Deutungsansprüche, Netzwerke, Animositäten

Axel Schildts nachgelassenes Werk „Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik“ beleuchtet umfassend intellektuelle Lebenswelten

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer gehört dazu und wer nicht? Oder anders: Wer ist ein Intellektueller, und wer ist keiner? Fragen wie diese provoziert Axel Schildts wegen seines frühen Todes unvollendet gebliebenes Buch über Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik. Den Untersuchungsgegenstand seines von den Herausgebern zum opus magnum geadelten Werkes fixiert er durch fünffache Abgrenzung. Professoren, die allein der Wissenschaft in der Stille ihrer Studierstuben frönen, fallen nicht unter den im Titel genannten Begriff. Gleiches gilt für Leute mit Partei- und Verbandsbezügen, es sei denn, sie machten wie der Sozialdemokrat Carlo Schmid auch jenseits ihrer dortigen Funktionen von sich reden. Drittens werden Schriftsteller und Künstler nicht wegen der ästhetischen Qualität ihrer Hervorbringungen gewürdigt, sondern allein im Blick auf deren politischen Gehalt. Manager und Organisatoren im medialen Feld, also Verleger, Lektoren und Redakteure, werden nur insoweit einbezogen, als sie selber mit eigenständigen Beiträgen aktiv waren. Walter Dirks, Alfred Andersch oder Rudolf Augstein sind Beispiele dafür. Schließlich fünftens die Journalisten. Berücksichtigt werden Repräsentanten mit qualitativ hohen, über den Tag hinausweisenden Ansprüchen, das heißt, wer sich nur an den Aktualitätsbedürfnissen des breiteren Publikums abarbeitete, fällt durch das Raster. Die Grenzen hier wie sonst sind allerdings fließend. Das lässt die definitorischen Fallstricke ahnen, auch die Schwierigkeiten, durchweg entlang eindeutig fixierter Kategorien zu argumentieren.

Folgt man den in den Kulturwissenschaften handelsüblichen Vorstellungen, dann streiten Intellektuelle als freischwebende, nicht parteipolitisch gebundene Geister für bürgerschaftliche Partizipation und gegen das Unrecht der Welt. Sie bieten diktatorischen Gelüsten die Stirn, handeln und begreifen sich als Instanzen der Moralität, ja, nach einem Diktum des französischen Historikers Christophe Charle als „Vordenker der Moderne“. Ihre Sache ist die Aufhellung gesellschaftlicher Entwicklungen und Problemlagen, sie schauen über den Tellerrand der Aktualität hinaus, reklamieren ubiquitäre Deutungskompetenz, werfen ihr Gewicht in die Waagschale, wenn es darum geht, die Dinge zum Besseren zu wenden, und betreiben agenda setting. In den Debatten, die eine Epoche prägen, hat ihre Stimme mehr oder weniger großes Gewicht.

Beheimatet auf den linken wie auf den rechten Seiten des politischen Spektrums, liefern sie Narrative für das Gestern, das Heute und das Morgen, erschüttern ältere Gewissheiten und befestigen neue. Vor allem aber, und das ist ein wesentliches Merkmal, profitieren sie vom medialen Strukturwandel der modernen Welt, will sagen, sie bedienen sich der verschiedensten Kommunikationskanäle und Distributionsagenturen, in den 50er und 60er Jahren des Radios, der Verlage, der Zeitungen und Zeitschriften. Beide brauchen einander, die Medien die Intellektuellen und die Intellektuellen die Medien. Ohne diese wären jene weder sichtbar noch hörbar. „Medienzentriertheit“ sei „ein zentrales Charakteristikum aller Intellektuellen“, notiert der Autor. Sie bedürfen der Öffentlichkeit: sie ist ihr eigentliches Lebenselixier. Insofern ist das Kompositum „Medien-Intellektuelle“ eine bloße Tautologie, was freilich einmal mehr anzeigt, wie schwer es ist, Rolle und Funktion des Intellektuellen, das seiner Existenz innewohnende fluide und schwankende Element, zu fassen und unzweideutig zu bestimmen.

