„Gegen die Objektiven“ oder „Politik mit Herzklopfen“

Susanne Kerckhoffs „Berliner Briefe“ ringen um „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ – und um sie selbst

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wir haben einen Krieg verloren, und an unserem eigenen Leibe sollte uns die Erfahrung aufgegangen sein: wir wollen niemals einen Krieg gewinnen!

Dieses dem Umfang nach schmale, doch der verdichteten, vielschichtigen Substanz nach vielhundertseitige Buch Berliner Briefe einer großen „Prohumanitären“ ist ein Muss. Ein Muss sind die 1948 erstmals erschienenen Berliner Briefe zumindest für all diejenigen, die sich für die Geschichte ‚des‘ Widerstands, für frühe deutsche Nachkriegsgeschichte in Ost und West und für damit zusammenhängende Themenkomplexe wie ‚Not und Luxus‘, ‚Schuldfrage‘, ‚Antisemitismus und Philosemitismus‘, ‚Entnazifizierung und Neuanfang‘, ‚Christliche Kirchen und Drittes Reich‘, ‚Kunst und Politik‘, ‚Literarisch-kulturelles Erbe‘, ‚Parteienlandschaft‘, ‚Sowjetunion und USA‘, ‚Junge Generation‘, ‚Planwirtschaft und Kapitalismus‘, ‚Kalter Krieg‘, „Ressentiment-Deutsche“ oder erneute „Vernazifizierung breiter Bevölkerungsschichten“ interessieren; für all diejenigen dann, die 30 Jahre nach der „Wiedervereinigung“ genannten staatlichen Zusammenführung von BRD und DDR „in der Nacht“ sorgenvoll „an Deutschland“ (H. Heine) denken; für all diejenigen schließlich, die sich derzeit aus Anlass von Covid-19 und des damit auch einhergehenden Politik- und Medienspektakels viele grundsätzliche, so oder so auf „Humanität“ zielende Fragen stellen, darunter:

Was Leben, Würde und Kultur ausmacht, ob Anstand, Engagement und Erfolgsorientierung zusammengehen können, ob es gelingen kann, Empfinden, Denken und Handeln in Einklang zu bringen, wie das gehen kann: zu sichten, zu erkennen, zu wirken und zu (ver-)urteilen, was es heißt, kritisch und allem anderen voran selbstkritisch zu sein, worin Freiheit und Solidarität bestehen, ob politisches Handeln, Moral und Wahrheitsstreben sich notweniger Weise ausschließen, inwiefern, wer, was, wodurch und so weiter und so fort – – –

Ein Muss sind die Berliner Briefe jedenfalls auch für all diejenigen, die nicht das Mäeutisch-Katalytische an Gefahr und Mangel übersehen, die in der einen oder anderen Hinsicht Inventur (G. Eich) machen wollen und die die schonungslose (Selbst-)Befragung für eine ergiebige und zielführende Art des Antwortens, ja vielleicht sogar für die aufrichtigste halten.

Aber warum nicht noch weiter gehen? Gehört dieses dicke schmale Buch Berliner Briefe, auszugsweise zumindest, nicht auch in schulischen Unterricht und in universitäre Lehre in diesem oder in jenem Fach? Deutsch, Geschichte, Philosophie, Religion – oder wie diese Fächer auch heißen mögen im Dschungel föderativer bundesrepublikanischer Bildungswirklichkeit – würden sich hier insbesondere anbieten. Ich meine jedenfalls: Unbedingt!

Wirklich gesagt hat mir der Name Susanne Kerckhoff bis vor kurzem im Übrigen eingestandenermaßen nicht allzu viel. Halt eine weitere jener ungezählten Männer und – insbesondere – Frauen, so meine ‚Einordnung‘, über die die Literatur- und Kulturgeschichtsschreibung aus welchen Gründen auch immer hinweggegangen ist, eine, die irgendwie in die ersten Nachkriegsjahre und deren Turbulenzen gehört. Also erst einmal Wikipedia befragt, als ich zufälliger Weise wieder über den Namen und in diesem Zusammenhang über den Titel Berliner Briefe stolperte, und dort tatsächlich auch fündig geworden in einem ihr gewidmeten, bezeichnender Weise aber erst Anfang Januar 2020 angelegten Artikel:

Geboren am 5. Februar 1918 in Berlin als Susanne Harich in ein bürgerlich-liberales, kunstsinniges und international ausgerichtetes Elternhaus, gestorben ebenda durch Freitod am 15. März 1950, Halbschwester des Schriftstellers und Philosophen Walter Harich, als Schülerin schon Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend, Heirat 1937 mit dem Buchhändler Hermann Kerckhoff, drei Kinder zwischen 1937 und 1945, Studium der Philosophie in Berlin von 1941 bis 1943, Eintritt in die SPD 1945, Trennung von Mann und Kindern 1946 und Umzug vom Emsland nach Berlin (Ost), Teilnahme am Ersten Deutschen Schriftstellerkongress in Berlin (West u. Ost) im Oktober 1947, Scheidung im selben Jahr, Mitarbeit am Ulenspiegel, seit 1948 Mitglied der SED und Vorstandsmitglied der Schutzverbandes Deutscher Autoren, seit 1949 Mitarbeiterin an der Berliner Zeitung, zuletzt als Leiterin der Kulturredaktion.

