellt also theoretische Aussagen wichtiger Autoren von Edgar Allen Poe über Raymond Chandler und Friedrich Dürrenmatt bis hin zu Bernhard Jaumann vor. Diese Artikel sind allesamt instruktiv und bieten am Beispiel des Genre-Großmeisters Arthur Conan Doyle echte Entdeckungen, da der Sherlock-Holmes-Erfinder wohl nur Wenigen als theoretischer Denker bekannt ist. Es mutet aber etwas seltsam an, dass mit Dorothy L. Sayers zwar eine der wichtigsten Vertreterinnen des „Golden Age“ vorgestellt wird, die berühmten Regelkataloge etwa von Ronald A. Knox oder S. S. van Dine aber ausgespart bleiben, obwohl sie für diese Strömung und ihr Selbstverständnis als Schemaliteratur prägend waren. Zudem konzentrieren sich die poetologischen Reflexionen mit Ausnahme des Beitrags zu Patricia Highsmith weitgehend auf die großen Namen der Detektiverzählung (die auch bei der so breit angelegten Unternehmung dieses Handbuchs in einigen Artikeln die einzig relevante Form der Kriminalliteratur zu sein scheint), während ein Schwergewicht wie Schiller, der sich an mehreren Stellen zu Fragen der Kriminalliteratur geäußert hat, nicht bedacht wird. Auch ein Artikel zu Friedrich Glauser, dessen Offener Brief über die „Zehn Gebote für den Kriminalroman“ zu den originellsten poetologischen Überlegungen der Kriminalliteratur des 20. Jahrhunderts zählt, wird vermisst.

Der vierte Teil bietet unter dem Titel Zentrale Aspekte Beiträge zu inhaltlichen Genre-Elementen wie Aufklärung, Geständnis, Rätsel, Verbrechen oder Verhör, aber auch zu Meta-Aspekten wie Serie. Erneut sind die gebotenen Informationen über große Strecken hilfreich, aber auch Lücken zu konstatieren: Dass „Spannung“ augenscheinlich nicht als zentraler Aspekt der Kriminalliteratur erachtet wird, ist erstaunlich. Eine beiläufige Abhandlung des Komplexes der Spannung im Zusammenhang mit dem Schlagwort Rätsel ist kein adäquater Ersatz für einen Artikel, der nachzeichnet, für welche Spielarten der Kriminalliteratur welche Formen von Spannung kennzeichnend sind und der Frage nachgeht, wie sich der Stellenwert von Spannung historisch entwickelt hat.

Die fünfte Sektion trägt den Titel Zentrale Figuren und bietet beispielsweise Artikel zu Detektiv, Opfer, Täter oder Verdächtige, aber auch zu Gerichtsmediziner und Spurensicherung. Das unterstreicht abermals den systematischen Anspruch und stellt unter Beweis, wie differenziert das Genre aufgeschlüsselt wird. In der älteren Forschung waren es nahezu ausschließlich der Detektiv und womöglich sein Begleiter (die „Watson-Figur“), die der Aufmerksamkeit für wert erachtet wurden. Im Anschluss an die Figuren folgt der bereits erwähnte Teil zur Literaturgeschichte der deutschsprachigen Kriminalliteratur, der vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart reicht. Es ist sehr zu begrüßen, dass es je einzelne Artikel zur kanonischen und zur unkanonischen Kriminalliteratur des 19. Jahrhunderts gibt, da ja tatsächlich eine überschaubare Anzahl prominenter Texte immer wieder interpretiert wird, die große Masse aber, die unterhalb des Höhenkamms angesiedelt ist, eine ungleich weniger intensive Rezeption erfährt. Die Ausführungen zu den unkanonischen Texten erweitern den Blickwinkel auf die willkommenste Weise. Dadurch wiederum werden auch manche Forschungs-Mythen einer Revision unterzogen. Zudem wird eine große Lust erweckt, die angeführten, oft leider nicht ganz einfach greifbaren Texte (hier sind noch diverse editorische Schätze zu heben) selbst zu studieren. Dass die Wertmaßstäbe und die Zuordnungen auch innerhalb eines Handbuches flottierend sein können, zeigt der Umstand, dass etwa Adolph Müllners Erzählung Der Kaliber in beiden Beiträgen zum 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle einnimmt, der gleiche Text mithin zu den kanonischen wie den unkanonischen Vertretern gerechnet wird.

Auch die vier Beiträge zur Kriminalliteratur des 20. Jahrhunderts, die die Phasen bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und seit der Mitte des 20. Jahrhunderts abdecken (wobei die Kriminalliteratur der DDR mit drei Seiten recht knapp abgehandelt wird), bieten eine Fülle neuer Anreize und Zusammenhänge. Nicht nur im Sinne eines historischen Abrisses gelangt das Handbuch am Ende des sechsten Teils in der Gegenwart an. Die abschließende siebte Sektion widmet sich den Medien des Krimis. Obwohl also der Titel des Handbuchs nicht vom Kriminalgenre, sondern dezidiert von Kriminalliteratur spricht, sind die letzten Artikel Film, TV, Hörspiel, Comic/Graphic Novel und Digitalen Medien gewidmet, wodurch der intermedialen Verflechtung des Feldes Rechnung getragen wird. Der Anhang bietet ein Verzeichnis von Krimi-Preisen und -Institutionen sowie ein Personen- und Werkregister, was der Benutzbarkeit eines solchen Handbuches zuträglich ist. Noch hilfreicher wäre es freilich gewesen, auch ein Sachregister zu bieten. Da zahlreiche wichtige Begriffe und Aspekte keine eigenen Artikel erhielten und daher nicht im Inhaltsverzeichnis auftauchen, müssen die Benutzer*innen darauf verzichten, zielgerichtet nach Informationen zum – die Beispiele ließen sich beliebig vermehren – Subgenre „Polizeiroman“, zur Szenerie des „Locked room“, zur Figur der „Femme fatale“ oder dem von Detektiven häufig angewendeten logischen Verfahren der „Abduktion“ zu suchen, obwohl durchaus fundierte Ausführungen zu diesen Phänomenen in Artikeln mit anderen Überschriften enthalten sind.

