Hier ist die Archäologie, die keine:r sieht, die jede:r braucht

Der Sammelband „Verkannte Leistungsträgerinnen“ liefert „Berichte aus der Klassengesellschaft“ (ja, die gibt es)

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

ErzieherInnen, SozialarbeiterInnen, AltenpflegerInnen, ausgebeutete Frauen in der Rund-um-die-Uhr-Pflege „zu Hause“, KrankenpflegerInnen, Menschen, die in der outgesourcten Krankenhauswäscherei schuften, „Bettenschubser“, also Leute, die Kranke von Krankenhausstationen zu Untersuchungen und zurück fahren, KüchenhelferInnen, „Einfach“-ArbeiterInnen in der Lebensmittelproduktion, SaisonarbeiterInnen in der Landwirtschaft (bald ist ja wieder Spargelzeit), das Prekariat in der Fleischindustrie, bei Amazon, VerkäuferInnen im Einzelhandel, MigrantInnen bei Dienstleistungsplattformen, PaketzustellerInnen, Fernfahrer (meist männlich), Menschen der „Security“, GebäudereinigerInnen, FlugbegleiterInnen bei Ryanair, FriseurInnen: Das sind die Berufe, Tätigkeiten, Menschen, die, so formulieren es Oliver Nachtwey, Soziologe an der Universität Basel, und Nicole Mayer-Ahuja, Soziologin an der Universität Göttingen, zu Beginn ihres wichtigen Sammelbandes über Leistungsträgerinnen, die wir alle kennen und wahrscheinlich, weil ihnen zu wenig Sichtbarkeit und Anerkennung zu Teil wird, trotzdem verkennen oder einfach nicht so recht kennen wollen oder bloß aus dem gelangweilten Augenwinkel peripherisieren.

Das also sind die Leute, die den „Laden am Laufen“ halten. Das sind die Menschen, die „für die Reproduktion der Gesellschaft unverzichtbar sind“ – und gleichwohl, obwohl die Gesellschaft ohne sie, ohne ihr Tun in den Katakomben (Bettentransporte in Krankenhäusern finden tatsächlich oft noch in einem unterirdischen Tunnelsystem statt) keinen einzigen Tag funktionieren würde.

Nachtwey und Meyer-Ahuja machen darauf aufmerksam, dass in der Ära Helmut Kohls ganz andere Berufe als Leistungsträgerinnen, für die sich selbstverständlich Leistung wieder lohnen sollte, im Fokus standen, ‚Leistungen‘, die ohne die Leistungen der obengenannten verkannten Leistungsproduzentinnen nie hätten erbracht werden können, das waren jene vom Neoliberalismus so hochgelobten UnternehmerInnen, ManagerInnen, Wurstelleute, von denen ich bis heute oft nicht recht verstanden habe, womit sie eigentlich ihr Geld – ja: verdienen. Seit den 1980er Jahren ist der Rückbau des Sozialstaats zu beobachten, Steuersenkungen für die Reichen, Durchlöcherungen der sozialen Sicherungssysteme, Abbau der Dienstleistungen der öffentlichen Hand zugunsten der Privatwirtschaft, die sich dann ein Prekariat von Subunternehmern anschaffte. 

Was ist Leistung? Ist es eine Leistung, dass ich hier sitze, warm und trocken und nicht schlecht bezahlt, und eine Rezension schreibe? Oder war es eine Leistung, als ich als Zivildienstleistender in der untersten Stufe der Krankenhaushierarchie „Betten schubste“, Betten machte und Frischoperierten zum Klo half? Woran, so Nachtweys und Meyer-Ahujas Frage, lässt sie sich messen? Kann man sie wirklich so einfach individuell zurechnen? Trivial aber wahr: Damit kapitalistisch gewirtschaftet werden kann, sind „gesellschaftliche Voraussetzungen“ nötig, die „tagtäglich wiederhergestellt werden müssen“, Voraussetzungen, die die ‚LeistungsträgerInnen‘ von lästigen, schmutzigen, monotonen Arbeiten entlasten wie Kindererziehung, Pflege alter und kranker Angehöriger, Voraussetzungen, die es zum Beispiel auch erlauben, dass white collars und –collarinen beim Video-Meeting mit einem ordentlichen Haarschnitt in die Kamera lächeln können. 

Ein weiterer Befund ist auch nicht neu, aber immer noch nicht nur bedrückend, sondern für den langfristigen gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährlich. Das Fortschritts- und Wohlstandsnarrativ, dass es die Kinder ‚einfacher Leute‘ einmal besser haben sollten, dass sie aufsteigen konnten durch Fleiß, Bildung, das war wohl ein Ausnahmefall, jedenfalls wird seit vielen Jahren die Position in der Klassengesellschaft eher fixiert, die Verantwortung für dieses Festgemauertsein den Individuen zugeschoben.

Vor allen Dingen aber hat die heutige Klassengesellschaft, so wieder Nachtwey und Meyer-Ahuja, ein weibliches und migrantisches Gesicht – das unheilige Triumvirat gesellschaftlicher Hierarchisierung: Rassifizierung, Klasse, Geschlecht: das bleibt – und es wird vor allem nicht besser (es ist zum Kotzen). 

Der Sammelband ist in mehrere Unterabschnitte gegliedert. Teil I ist überschrieben „Arbeitskraft verfügbar machen: Professionelle Sorgearbeit“ und behandelt den Beruf des/der ErzieherIn, den Alltag eines Schweizer Sozialarbeiters (Giorgio, man könnte ihn auch als einen ‚Verwalter‘ einer bestimmten Spielart sozialen Elends bezeichnen, verwaltet werden hier prekäre Verhältnisse, Sucht, Sozialhilfeabhängige, die kaum aus der Schleife herauskommen), dann die „Professionelle Sorgearbeit in der stationären Altenpflege“, in der Schweiz in Privathaushalten arbeitende Pflegende. 

Da ist zum Beispiel Sandra, die in ihrer Arbeit als Erzieherin einerseits mit Kindern konfrontiert ist, die „emotional“ belastet sind, aus schwierigen Verhältnissen stammen, sie soll aber zugleich einen Bildungsauftrag erfüllen. Doch oft läuft es über den Tag in der Kita nur darauf hinaus, dass man guckt, „dass nichts passiert und dass die Kinder einigermaßen gut versorgt sind“. Sandras Anspruch eines ‚ganzheitlichen Menschenbildes‘ („wie soll der Mensch, den wir in den Kitas haben, in Zukunft aussehen, wie soll er die Gesellschaft prägen“) bleibt auf der Strecke. 

Ist unter der Bedingung einer großen finanziellen Belastung durch ein zu pflegendes Familienmitglied nicht die polnische 24-h-Pflegerin, die im Haus wohnt, die pekuniär wie care-technisch optimalste Lösung? Aber wo bleiben diese ausgebeuteten Frauen, die wie moderne Nomaden mal zuerst in Ludwigshafen, dann in Basel für Monate, Wochen im Dienstmädchenzimmer wohnen (dürfen. Wenn sie Glück haben, zieht man ihnen das nicht vom Lohn ab)? Getrennt von ihrer Familie, oft ohne weitere soziale Bindungen aufgrund von Sprachbarrieren aber auch der Tatsache, dass sie eben 24 Stunden beansprucht werden? 

Der zweite Teil behandelt Berufe, Tätigkeiten, die dazu dienen (sollen), die Arbeitskraft anderer wiederherzustellen, hier geht es also um die Gesundheitsversorgung, die Reparatur der Körper, die Reparatur der Leistungsfähigkeit durch KrankenpflegerInnen, „Bettenschubserinnen“ und ArbeiterInnen in der Krankenhauswäscherei. Greifen wir nur den Beitrag Thomas Stiebers über eine Frau heraus, die Knochenarbeit in der Krankenhauswäscherei leistet: „Mein Gott, wo bin ich jetzt gelandet? Das war mein erster Eindruck am ersten Tag, weil so was habe ich nicht erwartet“, so die Auskunft dieser Frau im Interview mit Stieber. Diese Wäscherei versorgt ein Krankenhaus der Maximalversorgung mit 8000 MitarbeiterInnen, die Wäscherei wurde outgesourct, was zur Lohndrückerei führte, damit aber auch zur Spaltungslinie der Alt- und der Neubeschäftigten. Während ArbeiterInnen mit Altverträgen mehr verdienen, konnte bei den Neueingestellten ein deutlich geringerer Lohn eingeführt werden.

Daneben gibt es noch zwei weitere Spaltungslinien, Ossis gegen Wessis, Deutsche gegen AusländerInnen/MigrantInnen – würde es da helfen, wenn man der Aussage eines männlichen Beschäftigten bei der Krankenhauslogistik, den „BettenschubserInnen“, folgen würde, die ebenfalls outgesourct und lohngedrückt wurden? Er sieht seine Arbeit so, dass sie „für das Volk“ da ist: „Das ist zum Wohl des Volkes da. Ja, und das sollte auch so bleiben.“ Kohls LeistungsträgerInnen können über sowas Sozialromantisches nur müde lächeln. 

Damit wir auch alle in unseren wichtigen Videomeetings zufrieden sitzen, braucht es Nahrung – der dritte Teil behandelt die Aufrechterhaltung der Arbeitskraft: Arbeiten in der Lebensmittelproduktion, Saisonarbeit in der Landwirtschaft, Schlachthöfe – um nur einiges zu nennen. Auf der untersten Stufe der Hierarchie begegnet einem Jeremy, ein, ja, so könnte man sagen: Tellerwäscher, der in der Schweiz als Flüchtling mit prekärem Aufenthaltsstatus lebt. Seine einzige Chance „auf ein Bleiberecht“ ist seine Arbeitsstelle. Damit aber ist er erpressbar, fügt er sich nicht, wird er entlassen – das ist Sklaverei und Jeremy weiß das. Wird ihm gesagt, du musst das jetzt machen, „dann muss ich das. Alles mache ich, alles. Ich wasche einfach nur ab. Warum? Ich habe keine Papiere, das ist das Problem.“ 

Im vierten Teil geht es um die Reproduktion von Arbeitskraft oder auch um die Versorgung mit Waren, es geht um Menschen, die im Online- und Versandhandel arbeiten, bei Amazon zum Beispiel, um Fernfahrer (Titel des betreffenden Aufsatzes: „Wenn der Job die Familie kostet“). Hier soll es nur kurz um den Beitrag Philipp Staabs über einen Beschäftigten in der Paketzustellung gehen. Dieser arbeitet seit 18 Jahren in dieser Branche, ist jetzt mit 51 freigestellter Betriebsrat, hat alle Umstrukturierungen, die Privatisierungen der Post mitbekommen. Als jemand, der ‚an der Front‘ gearbeitet hat, weiß er, dass Postauslieferung eine „körperzerstörende Arbeit“ ist. Früher gab es, so formuliert es Staab, einen „implizite(n) Sozialvertrag der arbeiterlichen Gesellschaft der Bundesrepublik – berufliche Sicherheit gegen körperlichen Verschleiß“ mit, so ließe sich ergänzen, anschließender auskömmlicher Rente. Doch diese Art des Sozialvertrags ist schon lange aufgekündigt. 

Es folgen Beiträge über eine Auszubildende im Sicherheitsgewerbe, über Gebäudereinigung, in der zu 70% Frauen arbeiten, im Jahr 2019 hatten 35% einen Migrationshintergrund, auch diese Arbeit ist körperlich zerstörend, der geschundene Körper ist das einzige Kapital dieser ArbeiterInnen – und was, wenn das muskuloskelettale System nicht mehr mitmacht? 

Zumindest ein Beitrag zeigt, dass es in diesen desolaten Verhältnissen auch (etwas) anders gehen kann.
Ingo Singe interviewte für seinen Beitrag Emine, eine Friseurin, die in einem schicken, aber von einer fairen Chefin geführten Salon in der Schweiz arbeitet. Hier geht es nicht um Ausbeutung, bloßes Funktionieren: 

Nach mittlerweile zehn Berufsjahren ist Emine mit Salon und Kundschaft eng verbunden, sie ist eine erfolgreiche Friseurin, die die Salon-Atmosphäre wesentlich prägt. Dieses Sichfestsetzen in einer fremden Welt wäre unmöglich gewesen, besäße Emine nicht ein hohes Maß an Neugier, Lernfähigkeit und sozialer Intelligenz, wozu auch gehört, vielfältige Kundenbedürfnisse, Stimmungen und Situationen zu erfassen und für das eigene Handeln zu berücksichtigen.

Das mag genügen. Mein arg fragmentarischer Durchgang durch die O-Töne, Lebens- und Quälwelten der verkannten LeistungsträgerInnen sollte lediglich einen groben Einblick geben. Vieles ließe sich ergänzen, weitere Berufe, Tätigkeiten beschreiben. Doch für heute ist es genug Elend und Zorn.

Titelbild

Oliver Nachtwey (Hg.) / Nicole Mayer-Ahuja: Verkannte Leistungsträger:innen. Berichte aus der Klassengesellschaft.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
566 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518036013

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