Von der SED kurz vor dem (vermutlich auch dadurch motivierten) Freitod in einem Rundschreiben mit dem Vorwurf einer „schwankende[n] ideologische[n] Haltung“ stigmatisiert, von westlicher Seite nach ihrem Tod als „literarische Hoffnung des Kommunismus“ (Der Spiegel) ebenfalls gebrandmarkt, wurde Susanne Kerckhoff rasch in völlige Vergessenheit gestoßen. Erst die Bemühungen von AutorInnen und/oder LiteraturwissenschaftlerInnen wie Ines Geipel und Joachim Walther seit den 1990er Jahren haben an ihrem Vergessensein und Verschwiegenwerden gerüttelt, wobei wohl insbesondere auf die (selbst vom antiquarischen Markt derzeit allerdings nicht vorgehaltene) von Monika Melchert herausgegebene Werke-Auswahl Vor Liebe brennen. Lyrik und Prosa zu verweisen wäre.

Das leider sehr knapp ausgefallene Nachwort des Herausgebers der Berliner Briefe Peter Graf ergänzt dieses biographische Datenblatt noch um einige wichtige Aspekte und Aussagen, zu denen man sich allerdings Quellenangaben und Belegstellen gewünscht hätte. Beispielsweise führt Graf aus, dass Susanne Kerckhoff ab Oktober 1949 in der DDR vor allem aufgrund ihrer „moralische[n] Rigorosität“ „systematisch kaltgestellt wurde“. Diese „Rigorosität“ habe sowohl antifaschistische Legendenbildungen als auch die „Aufrichtigkeit“ in Frage gestellt, „die geistig-kulturelle Erneuerung in Deutschland wahrhaftig zu wollen und umzusetzen“. So sei Kerckhoff schließlich „Opfer eines von Männern dominierten politischen Ränkespiels“ geworden, an dem neben Stephan Hermlin, Paul Wandel […], Walter Ulbricht und ihrem Halbbruder Wolfgang Harich auch […] Otto Grotewohl […] beteiligt gewesen“ sei.

Berliner Briefe besteht aus einer eine knappe Seite langen „Vorbemerkung“ Susanne Kerckhoffs und dreizehn fiktiven Briefen. Diese Briefe schreibt eine autorinnennahe junge Frau mit dem damaligen Allerweltsnamen Helene an einen ebenso lapidar Hans heißenden jungen Mann. Mit ihm, der als Jude in den 1930er Jahren ins Ausland geflüchtet ist, bis 1938 mit ihr geschrieben und dann die Korrespondenz vermutlich aufgrund eines Missverständnisses abgebrochen hat, war Helene zumindest in weltanschaulich-politischer Hinsicht lange Jahre eng verbandelt, dabei eingebunden in einen Kreis Gleichgesinnter. Nun, 1947, hat Hans sich wieder bei ihr gemeldet, aus Paris.

Aus den Briefen von Hans erfahren wir freilich mittelbar nur das, was der „unheilbar politisiert[en]“ Helene Anlass dazu gibt, ihm ihre für sie wichtigen Erlebnisse, Begegnungen, Beobachtungen, Erfahrungen, Einschätzungen, Überlegungen, Zweifel und auch Bekenntnisse vorzutragen – Bekenntnisse, die in ihrer selbstbezichtigenden Strenge, nebenbei bemerkt, nicht hinter denjenigen der weltliterarischen Tradition zurückstehen.

Doch der Reihe nach und zunächst zur „Vorbemerkung“, die den Status des Nachfolgenden charakterisiert – „Irgendeine Berlinerin, deren Schicksal weniger bedeutend ist als das Schicksal Tausender, schreibt an irgendeinen Emigranten“ – und bei der es angesichts der programmatischen Wucht schwerfällt, sich nur auf Stichworte zu beschränken: „[E]hrlich“ versucht werden soll, als Involvierte, das heißt ‚Sehende‘ wie ‚Blinde‘ aus dem dynamischen „Zeitgeschehen“ heraus „Rechenschaft abzulegen“ über das „politische Woher und Wohin“. Dies in dem Bewusstsein, dabei kein „endgültiges, ausgereiftes“ und widerspruchsfreies „Credo“, keine in Stein gemeißelten Erkenntnisse liefern zu können, wohl aber mit der „Wachheit des Gewissens“ und dem „Wille[n]“ aufwarten zu können, um des auf Zukunft gerichteten politischen Handelns willen „die Wahrheit unermüdlich zu suchen und ihr zu dienen.“

Genau das wird dann auch in den sich anschließenden Briefen versucht, wobei immer wieder das eigene Vorgehen – „ich bin nicht objektiv“ – reflektiert und in Bilder gefasst wird: „Ich kann nur noch an die Dinge heran, wenn ich um sie herum gehe. Ich schleiche wie eine Katze um den heißen Brei, mit einem verbrannten Geschmack auf der Zunge. Aber niemand hat mich gebrannt oder auf den Mund geschlagen, außer meine eigene Einsicht.“