Allen notwenigen Beschränkungen zum Trotz wird nicht ganz ersichtlich, nach welchen Kriterien die Gegenstandskonstitution vonstattenging. Zwar wird ein weites und differenziertes Verständnis der Kriminalliteratur zugrunde gelegt, letztlich bleibt aber fast durchgehend impliziert, dass die im Vorwort genannten „Geschichten von Mord und Totschlag“ zum einen ein neuzeitliches, zum anderen ein ausschließlich narratives Phänomen sind. Gab es in der Antike oder im Mittelalter keine Kriminalliteratur? „Geschichten von Mord und Totschlag“ lassen sich auch dort zur Genüge finden, wieso diese aber offenbar nicht zur Kriminalliteratur zählen, bleibt jedoch unklar. Und wieso geraten etwa Tragödien oder Verbrechensballaden nicht in den Blick? Dass Andreas Blödorn seinen Beitrag zur Narratologie mit dem Satz „Das Kriminalgenre ist ein dominant narratives Genre“ eröffnet, bestätigt unfreiwillig den Befund aus Ingo Breuers Artikel Kriminalliteratur des 17./18. Jahrhunderts, dass Tragödien zwar „stets um Morde kreisen“ und „literatur- und theatergeschichtlich fortwährend relevant“ waren, „aber kaum im Kontext von Kriminal- oder auch nur Verbrechensliteratur thematisiert“ wurden. Das Handbuch ist selbst Beleg dieser Beobachtung. Die strategische Bedeutung einer solchen Publikation liegt auch darin, Forschungs-Topoi zu überwinden, Kontrapunkte zu scheinbar unhinterfragbaren Gewissheiten zu setzten und die Perspektive zu erweitern. Das gelingt in vielen Aspekten, bei der meist unausgesprochenen Limitierung des Genres auf neuzeitliche Erzähltexte indes wurde diese Chance nicht genutzt.

Die Unklarheit der Gegenstandskonstitution betrifft auch die zugrundeliegende Begrifflichkeit. So laufen insbesondere die von Breuer im angeführten Zitat unterschiedenen Bereiche der Kriminal- und der Verbrechensliteratur, die in der Theoriedebatte seit den 1960er Jahren oft mehr zur begrifflichen Verwirrung als zur nötigen Verständigung beigetragen haben, weitgehend ungeklärt nebeneinander her. Mal werden sie als Gegensätze benutzt, mal erscheint Verbrechensliteratur als Unterkategorie der Kriminalliteratur, teils wird die Unterscheidung affirmiert, teils kritisiert. Das ist bei der Vielzahl der Beiträger und der Pluralität der angerissenen Aspekte nachvollziehbar, doch könnte man es bedauerlich finden, dass hier nicht die Möglichkeit ergriffen wurde, an prominenter und zukünftig einflussreicher Stelle eine begriffliche Klarstellung oder auch nur eine Arbeitsdefinition vorzunehmen. Andererseits impliziert die ausbleibende begriffliche Festlegung auch ein Bekenntnis zur terminologischen Offenheit und, wie es Alexander Košenina in seinem Beitrag Verbrecher nahelegt, die Einsicht, dass „ein innerakademischer Disput über begriffliche Genrebezeichnungen“ nicht allzu interessant und produktiv ist. Wie auch immer die begriffliche Leerstelle zu bewerten ist: Man wird weiterhin damit leben müssen, dass sich die Forschung nicht auf eine einheitliche Terminologie einigen kann. Das muss nicht zum Schaden der Produktivität ausfallen, sofern die theoretischen Prämissen transparent gehalten werden.

All die angebrachten Einwände im Detail sind angesichts der verhandelten Materialfülle und der Heterogenität des Feldes und der Forschungspositionen kaum überraschend. Das versammelte Wissen und die beträchtliche Menge von Anregungen überwiegen. Dass ein großer Teil der geäußerten Kritikpunkte sich auf Aspekte bezieht, die nicht enthalten sind, bringt an den Tag, wie reichhaltig der Gegenstand ist, wodurch die Notwendigkeit dieses Handbuchs nur untermauert wird. Die einzelnen Beiträge verdeutlichen nicht allein die Vielfältigkeit des Genres, sondern auch dessen kritisches Potenzial. Kriminalliteratur hat weit mehr zu bieten als Rätselspaß und Eskapismus, sie kann beispielsweise auch Geschlechterverhältnisse und kulturelle Ordnungen hinterfragen oder Probleme der Intertextualitäts- und Gattungstheorie aufwerfen. Das vermeintliche triviale Genre wird – in Form dieses gewichtigen akademischen Beitrages auch für die Gebildeten unter seinen Verächtern – begreifbar als Raum für brisante und relevante Fragen, die sich nicht in derjenigen nach dem Mörder erschöpfen.

Titelbild

Susanne Düwell / Andrea Bartl / Christof Hamann / Oliver Ruf (Hg.): Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2018.
422 Seiten, 89,95 EUR.
ISBN-13: 9783476026118

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