Schreiben als „Kampf gegen das namenlose Ungeheuer“

„Transitkind“ von Rafael Gumucio: Ein autobiografischer Roman über die Militärdiktatur in Chile und ihr langsames Vergehen

Von Jana FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Angesichts der monatelangen und immer noch andauernden Proteste und blutigen Straßenkämpfe in Chile ist die Übersetzung des Romans Memorias prematuras (1998), die nun im Schweizer Verlag edition 8 unter dem Titel Transitkind veröffentlicht wurde, erschreckend aktuell. Die derzeitigen Unruhen artikulieren, so der Autor Rafael Gumucio selbst, eine tiefschürfende Vertrauenskrise in die Regierung des Präsidenten Sebastián Piñera. Denn die Protestierenden kritisieren die restriktive Verfassung, die noch aus der Zeit der Pinochet-Diktatur stammt, den Einsatz des Militärs und der Polizei gegen die Bevölkerung, und fordern eine neue Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie den sofortigen Rücktritt des Präsidenten und vorgezogene Neuwahlen.

Die Wurzeln dieser Krise sind in der Militärdiktatur von Pinochet zu finden, so Gumucio in einem Gespräch mit seinem Übersetzer Benjamin Loy. Und so wurzeln auch die Ängste, Beweggründe und Hoffnungen tausender Chilen*innen, die derzeit für mehr Gerechtigkeit in ihrem Land auf die Straße gehen, in jenen Ängsten und Motiven der Generation junger Lateinamerikaner*innen, die voller Hoffnungen in die lateinamerikanischen Revolutionen waren, und für die die Militärdiktatur ein mordendes Übel war, das es endlich zu überwinden galt.  

In Transitkind erzählt Gumucio von den Ängsten, der Resignation, der Auflehnung und den Traumata der Generation der Nachgeborenen der gescheiterten lateinamerikanischen Revolutionen. Es sind Heranwachsende, die die Illusionen und Hoffnungen ihrer Eltern zerschellen sahen, und dennoch wissen, wie bedeutend und notwendig diese Revolutionen waren und immer noch sind. Denn immer noch spüren sie die Auswirkungen der Militärdiktaturen, fühlen den Puls, der in den kalten Herzen der Diktaturen schlägt. 

Um von dieser Generation junger Heranwachsender zu erzählen, hat Gumucio die Form des autobiografischen Romans gewählt. Mit dieser Form gelingt es ihm authentisch und gekonnt, in der Kindheit und Jugend des ‚Ichs im Text‘, im politischen Exil in Frankreich und später im Chile unter Pinochet, das Schicksal dieser damals noch sehr jungen Generation zu spiegeln. In knapp dreißig Fragmenten werden verschiedene Sequenzen im Leben des jungen Rafael beleuchtet: chaotische Sitzungen sozialistischer Polit-Komitees, denen er in Deutschland oder Holland mit seinem Großvater, Stiefvater und Vater beiwohnt, das Leben im Quartier Latin und den Vororten von Paris, die ständig wechselnden Schulen, die Rafael besucht (Diagnose: Lernbehinderung, oder doch Genie?), der Vater, der seine Schuhe nicht selbst binden kann, aber in der ganzen Welt Vorträge hält, die wie der Vater revolutionäre und intellektuelle Mutter, die eine Nacht nackt und mit verbundenen Augen mit ihren Studentinnen eingesperrt wird, die Gebete zu Gott von einem inneren schwarzen Ufer aus, die omnipräsente Angst, dass den Eltern oder ihm selbst etwas zustoßen könnte, die Großmutter, die ihn, zurück in Chile, von den Straßen des Viertels, den Lehmhäusern, den Marktschreiern und dem Katholizismus reinigt, und an sein Genie appelliert, die ständige Ungewissheit des Lebens im französischen Exil und im chilenischen Untergrund.

Doch auch, wenn sich im ‚Ich im Text‘ Themen wie der Krieg, die Angst und das Exil spiegeln, haben Gumucio zufolge alle seiner Bücher – und somit auch dieser Roman – dasselbe (leicht absurde und in jedem Fall paradoxe) Motiv: eine Person, die um jeden Preis Schriftsteller werden will, der jedoch niemand die Erlaubnis hierfür erteilt, und die sich selbst eigentlich auch nicht erlaubt, Bücher zu schreiben. Eine Person, die Bücher schreibt, um sich selbst die Legitimation zu geben, zu schreiben und ein Schriftsteller zu sein.

Das ‚Ich im Text‘ in Transitkind führt verschiedene Gründe auf, warum es schreiben will, ja schreiben muss: Der junge Rafael hat Angst, ein Niemand zu sein: „Ich will ein Genie sein oder gar nichts, oder anders gesagt, ich habe Angst, dass wenn ich kein Genie werde, ich am Ende niemand sein könnte. Deswegen war es eine Erleichterung, als Victor Hugo mir in einem Wachsfigurenkabinett in die Augen geschaut und mir klar gemacht hat, dass ich sein Nachfolger sein werde.“ Außerdem schreibt er, um seine Familie von der Angst und der Monotonie zu befreien, um seinem eigenen Leben einen Sinn einzuschreiben, um sich die Angst vom Leib zu halten, und um der Einsamkeit etwas entgegnen zu können. „Ich habe keine Macht. Ich schreibe, um die Wirklichkeit für eine Minute anzuhalten, denn was danach kommt, das ist die Angst. Und es ist keine dumme Angst, eine Angst der Ungewissheit eines kleinen Jungen, der nicht weiß, was das Leben ist; sie ist wahrhaftig, viel wahrhaftiger, als ich zugeben möchte.“

Gumucio hat in Chile das Genre des autobiografischen Romans begründet und somit Autor*innen wie Alejandro Zambra (Ferngespräch, Multiple Choice) oder Nona Fernández (Die Straße zum 10. Juli) den Weg bereitet. Als einer der ersten verarbeitete er in der Literatur die Militärdiktatur unter Augusto Pinochet, die Erfahrungen des politischen Exils als Dissident der Diktatur und das Leben im chilenischen Untergrund. Umso wichtiger, dass dieser Roman nun auch in Deutschland erscheint! Mit Transitkind ist Gumucio ein wunderbarer kleiner Roman über die ständige Angst und Ungewissheit eines ständig im Provisorischen bleibenden Lebens im chilenischen Widerstand und im französischen Exil gelungen. In autobiografischen Fragmenten versucht das ‚Ich im Text‘, der Diffusität und Omnipräsenz der Angst beizukommen, indem es „wie ein Gefangener, der ein Loch mit seinem Löffel gräbt, […] seine Lebensgeschichte aufschreibt“. Denn die Angst begleitet ihn überall, ist gewissermaßen ein Teil von ihm: „Wie ein Knochen um sein Mark herum ganz hart wird, so hat sich mein ganzes Leben um die Angst herum gelegt, eine Angst, die sich alle zehn Jahre verändert, klein genug, um sich in den Falten meiner Kleidung zu verschanzen, und fest genug, um sich nicht vom Tageslicht vertreiben zu lassen.“ Jetzt bleibt nur zu hoffen, dass noch mehr von Rafael Gumucios Romanen ihren Weg auf den deutschen Büchermarkt finden werden.

Titelbild

Rafael Gumucio: Transitkind.
Aus dem chilenischen Spanisch übersetzt von Benjamin Loy.
Edition 8, Zürich 2020.
182 Seiten, 21,20 EUR.
ISBN-13: 9783859903876

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