Reste und Ruinen

Ein Gespräch mit dem argentinischen Schriftsteller Hernán Ronsino

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der argentinische Schriftsteller Hernán Ronsino stammt aus der Kleinstadt Chivilcoy, die etwa 180 Kilometer westlich der Hauptstadt Buenos Aires gelegen ist und die zu historischem Ruhm kam, weil der ehemalige Präsident Domingo Faustino Sarmiento im späten 19. Jahrhundert den Ort als Modell für ein zukünftiges Argentinien ausgerufen hat. Ebenso pflegte Sarmiento zeitlebens enge Verbindungen in die Stadt, die heute rund 60.000 Einwohner zählt. Auch der berühmte argentinische Schriftsteller Julio Cortázar lebte Anfang der vierziger Jahre fünf Jahre lang in Chivilcoy und arbeitete dort als Lehrer.

Jeder der bisher vier Romane Ronsinos, der hauptberuflich Soziologie an einer Universität von Buenos Aires unterrichtet, spielt in Chivilcoy und handelt von denselben Figuren und Geschichten, nur jeweils aus anderer Perspektive und mit verschienenen Schwerpunkten erzählt. Ein Werk als fiktive Chronik einer Stadt also, in der sich Geschichte und Fiktion bis zur Unkenntlichkeit miteinander vermischen. Und eine sehr regionale Literatur, sollte man meinen, doch ist das Werk Ronsinos in zahlreiche Sprachen übersetzt. Im deutschsprachigen Raum verlegt der kleine Schweizer Bilgerverlag die Bücher des Argentiniers, der Ende 2020 mit dem Anna Seghers-Preis ausgezeichnet wurde. Dies nahm Literaturkritik.de-Herausgeber Sascha Seiler zum Anlass, mit Hernán Ronsinos ein Gespräch über seine Heimatstadt und deren Fiktionalisierung zu führen.

 

Hernán Ronsino: Hier sind wir also im digitalen Raum, es sind komplizierte Zeiten…

Literaturkritik.de: Wie läuft es denn in Argentinien mit der Pandemie?

Ronsino: Wir befinden uns ja im Sommer. Die Fallzahlen sind trotzdem sehr hoch, aber langsam kommen die Impfungen. Die Angst, die hier herrscht, ist, dass die Kälte kommt, bevor genug Leute geimpft sind. Wir passen gut auf!

Literaturkritik.de: An einer Stelle Ihres Roman In Auflösung reflektiert eine der Figuren über die Beschaffenheit der Fiktion. Er vergleicht ein historisches Buch und eine fiktionale Erzählung über die Gründung der Stadt Chivilcoy, in der ja alle ihre Romane spielen. Kann man diesen Vergleich auch als eine Art poetologischer Reflexion lesen?

Ronsino: Ja, das stimmt. Letztlich beziehen sie sich hier ja auf die Beschaffenheit der Grenzen von Fiktion, aber auch auf den Effekt, den Fiktionen auf die Wahrnehmung von Realität haben können. Die beiden Texte, die Sie meinen, sind zum einen Pago Chico von Roberto Pairó, ein Klassiker der argentinischen Literatur des späten 19. Jahrhunderts, in dem es um die Gründung einer Stadt geht. Pairó stammte aus Mercedes, einem Dorf ganz in der Nähe von Chivilcoy, und die Gegend inspirierte ihn zu seinem Buch. Zum anderen geht es um die historische Studie El pueblo de Sarmiento, ein Buch, das ich sehr intensiv studiert habe und über das ich auch schon einiges publiziert habe, ich bin ja von Haus aus Soziologe. An einer Stelle in diesem Buch heißt es, dass manchmal die Arbeit der Historiker von den Worten der Romanschreiber verdrängt wird. Und das ist der Moment, wo Legenden, Traditionen, Mythen ins Spiel kommen. Man weiß dann nicht mehr, was tatsächliche Geschichtsschreibung ist und was Fiktion. Dieses Spannungsfeld reizt mich ungemein, wenn man in Bezug auf die Vergangenheit nicht mehr genau zwischen Geschichte und Geschichten unterscheiden kann.

