Mobiliora, nobiliora?

Der Sammelband „Adel und Mehrsprachigkeit in der Frühen Neuzeit“ beleuchtet Theorie und Praxis des Fremdsprachenerwerbs auch abseits der Grand Tour

Von Lea ReiffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lea Reiff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In insgesamt 13 Aufsätzen fasst der Sammelband die Ergebnisse einer internationalen Fachtagung zu Fremdsprachen in der Adelserziehung der Frühen Neuzeit vom 28.–30. September 2016 in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel zusammen und schreibt sich somit in ein interdisziplinäres Forschungsfeld zwischen Fremdsprachendidaktik, Geschichtswissenschaft und Sprachwissenschaft ein, das sich mit kulturellen Transferprozessen – vor allem, aber nicht ausschließlich – im Rahmen der Grand Tour befasst.

Erklärtes Ziel der Tagung wie auch der daraus entstandenen Publikation ist den Herausgebern Helmut Glück, Mark Häberlein und Andreas Flurschütz da Cruz zufolge eine Untersuchung des adligen Fremdsprachenerwerbs „im größeren europäischen Zusammenhang“, die „die Zusammenhänge zwischen Fremdsprachenlernen, höfischer Kultur und adligem Selbstverständnis“ in den Blick nimmt und erörtert, „welche Repräsentationsabsichten, Distinktionsbestrebungen und sozialen Ambitionen mit dem Erwerb von Sprachen verbunden waren“. Der Beitragsrahmen ist dementsprechend geografisch und zeitlich weit gefasst, wie sich bereits am chronologisch geordneten Inhaltsverzeichnis des Bandes ablesen lässt, und reicht vom ausgehenden 15. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, vom Habsburgerreich über Schweden und Kroatien bis Russland.

An der Schwelle zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit untersucht Benjamin Müsegades die Französischkenntnisse deutscher Reichsfürsten hinsichtlich der Praktiken des Spracherwerbs, des tatsächlichen Sprachgebrauchs und dessen Bedeutung für die Karriere junger Adliger. Er kommt zu dem Schluss, es hätte sich um „eine große Ausnahme“ gehandelt, wenn „ein Fürst um 1500 Französisch tatsächlich – wie man heute sagen würde – in Wort und Schrift beherrschte“. Dieser Umstand sei damit zu begründen, dass Französisch im Unterschied zu Latein „nicht als Sprache der Bildung angepriesen werden“ konnte und in aller Regel nur dann erlernt wurde, wenn praktische Gründe wie zum Beispiel eine Eheschließung oder die diplomatisch bedingte „Entsendung eines jungen Fürsten an einen fremdsprachigen Hof“ dafür sprachen. Interessant sind auch Müsegades‘ Ausführungen zur tatsächlichen Sprachbeherrschung der Reichsfürsten, bei der zwischen mündlichen und schriftlichen Kompetenzen differenziert werden müsse und die zugleich den am schwersten zu fassenden Bestandteil der Untersuchung bilden, da Quellen wie „Briefen und Urkunden oder auch historiographischen Werken und Leichenpredigten“ kaum verlässliche Aussagen dazu zu entnehmen sind.

Im Unterschied zu diesem eher systematischen, eine weitgehend geschlossene Gruppierung in den Blick nehmenden Ansatz nähert sich Nils Jörn dem Thema Fremdsprachenerwerb über einen Einzelfall, indem er den Werdegang des Juristen Gustav Grundel Helmfeldt auf Basis einer Leichenpredigt aus der Feder von Balthasar Bendel nachverfolgt. Bereits mit 13 Jahren soll dieses „schwedische Wunderkind des Barock“ fünf Sprachen fließend beherrscht haben, weshalb die schwedische Krone ihn nicht nur für diplomatische Missionen einsetzte, sondern 1673 auch an das 20 Jahre zuvor gegründete Wismarer Tribunal berief, das „die besten Juristen des schwedischen Konglomeratstaates versammelte, um einen Modellgerichtshof für die oberste Rechtsprechung im Alten Reich und in Europa zu etablieren“. Neben seinen juristischen Kenntnissen scheinen es Helmfeldts Sprachkenntnisse gewesen zu sein, die ihn als diplomatischen Assessor für das Tribunal so herausragend qualifizierten, dass er den von der Pommerschen Ritterschaft vorgeschlagenen Kandidaten für das Amt, „beides Söhne bekanntester pommerscher Familien“, vorgezogen wurde. Ein früher Tod im Alter von nur 22 Jahren setzte Helmfeldts Karriere allerdings noch im Jahr seiner Berufung ein Ende.