Schildts Studien sind dem Konzept der intellectual history verpflichtet, das zunehmend an Resonanz gewinnt. Deren Ziel ist es nicht, vornehmlich die Höhenflüge der Ideenproduktion quer durch die Epochen nachzuzeichnen und diese auf normative, der Zeit enthobene Komponenten abzuklopfen und fortzuschreiben. Das Augenmerk gilt vielmehr den Akteuren und ihren Kontexten, den Bedingungen, unter denen sie arbeiten, den Institutionen, bei denen sie ihr Geld verdienen, den Milieus, in denen sie sich bewegen, den Bündnispartnernund Gesinnungsgemeinschaften, die sie rekrutieren und denen sie sich anschließen. Ideen werden als Teil einer umfassenden Sozial- und Kulturgeschichte analysiert; interessant sind die Kontinuitäten und die Wandlungen, die Anpassungsprozesse und die „semantischen Umbauarbeiten“, die von Zeit zu Zeit vorgenommen werden. Natürlich geraten dabei auch die Biographien ins Blickfeld, die Prägungen und Vorlieben, Erfahrungen und Wahrnehmungen, die Ressentiments und die Visionen einer Deutungselite, die ständig um Einfluss, Reichweite, Reputation und Marktwert besorgt ist, teils Terrain gewinnt, teils verliert.

Wesentlich hier liegen die unschätzbaren Verdienste, liegt der Reiz des Buches: in der anschaulichen Präsentation einer ganzen Fülle von Informationen über Alltäglichkeiten, mit denen die schreibende und redende Zunft konfrontiert war. Man liest das mit Erstaunen, auch mit Vergnügen. Axel Schildt hat dies alles aus Dutzenden von Nachlässen in den von ihm konsultierten Archiven herausgefischt, Mitteilungen über Honorare zum Beispiel, die Publizisten durch Vorträge, Diskussionsrunden und Essays im Rundfunk erwirtschaften konnten, ferner privatim geäußerte Urteile über Kollegen und Konkurrenten, Hinweise auf Projekte, gleichviel ob realisiert oder gescheitert, auf abgebrochene und neu geknüpfte Kontakte, auf Positionsgerangel mannigfacher Art, nicht zuletzt auf die Bedeutung, die den Medienleuten, den gate keepers mit eigener ideenpolitischer Agenda, für die Entfaltung oder die Blockierung von Karrieren zukam. Nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur schossen Zeitungen und Zeitschriften wie Pilze aus dem Boden, regional organisierte Rundfunkanstalten boten in verschiedenen Formaten Beschäftigungsmöglichkeiten, was nicht nur die Reichweiten intellektueller Interventionen vergrößerte, sondern auch die Möglichkeiten zum Existenzerhalt erheblich erweiterte. Das blieb so auch nach dem großen Zeitschriftensterben infolge der Währungsreform und des beginnenden Wirtschaftsaufschwungs, was das Geld und die Zeit zum Lesen verknappten und den meisten Journalen die Basis entzog.

Dafür, dass den Intellektuellen weder Menschliches noch Allzumenschliches fremd war, breitet Schildts Arbeit eine Vielzahl von Belegen aus. Polemik, Verunglimpfungen und Sottisen jedweder Art figurierten als Begleitmusik zu den vielen Kontroversen, den ausufernden Graben- und Glaubenskämpfen, den aufgeblasenen Attitüden und Eifersüchteleien, denen sich die Akteure und ihre Entourage bisweilen anheimgaben. Wer dies aus dem Effeff beherrschte, auch coram publico die harten Bandagen nicht scheute, war Kurt Hiller, der an kaum einem seiner Kollegen ein gutes Haar ließ. So titulierte er Golo Mann, der Heinrich Heine in der Deutschen Rundschau einen hauptsächlich der Tagesaktualität verhafteten Dichter genannt hatte, als „Golo Männchen“, der seine Argumente aus dem „Gefühlsschlamm des neudeutschen Geheimnazismus destilliert“ habe. Derlei Anwürfe hatten – nebenbei – ein Nachspiel oder genauer: eine Parallele, denn der Antisemitismusvorwurf, gepaart mit denunziatorischem Geraune über Lebenswandel und Homosexualität, musste Anfang der sechziger Jahre dazu herhalten, Golo Mann eine Professur an der Frankfurter Universität zu verwehren. Den Part der Strippenzieher in dieser Causa übernahmen übrigens Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, die aus den USA heimgekehrten Häupter des Instituts für Sozialforschung, die neben sich einen von NS-Belastungen freien, zudem populären Mann mit bekanntem Namen, der obendrein noch gegen manche ihrer Theorien skeptisch war, offenbar nicht ertragen mochten.