Literaturkritik.de: Das wichtigste Thema Ihrer Romane ist die Vergangenheit, was sie mit den Menschen und dem Ort macht.

Ronsino: Allgemein gesprochen sehe ich zwei Themenkomplexe: Zum einen die Frage, wie die historische, kollektive Vergangenheit auf die Menschen wirkt, welche Spuren sie in ihnen hinterlassen hat. Auf der anderen Seite steht die persönliche Vergangenheit. In meinem Roman Lumbre wird diese Dialektik am besten dargestellt. Man liest über eine kollektive Erinnerung, die anhand des Mordes an einem Dichter dargestellt wird, es geht um die Anwesenheit des argentinischen Schriftstellers Julio Cortázar, der in Chivilcoy auftaucht, allerdings unter dem Pseudonym Julio Denis. Das ist übrigens eine wahre Geschichte: Cortázar schrieb das Drehbuch zu seinem Film La sombra del pasado – Die Schatten der Vergangenheit – während er in Chivilcoy lebte. Der Film wird ja dann von einem Brand für immer zerstört. Zum anderen erinnert sich der Protagonist des Romans an sein persönliches Leben in dem Dorf, wie er mit den Überresten seiner Erinnerung lebt. Überhaupt spielt das Übriggebliebene, die Ruinen, eine ganz große Rolle in meinem Werk. In In Auflösung ist dieses Motiv ja allgegenwärtig.

Literaturkritik.de: Es sind ja immer die gleichen Figuren, die in Ihren Büchern bis hin zum jüngsten Werk, Cameron, auftauchen, es liest sich wie ein großer Erzählkosmos. Es scheint im Ganzen eine Chronik des Dorfes zu sein, erzählt aus verschiedenen Erzählperspektiven.

Ronsino: Was mich sehr interessiert, ist die Dialektik zwischen dem realen Territorium und dem imaginären, mythischen Territorium aufzuzeigen. Wie bedingt sich beides? Inwieweit beeinflusst das reale Territorium das von mir mittels Sprache imaginierte? Oder macht die Sprache jenes imaginäre Territorium doch zu einer vollständigen Fiktion? Ich kann jedoch die Grenzen nie genau ausmachen. Die Stadt, in der meine Texte spielen, trägt den gleichen Namen wie die Stadt, in der ich geboren bin. Aber es ist ein reformuliertes Territorium. Ich gebe Ihnen dafür ein einfaches Beispiel: Es gibt Leser, die nach Chivilcoy fahren und nach einigen Orten suchen, die sie dann nicht finden, weil sie erfunden sind. Andere Orte habe ich woanders platziert, ein Haus, das im Roman an die zentrale Plaza grenzt, steht in Wirklichkeit in einem Vorort. Ich mag dieses Spiel mit realen Orten, die aber innerhalb des imaginären Territoriums versetzt worden sind. So sind die Romane weniger eine Chronik der Stadt, sondern ein Spiel mit Realität und Fiktion, wobei sich die Grenze zwischen beidem stets aufs Neue verschiebt.

Literaturkritik.de: Ist dieses Chivilcoy, über das wir lesen, und die Menschen, die darin leben, also letztlich ein Substrat der Realität?

Ronsino: Darauf kann ich nun erstmal als Soziologe antworten (lacht). Die Figuren modellieren sich nach der Theorie Max Webers. Dieser hat ja eine Theorie der Idealtypen bzw. der Archetypen formuliert: Auf Basis von Erfahrungen konstruiert man ein Modell, einen Archetyp, aber dieses Modell bezieht sich nicht zwangsweise direkt auf eine reale Person, sondern ist das Ergebnis einer ganzen Reihe an Beobachtungen. Und bei mir ist es so, dass diese Beobachtungen ein Substrat meiner ganz persönlichen Erfahrungen in der Stadt Chivilcoy sind.