Diese mehrheitlich arg schmerzende Einsicht betrifft beispielsweise die eigene Vergangenheit als „Abenteurer des Materialismus“, die „schwer[e] persönlich[e]“ Verwundung, die die pauschale Verurteilung aller Deutschen als Nazis durch die Siegermächte angesichts des eigenen „Glückstaumel[s]“ über die Kriegsniederlage darstellte, die eigene vergebliche „Aposteltätigkeit“ hinsichtlich der Deutschen „Schuldgefühl und Sühnebereitschaft“, die eigene „Schuld“ und „Passivität“ und das eigene schöngeredete „charakterliche[] Rückgrat“ während der Nazi-Herrschaft –  „Wer im Frühling 1945 nicht aus dem Gefängnis oder dem Konzentrationslager kam, ist mitverantwortlich“ –, aber auch das sich „[U]mhehren“, „[U]mhelden“, „[V]ergolden“ und „[V]ermärtyrern“ mancher Antifaschisten in Ost und West einerseits und die ‚Unschuld‘ vieler MitläuferInnen andererseits:

Mit der Be-schuldung meiner eigenen Person begann ich mich mit Intensität in die Lage der ‚Volksgenossen‘ zu versetzen und sie zu ent-schuldigen. […] Wer das arme Leben kennt und das Zerriebenwerden im Getriebe, der entschuldigt. Wer begreift, daß ein Leben nach Prinzipien kaum jemals stattfindet, der entschuldigt.

Allerdings ist dieses Entschuldigen ganz und gar nicht so zu verstehen, dass Helene bzw. Susanne Kerkhoff damit jedem und allem in Vergangenheit und Gegenwart einen Freibrief ausstellen würde. So heißt es über die Mehrheit ihrer Klassenkameradinnen, denen sie nach dem Krieg begegnet, sie durchquerten „[g]eistig, ethisch […] nach wie vor das seichte Wattenmeer bürgerlicher Anschauungen“. Vom Bürgertum selbst wird für die Zeit der Nazi-Herrschaft behauptet, es habe ihm als „guter Ton“ gegolten, „die ‚Härten‘ des Naziregimes zu kritisieren, zu bedauern, und im übrigen gut zu verdienen und mitzumachen“. Einem (in seinem Antifaschismus inkonsequenten) Autor wie E. Kästner wird vorgeworfen, sich den „Ressentimentdeutschen“ anzudienen. Und dann wird mit „Richtig liegen“ ein „moralische[er] Unterweltsbegriff“ jeglicher „Gesinnungslumperei“ vehement angegriffen, sei der doch „eines der Gräber der Demokratie“.

Von dieser für eine wirkliche Demokratie eintretenden und dabei eine bloße „Formal-Demokratie“ verabscheuenden Kritik bleibt auch die SED und deren Innen- wie Außenpolitik (Verhältnis zur Sowjetunion) nicht ausgenommen, im Gegenteil: Der neunte Brief stellt über Seiten hinweg eine einzige Auflistung der Fehler und Versäumnisse der SED dar. Diese Auflistung gipfelt in den Sätzen: „Vor allem vermisse ich bei der SED die aufrichtige Diskussion, die kein zu heißes Eisen kennt! Wenn einer fallen muß, um tausend zu bewahren – ich bin bereit, es einzusehen! Aber über kein einziges Opfer mache man mir einen arroganten Scherz und wehre Leid und Tränen mit drittklassigem ideologischen Gehöhn ab!“

Es wurde eingangs behauptet, Berliner Briefe sei auch für diejenigen ein Muss, die im Zeichen unserer derzeitigen Probleme, Konflikte und Bedrohungen – die Covid-19-Pandemie ist nur ein Teil davon – ‚Inventur‘ machen und „Humanität“ bedenken und vielleicht sogar erwirken wollen. Diese Behauptung über bereits Gesagtes hinaus näher zu belegen, erforderte reichlich weiteren Raum. Aber vielleicht können ja zwei abschließende Zitate mehr Appetit auf eine eigene Begegnung mit den Berliner Briefen machen. Das erste dieser Zitate richtet sich an die AutorInnen der sogenannten Inneren Emigration, aber gewiss auch an all diejenigen, die (auch heutzutage noch) ein dauerhaftes Glück in der windstillen Ecke für möglich halten:

Wenn die Menschen den Kontakt verlieren mit dem politischen Leben, dann müssen sie das nachher furchtbar bezahlen. Und gerade der Schriftsteller darf diesen Kontakt mit dem politischen Leben nicht verlieren.

Das andere Zitat, eine Frage, hat auch diesen Adressatenkreis im Blick, allerdings auch diejenigen, denen sich zuweilen das Zweifeln in Verzweiflung verwandeln will:

Gibt es auch – gibt es überhaupt noch Ideen, die nicht Farce geworden wären, die nicht Waffen in den Händen Krimineller geworden sind – unheimliche, wurmhaft gekrümmte, spitze Waffen?

Titelbild

Susanne Kerckhoff: Berliner Briefe.
Verlag Das kulturelle Gedächtnis, Berlin 2020.
111 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783946990369

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