Nach der Götterdämmerung des NS-Regimes und dem einstweiligen Verlust der deutschen Staatlichkeit mussten sich die Figurenensembles im medialen Feld notwendigerweise neu sortieren und inhaltlich neu erfinden. Die Frage war, wie sich das vorhandene Personal, das weitgehend identisch war mit dem von vor 1945, orientieren, welche Positionen es beziehen, auf welche Seite der Siegermächte es sich schlagen, wie sie ihre Werthorizonte justieren, das heißt sich den Gegebenheiten der Nachkriegszeit in Ost und West akkommodieren würde. Diesen Problemen ist Schildts erster Teil gewidmet. Berlin trat seine frühere Rolle als Medienzentrum an die westzonalen Metropolen München, Hamburg und Frankreich ab, das Radio bestimmte stärker denn je die Lebenswelten der Menschen, bot nicht allein Unterhaltung, sondern vielfältige Foren für Diskussionen und die Durchdringung anspruchsvoller Themen. Die Nachprogramme der einzelnen Sendestationen waren dafür prägnante Beispiele, und die leitenden Redakteure dort eroberten sich binnen kurzem erhebliche Gestaltungsspielräume. Pars pro toto wäre hier Alfred Andersch vom Hessischen, später Süddeutschen Rundfunk zu erwähnen.

Von denen, die vor dem Nationalsozialismus geflohen waren, kehrte nur eine Minderheit zurück; die meisten Publizisten, die nach 1945 das Wort ergriffen, waren bereits vorher dabei, hatten sich durch die Jahre der Diktatur geschlängelt: als Angepasste oder Parteigänger, die für die NS- und die regimenahe Presse geschrieben hatten wie Karl Korn, der Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen, oder als Repräsentanten der inneren Emigration, die, sofern sie mit Publikationsverbot belegt waren, unter Pseudonym oder für den Film geschrieben hatten wie Erich Kästner. Tonangebend waren zunächst zwei Cluster von Journalisten und Intellektuellen: zum einen diejenigen, die aus dem Umfeld der Konservativen Revolution kamen, vor wie nach 1933 das Gesicht der aktivistischen und theorieambitionierten Zeitschrift Die Tat geprägt hatten: der bei den Machthabern früh in Ungnade gefallene Hans Zehrer, ferner Giselher Wirsing, Ernst Wilhelm Eschmann, Ferdinand Zimmermann alias Ferdinand Fried, Wolfgang Höpker und Klaus Mehnert, die rasch wieder Fuß fassten und maßgeblich am Aufbau einer christlichen-konservativen Publizistik mitwirkten (Christ und Welt,  Sonntagsblatt). Einige von ihnen wanderten bald darauf ab zum Springer Verlag (Bild und Welt).

Die zweite Gruppierung berief sich auf das Erbe der 1943 verbotenen Frankfurter Zeitung, war mehrheitlich liberal bis konservativ gesonnen, was punktuelle Sympathien mit der Sozialdemokratie nicht grundsätzlich ausschloss. Zu den Leitfiguren hier gehörten Benno Reifenberg und Dolf Sternberger und die von ihnen ins Leben gerufenen Journale Die Wandlung und Die Gegenwart, die in kritischer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Brücken in eine demokratische Gegenwart zu schlagen suchten.

Auf die Schilderung kultureller Wiederaufbauarbeiten unmittelbar nach dem Krieg folgen die beiden Hauptteile des Buchs, in denen sich die Erzählung zeitlich bis zu den Achtundsechzigern mäandriert. Dabei geraten die 50er Jahre fast zu einem eigenen Buch. Die hier versammelten Abschnitte beanspruchen deutlich mehr Raum als die mit dem ebenso modischen wie unsinnigen Attribut „lang“ versehenen 60er Jahre. Unsinnig deshalb, weil Zeitabschnitte für gewöhnlich ihre Vor- und ihre Nachgeschichte haben, weshalb das bemühte Adjektiv, selbst wenn es in Anführungsstriche gesetzt ist, jeder Trennschärfe entbehrt. In der ersten Dekade nach der Gründung der Bundesrepublik errangen, so der Befund des Autors, diejenigen Publizisten, die sich auf zivilisationskritische, amerikaskeptische Traditionen eines christlich konservativ grundierten Abendlandes beriefen, die Hoheit über die politischen und intellektuellen Stammtische. Der Geist stand rechts, wandte sich gegen Säkularisierung und den östlich der Elbe beheimateten Bolschewismus. Die Linke, gleich welcher Spielart, hatte einstweilen das Nachsehen, schob sich allerdings nach und nach in den Vordergrund. Parallel dazu begannen Prozesse eines vorsichtigen Pragmatismus, einer Modernisierung konservativer Attitüden und Sentiments, die à la longue auf Anerkennung der ohnehin nicht zu leugnenden Tatsächlichkeit einer industriellen Massengesellschaft hinausliefen. Dass dabei zahlreiche Zwischentöne und Abstufungen zu beachten sind, versteht sich von selbst. Mit „Kulturkritik als Suchbewegung“ liefert Schildt dafür das nötige Stichwort.

Während die Welt nach rechts rückte, bewegte sich die Zeit in Richtung links. Die Positionen und die Autoren, die fortan deren Spalten füllten, erwiesen sich je länger desto deutlicher als dominant. Das war für das Meinungsklima der nun anhebenden Epoche von paradigmatischer Bedeutung. Im Laufe der 60er Jahre büßten etliche der zuvor die Diskurse bestimmenden Figuren an Resonanz ein und wurden abgelöst von Angehörigen einer jüngeren Generation wie Hans Magnus Enzensberger und anderen. Die Demokratie westlichen Zuschnitts wurzelte sich ein, zugleich gewann die abschätzige Rede von der bloß „formalen“ Demokratie an Boden. Das quälende Ende der Ära Adenauer, die in Form von spektakulären Prozessen nun intensiver werdende justizielle Aufarbeitung des NS-Unrechts, auch die nach dem Mauerbau eingeleiteten Schritte einer Entspannung zwischen Ost und West taten ein Übriges – nicht um den Weg zu einem parteipolitisch verengten Liberalismus einzuschlagen, wohl aber weniger verkrampften Haltungen, mehr Offenheit, einer Pluralisierung der Lebensstile, auch Bestrebungen zu gesellschaftlicher Reform Raum zu gewähren. Die „braunen Schatten“ verflüchtigten sich nicht, sondern wurden im Gegenteil erst recht sichtbar, wurden Gegenstand kontroverser Debatten. Kurzum, die Landschaft begann sich aufzuhellen, die Intellektuellen und die Medien wurden, wie Schildt schreibt, „liberaler, moderner, kritischer“, die intellektuelle Opposition gegen die Bonner Republik gewann an Gewicht.

Der Abschnitt über die 68er, der das Buch beschließt, ist Torso geblieben. Notstandsgesetze und außerparlamentarische Opposition, der Protest gegen den Vietnamkrieg, die Kampagnen gegen den Springer Verlag, der Schwenk einiger Protagonisten in das Lager eines links drapierten Terrorismus konnte der Autor nicht mehr behandeln. Trotz der Unterschiede in der Bewertung der Phänomene besteht Konsens darüber, dass 1968 – gemeint als Chiffre – eine „entscheidende historische Zäsur“ markierte. Geringe Bedeutung misst Schildt dem vielfach beschworenen Konflikt der Generationen bei, größere dagegen den Kommunikationsverstärkern in Gestalt von Verlagen wie Rowohlt, Fischer und Suhrkamp, hier vor allem dem Kursbuch und der edition suhrkamp, welche die Theoriebedürfnisse namentlich eines jüngeren Publikums gleichermaßen weckte und befriedigte. Der Abschnitt endet mit Peter Brückner und Johannes Agnoli, beide heute so gut wie vergessen, damals jedoch Verfechter eines akademischen Radikalismus, die den Abbau der Demokratie durch Manipulationsstrategien des Wohlfahrtsstaates ebenso beklagten wie herbeiredeten.

Axel Schildt hat eine Art histoire totale vorgelegt, eine ‚dichte Beschreibung‘, die bis in die letzten Winkel intellektueller Lebenswelten hineinleuchtet, Netzwerken und Gesinnungsgemeinschaften nachspürt. Sein Buch ist ein Kompendium, das seinesgleichen sucht, zudem gut erschließbar durch Personen-, Medien- und Institutionenregister. Es fördert eine überbordende Fülle von erhellenden Details und Zusammenhängen zutage. All dies macht es lohnenswert, den Explorationen des Autors und den bisweilen verschlungenen Pfaden seiner Argumentation zu folgen. Überflüssig zu betonen, wie tief er in die Materie eingedrungen ist und wie souverän er über sie verfügt. Mit ihm ist unwiederbringlich einer der profiliertesten Kenner der bundesdeutschen Medien- und Ideenlandschaften von uns gegangen.

Titelbild

Axel Schildt: Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020.
896 Seiten , 46,00 EUR.
ISBN-13: 9783835337749

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