Unter dem Titel Latein als ‚national‘, Deutsch als kosmopolitisch? widmen sich Ivana Horbec und Maja Matasović der Bedeutung des Fremdsprachenerwerbs des kroatischen Adels „im Zuge seiner Beteiligung am politischen und gesellschaftlichen Leben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“ und nehmen damit eine Region an den Außengrenzen der Habsburgermonarchie in den Blick, die in der deutschsprachigen Forschung nur selten Beachtung findet. Die Lage Kroatiens „an der Grenze des christlichen Europas“ bedingte, dass Latein nicht nur bis 1847 – und damit wesentlich länger als in anderen europäischen Ländern – Verwaltungssprache blieb, sondern auch im Briefverkehr sowie in wissenschaftlichen und literarischen Werken vorherrschte. Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde zudem verstärkt Deutsch als Fremdsprache gelernt, da diese Sprache infolge einer engeren Anbindung Kroatiens ans Zentrum der Habsburgermonarchie Beamtenkarrieren eröffnete.

Während in den genannten Beiträgen hauptsächlich der Fremdsprachenerwerb männlicher Adliger im Vordergrund steht, beschäftigen sich die Aufsätze von Barbara Kaltz und Helga Meise explizit mit den Sprachkenntnissen adliger Frauen. Kaltz nimmt verschiedene Arten des Fremdsprachenerwerbs von der Parlier- oder Dienstbotenmethode über den Einsatz von explizit an adlige Mädchen und Frauen gerichteten Lehrwerken bis hin zu „informellen Formen des Spracherwerbs“ wie „Sprachkontakt, Auslandsaufenthalte und ‚Kindertausch‘“ in den Blick und resümiert, dass „mehrsprachige Frauen bereits im Adel des 17. Jahrhunderts keine so seltene Erscheinung waren wie verschiedentlich angenommen“. Sie regt folgerichtig zu weiterer Auseinandersetzung mit dem Thema an, insbesondere hinsichtlich von „‚Gouvernantenschulen‘ als besonderer Typus von Mädchenschulen“ im 18. Jahrhundert. Meise wählt demgegenüber einen personengebundenen Ansatz, indem sie den Fragen nachgeht, welche Sammlungsprofile die Bibliotheksbestände der Fürstinnen Karoline von Pfalz-Zweibrücken-Birkenfeld, Karoline von Hessen-Darmstadt und Christiane zu Waldeck-Pyrmont aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert zeigen und welche Schlussfolgerungen sich daraus zum Stellenwert von Fremdsprachen im Leben dieser Frauen ziehen lassen.

Der immer wieder angesprochenen Vielschichtigkeit des Themas Adel und Mehrsprachigkeit in der Frühen Neuzeit wird der Sammelband durch die beeindruckende Brandbreite der Untersuchungsgegenstände und Zugriffsweisen der einzelnen Beiträge ebenso gerecht, wie er das Versprechen einlöst, „bisher wenig genutzte Quellengattungen wie Sprachratgeber und -lehrwerke“ in den Blick zu nehmen. Personen-, Sach- und Ortsregister erleichtern zwar die spezifische Recherche, gelegentlich fehlt den Beiträgen jedoch eine abschließende Zusammenfassung, die in Abwesenheit von Abstracts ein schnelles Durchstöbern erleichtern würde. Wer den Band von Buchdeckel zu Buchdeckel durchliest, erhält jedoch einen guten Eindruck von der Vielschichtigkeit der Fragestellungen, die sich aus der Feststellung ergeben, der europäische Adel sei seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert „neben dem städtischen Patriziat, den Fernhandelskaufleuten und dem Offiziersstand […] im Laufe der Frühen Neuzeit zu einem wesentlichen sozialen Träger von Kenntnissen moderner Fremdsprachen“ geworden. Vor diesem Hintergrund erscheint eine systematische Darstellung von Theorie und Praxis adligen Fremdsprachenerwerbs in Europa während der Frühen Neuzeit in ihrer longue durée ebenso als wünschenswert wie als Herkulesaufgabe.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Helmut Glück / Mark Häberlein / Andreas Flurschütz da Cruz (Hg.): Adel und Mehrsprachigkeit in der Frühen Neuzeit. Ziele, Formen und Praktiken des Erwerbs und Gebrauchs von Fremdsprachen.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2019.
260 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783447111379

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