Vorwort zum Schwerpunkt „Literaturpreise“: Das Literaturjahr und seine Events

Preise im literarischen Leben

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen, Dennis BorghardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dennis Borghardt und Sarah MaaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sarah Maaß

Gastherausgeber des Schwerpunkts: Forschungsprojekt „Literaturpreise im deutschsprachigen Raum seit 1990: Funktionen und Wirkungen“ (Universität Duisburg-Essen)

 

Der Schwerpunkt dieser Ausgabe gilt Literaturpreisen. Unter den Pandemie-Bedingungen hatte die Leipziger Buchmesse im März als eine der ersten Großveranstaltungen zu leiden und mit ihr die dort vergebenen Preise. Die kurzfristig organisierte Verlegung der Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse ins Radio verlief glanzlos und nicht ohne Pannen. Sie konnte dem Preisgeschehen nicht die mit der Messe verbundene Aufmerksamkeit zuleiten, Interviews mit den AutorInnen im Deutschlandfunk und im Internet ersetzten nicht deren Präsenz und Sichtbarkeit auf einem der großen Treffen der Buchbranche. Ebenso muss die Frankfurter Buchmesse im kommenden Oktober mit den Hygieneregeln der Covid 19-Pandemie zurechtkommen – und auch ihre Preise werden darunter zu leiden haben: Die Verleihung des Deutschen Buchpreises für den besten deutschsprachigen Roman im Kaisersaal des Frankfurter Römers wird erstmals ohne Publikum stattfinden, nur AutorInnen, Veranstalter und Jury werden zugegen sein, das Ereignis wird aber live übertragen. Schon im Zusammenhang der Klagenfurter Tage der deutschsprachigen Literatur, vulgo: des Ingeborg-Bachmann-Preises, ist über Wert und Wehe von Literaturpreisverleihungen zu Zeiten von Corona gestritten worden: Der Wettbewerb war schon abgesagt und wurde nach Protest der Jury und engagierter Kommentatoren wie Jens Bisky dann doch noch in einem Online-Format durchgeführt. Das war kein ganz radikaler Schritt – traditionell wird der Wettbewerb vom ORF live übertragen; diesmal freilich hatten die AutorInnen die Texte vorab eingelesen und aufgenommen, die Lesungen wurden ins Studio (und für die Zuschauer) übertragen und von der Jury live – aber von den jeweiligen Aufenthaltsorten der Mitglieder aus – diskutiert. Der traditionell beim Bachmann-Preis im kleinen Klagenfurt gepflegte Austausch zwischen AutorInnen, LektorInnen, AgentInnen, KritikerInnen und LeserInnen war in diesem Jahr also nicht möglich – und die lokalen Sponsoren wohl auch nur ausnahmsweise zu einem Engagement bereit, das sich nicht unmittelbar für Stadt und Tourismus auszahlt. Dem Austausch und den Resonanzen, die das „Wettlesen am Wörthersee“ oder vielmehr seine alljährliche kritische Begleitung durch Feuilleton und Literaturkritik in den satirisch-ironischen Aktionen der Zentralen Intelligenz Agentur fanden, geht der Beitrag von Amelie Meister nach. 

Nicht nur Ökonomie und Gastronomie leiden, wenn man zur Feier eines Literaturpreises und des/der Ausgezeichneten nicht mehr zusammenkommt; auch das Gefühl von Teilhabe am literarischen Leben und von ‚Präsenz‘ all derer, die als AutorInnen, VerlagsvertreterInnen oder LeserInnen der Literatur ein Gesicht geben. Dass die aktuelle Lesekultur nach Jahrhunderten der einsamen und intensiven Lektüre stärker Formen geselligen, tendenziell extensiven Lesens oder (mit Blick auf die steigenden Verkaufszahlen von e-books in der Pandemie-Zeit) des Sich-Vorlesen-Lassens fördert, kann man als Teil einer aufmerksamkeitsökonomisch bedingten Eventisierung beklagen – oder als Lust am Austausch und an der Partizipation, etwa unter lesedidaktischen Gesichtspunkten, begrüßen. Gerade der Aufschwung von Hörbuch-Formaten lenkt die Aufmerksamkeit auf die medialen Möglichkeiten dieses auditiven Genres und damit auf das Hörspiel, auf dessen zeithistorische Bedeutung der seit 1950 vergebene, hochangesehene Hörspielpreis der Kriegsblinden verweist. Inzwischen haben sich 42 weitere, dieses bunte Genre sondierende Hörspiel- bzw. Hörbuch-Preise wie das Hörspiel des Jahres hinzugesellt, über das Torsten Mergen in seinem Beitrag informiert. 