Literaturkritik.de: Ich habe die Figuren auch als Archetypen gelesen. Es ist eine sehr soziologische Art, Romane zu schreiben…

Ronsino: Nun ja, das erzähle ich Ihnen jetzt so durchdacht im Nachhinein, aber die Wahrheit ist, dass ich in dem Moment, in dem ich eine Figur entwickle, keinen Gedanken daran verschwende. Es ist keine Methode, die ich bewusst anwende. Die Soziologie greift nur wenig in mein Werk ein.

Literaturkritik.de: Würden Sie sich denn als typisch argentinischen Schriftsteller bezeichnen? Ich finde die Frage ganz zentral, denn Ihre Texte sind sehr regional. Sie beschreiben Dinge, zu denen wir hier in Europa auf den ersten Blick recht wenig Bezug haben, etwa das Leben in der argentinischen Provinz oder den Einfluss der argentinischen Geschichte, vor allem von deren Anfängen auf die Gegenwart. Trotzdem wurde Ihr Werk in sehr viele Sprachen übersetzt und Sie haben kürzlich ja auch den Anna Seghers-Preis gewonnen… ist das nicht ein Paradoxon?

Ronsino: Das ist eine sehr große Frage: Was ist typisch argentinisch? Es gibt da eine Aussage eines argentinischen Wissenschaftlers, die besagt, dass die Wissenschaft keine Heimat hat, der Wissenschaftler aber schon. Das eine ist die biographische Prägung, die man nicht aus einem herausbekommt, das andere ist, etwas zu erschaffen, dass trotzdem diese biographischen Grenzen transzendiert. Man schreibt ja nicht und denkt an einen kulturellen Kreis, den man erreichen will. Man muss da historisch bis zu Borges zurückgehen, der ja in seinem berühmten Essays El idioma de los Argentinos den Autor in den Kontext der Weltliteratur stellt. Er vollzieht dabei einen radikalen Bruch mit der damals vorherrschenden literarischen Tradition, also der gauchesken, ruralen Literatur, die vorherrschend war. Er eröffnet der argentinischen Literatur damit die Möglichkeit, weltweite Einflüsse zuzulassen.

Literaturkritik.de: Die Orte und Handlungen, die Sie beschreiben, erscheinen mir sehr archaisch, als habe es die Moderne nie gegeben…

Ronsino: Mich interessiert die Vorstellung des Anachronismus. Viele der Elemente, die in meinen Romanen auftauchen, sind Elemente, die aufgehört haben, einer produktiven Welt zu dienen, und die auf irgendeine Art von der Gegenwart abgekoppelt sind. Aber ihnen wohnt weiterhin eine bestimmte Präsenz inne, sie sind auf ihre Art nützlich, als Reste, als Ruinen. So wie die abgekoppelten Teile eines Raumschiffs, das durchs Weltall gleitet. Aber sie behalten ihren Sinn, einen anderen Sinn. Man sieht so etwas sehr häufig in den Dörfern Argentiniens. In den großen Städten weniger, natürlich, diese sind viel verbundener mit der Globalisierung und den neuen Formen des Konsums, aber in bestimmten ländlichen Regionen kann man vermehrt das Zusammenleben von anachronistischen Elementen mit hyperzeitgenössischen Elementen beobachten. Wenn jemand durch so ein Dorf schreitet, wird er Pferde sehen, Kühe, die mit brandneuen Autos nebeneinander existieren. Dieses Zusammenkommen anachronistischer Elemente mit dem hypertechnologischen Gegenwärtigen zieht mich sehr an.

Literaturkritik.de: Es gibt da einen entscheidenden historischen Moment, der in Ihren Büchern immer wieder thematisiert wird, nämlich als die Eisenbahnverbindung zwischen Chivilcoy und Buenos Aires gekappt wurde. Es ist ein entscheidend antimodernistischer Moment, der die Entwicklung der Gegend umkehrt.

Ronsino: An diesem Punkt kann man in der Chronik, wie Sie das ja vorhin genannt haben, eine Linie ziehen, die sich auf einen historischen Prozess bezieht, der für einen entscheidende Wendepunkt in der argentinischen Geschichte verantwortlich ist, nämlich dem Abbau des Schienennetzes, der in den 1960er Jahren begann. Doch es war die Eisenbahn, welche die Integration aller Dörfer im bis dahin Land gewährleistet hatte; es war eine kollektivere und vor allem demokratischere Logistik als die der Autobahnen und Straßen, die sich seitdem nach und nach durchgesetzt hat. Und bis heute hat das Sterben des Eisenbahnsystems einen sehr großen Effekt auf die schwindende Integration abgelegener Gegenden in Argentinien – und natürlich auf die Allmacht, die Buenos Aires über den Rest des Landes hat.

Literatukritik.de: Und das ist heute immer noch ein großes Problem, wo viele Leute doch ein Auto besitzen?

Ronsino: Ich denke schon. Früher fuhr man ganz entspannt mit dem Zug von Buenos Aires nach Bariloche, heute kann man schon froh sein, wenn man mal eine Stunde am Stück irgendwohin fahren kann. Das ist das Gegenteil von dem, was ich in Europa beobachtet habe, das ja von endlosen Eisenbahnstrecken durchkreuzt wird. Es ist ein neues Präkariat entstanden, denn die, die es sich leisten können, fliegen und die anderen müssen eben unter prekären Zuständen reisen, ewig lange Strecken im Auto zurücklegen oder Busse nehmen. Und bei den Distanzen in Argentinien ist das schon ein großes Problem. Das ist auch eine Frage der Demokratisierung.

Literaturkritik.de: Ein ganz anderes Thema zum Abschluss: Wie beurteilen Sie die gegenwärtige Situation der argentinischen Literatur?

Ronsino: Ich finde, es gibt da eine interessante Entwicklung. So ungefähr ab der Jahrtausendwende ist eine neue Welle an Autor*innen aufgetaucht, die ganz neue Aspekte und neue Stimmen in die argentinische Literatur hereingespült hat. Darunter würde ich so unterschiedliche Autorinnen und Autoren wie Samanta Schweblin zählen, die ja in Deutschland lebt und die international sehr erfolgreich ist. Mariana Enriquez hat den Premio Herralde gewonnen und spielt mit dem phantastischen Genre. Federico Falco, ein Autor aus Córdoba, der jetzt in Spanien bei Anagrama verlegt wird. Um nur ganz wenige zu nennen. Und die Schreibweisen und Themen, auch die Genres, die bedient werden, sind extrem heterogen. Und ich sehe auch, dass diese Autoren auch internationale Anerkennung bekommen. Und wenn man den Blick auf ganz Lateinamerika richtet, sieht man, dass dies kein argentinisches Phänomen ist, es sind in den letzten zwei Jahrzehnten überall viele interessante Autoren und Autorinnen aufgekommen, die neue Wege gegangen sind. Meiner Meinung nach ist dies in erster Linie ein Erfolg der vielen kleinen, unabhängigen Verlage, die sich getraut haben, diesen Autoren eine Chance zu geben. Wir leben in einer sehr spannenden Zeit, was die lateinamerikanische Literatur angeht.

Titelbild

Hernán Ronsino: Lumbre.
Aus dem Spanischen übersetzt von Luis Ruby.
bilgerverlag, Zürich 2016.
324 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783037620557

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Titelbild

Hernán Ronsino: In Auflösung. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Luis Ruby.
bilgerverlag, Zürich 2018.
127 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783037620724

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Titelbild

Hernán Ronsino: Cameron.
Aus dem argentinischen Spanisch von Luis Ruby.
bilgerverlag, Zürich 2020.
120 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783037620854

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