Mit diesem Schwerpunkt zu deutschsprachigen und internationalen Literaturpreisen möchten wir unsere LeserInnen schon jetzt auf das Messegeschehen und auf die dortigen Preisvergaben einstimmen – im Vorfeld und mit ausreichend Lesezeit. Es gehört ja zu den Stärken des Deutschen Buchpreises, sich nicht allein auf das Verleihungsevent zu verlassen, sondern durch eine das ganze Kalenderjahr umspannende Dramaturgie den Akt selbst vorzubereiten. Longlist und Shortlist gehören zu dieser mehrstufigen Dramaturgie und geben Interessierten Gelegenheit, das Jury-Urteil sowie Namen und Titel des/der Ausgezeichneten nicht wie bei anderen Preisen als Überraschung zur Kenntnis zu nehmen, sondern bereits Wochen zuvor die Nominierten zu kennen, die fraglichen Titel zu lesen oder sich zumindest anhand der in einem PR-Band aufbereiteten Leseproben ein erstes Urteil zu bilden, um eigene Favoriten zu entwickeln und bei den Bekanntgaben von Listen und schließlich Preisträger-Titeln engagiert mitzufiebern. „Buchpreis goes Bundesliga“, könnte man kultursemiotisch (und unter Umständen auch -kritisch) vermerken; aber vielleicht heiligt der Zweck – die Lesekultur zu stärken – ja die Mittel. Und inzwischen machen es auch andere Preise dem Deutschen Buchpreis nach: In diesen Tagen wird der Literaturpreis Ruhr erstmals auf Grundlage einer vorgeschalteten Shortlist vergeben, deren Buntheit das Moment des Kompetitiven nicht wirklich verschleiert: Die Liste „repräsentiert die ganze Vielfalt und Bandbreite der Ruhrliteratur: mit einem Künstlerroman, einem Debüt, einer Essaysammlung, einer Coming of Age-Geschichte und einem Familienroman.“ Letzterer, Eva Sichelschmidts Roman Bis wieder einer weint, findet sich übrigens auch auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, wo mit Bov Bjergs Serpentinen ein Roman nominiert ist, für dessen auszugsweise Lesung der Autor 2018 mit dem im Zuge des Bachmann-Preises vergebenen Deutschlandfunk-Preis ausgezeichnet wurde. Den Bachmann-Preis selbst erhielt 2019 übrigens Birgit Birnbacher (für den Kurztext Der Schrank), deren aktuellen Roman Ich an meiner Site die JurorInnen ebenfalls auf die Longlist des Deutschen Buchpreises gesetzt haben. Auch unter den anderen dort Nominierten befinden sich zahlreiche TrägerInnen anderer Literaturpreise – deren gibt es in Deutschland bekanntlich viele und die starke Medienpräsenz des im Oktober in Frankfurt vergebenen sollte im Übrigen nicht davon ablenken, wie reich und reichhaltig die deutsche Literaturpreislandschaft ist: Zwischen 1990 und 2019 lassen sich (je nach Zählung) um die 1200 Preise ausmachen; mittlerweile finden jedes Jahr rund 600 Verleihungen statt, die sich differenzieren lassen nach der Auszeichnungskategorie (Schöne Literatur, Fachliteratur, Übersetzung, Literaturkritik, Verlagswesen etc.), nach dem Professionalisierungsgrad der Ausgezeichneten (2018 wurden z.B. 45 Laien-, 126 Nachwuchs- und 409 Profi-Preise vergeben), nach dem Auswahlprozedere (fast die Hälfte der Preise lässt sich mittlerweile als wettbewerbsförmig bezeichnen) oder auch nach dem ausgezeichneten Genre. So existier(t)en zwischen 1990 und 2019 174 Preise für unterschiedliche epische Genres, 149 für Lyrik, 69 für Dramatik, 48 für Essayistik, 31 für Comics, 115 für Kinder- und Jugendliteratur und 149 für sonstige Genres wie Reiseliteratur, Blogs oder Bildbände. Literaturpreise richten sich somit auch an spezifische LeserInnen-Zielgruppen, was vor allem das breite Segment der Kinder- und Jugendbuchpreise verdeutlicht, für die Tobias Kurwinkel exemplarisch das Feld der Bilderbuchpreise beleuchtet; sie können als kulturpolitische Instrumente zudem Einblick in und Auskunft über andere Sprach- und Kulturlandschaften geben, wie Elena Hamidys Beitrag anhand osteuropäischer Literaturpreise vorführt.

Preise befördern und reflektieren aber auch aktuelle politische und mentalitätsgeschichtliche Entwicklungen in Deutschland, wie die Diskussion um den Adelbert-von-Chamisso-Preis illustriert, dessen Entwicklung der Beitrag von Beatrice Occhini nachzeichnet. Dass der 2017 eingestellte Preis 2018 als Chamisso-Preis/Hellerau von anderen Stiftern, aber mit kaum veränderter Programmatik neu aufgelegt wurde, zeigt, dass die von Occhini anhand der Geschichte des Chamisso-Preises thematisierte Dynamik von kultureller Inklusion und Exklusion im deutschsprachigen literarischen Feld noch immer virulent ist. Trotz „Definitionskrise“ hat sich ein transnational ausgerichteter Literaturpreis wie der Chamisso-Preis offensichtlich nicht, und anders als der Tagesspiegel anlässlich der letztmaligen Vergabe 2017 schreibt, „entbehrlich gemacht“. 

Es gibt also einiges zu preisen an/in der (nicht nur) deutschsprachigen Literatur, und der Herbst bringt mit der Messe nicht nur gleichsam die Bücher-Ernte des Jahres, sondern auch die Auslese zahlreicher Preise. Vielleicht auch in Ihrer Stadt – halten Sie die Augen offen!

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen