Ein überschaubares Dasein

Didi Drobnas Roman „Was bei uns bleibt“ verschweigt ein Dreiviertel Leben

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stünde es nicht im Klappentext des Romans, wäre am Text selbst nicht klar zu erkennen, dass Klara Riegler, die Protagonistin von Didi Drobnas neuem Roman, ihre Zeit als Patronenfrau in der Munitionsfabrik im österreichischen Hirtenberg nie vergessen hat und dass sie ihre Erzählungen aus dem letzten Kriegsjahr mutmaßlich an den 32-jährigen Enkel Luis richtet. Die Zeit, in der Didi Drobna die Rahmenhandlung von Was bei uns bleibt spielen lässt, liegt etwa 65 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Klara ist 84 und geht mit Luis im Wald Heidelbeeren pflücken. Er tritt dabei in eine Fuchsfalle, verletzt sich und muss mit Hilfe von Horst, Klaras einzigem Bekannten und Bauernhofnachbarn, ins Krankenhaus gebracht werden. Horst ist selbständiger Systemadministrator und alleinerziehender Vater der 12-jährigen Dora, die alles andere als pflegeleicht ist und ihn gehörig auf Trapp hält.

Das gegenwärtige Geschehen schildert die Autorin aus der Perspektive der vier teilnehmenden Figuren, deren Namen jeweils auch die Kapitel tragen. Sieben davon erzählen über Klara, sechs darüber, was Horst tut. Luis und Dora sind drei beziehungsweise zwei Kapitel gewidmet. In elf in die Rahmenhandlung ungleichmäßig integrierten Rückblenden berichtet Klara als Ich-Erzählerin, was sie von August 1944 bis April 1945 er- und überlebte. 

Die junge Frau konnte nach dem Tod des Vaters an der Front, wie auch andere Bäuerinnen ohne Männerbeistand, den heimischen Hof alleine nicht mehr bewirtschaften und fand 1943 mit 19 Jahren in der Munitionsfabrik in Hirtenberg Unterkunft und Beschäftigung. Sie geht aus Not, um dem Hunger zu entgehen, als immerhin „kriegswichtiges Personal“ freiwillig in ein Arbeitslager. Dort findet sie, physisch wie psychisch ausgemergelt, Halt unter den Frauen und ist zudem auch stolz, mit einer Million Patronen, die in der Fabrik täglich produziert werden, „die treibende Kraft der reichsdeutschen Offensive“ zu sein. Am Fabrikleiter, der nicht der NSDAP angehört und dem die Maschinen wichtiger als Menschen sind, sieht sie, dass der Krieg auch Beruf und Lebensinhalt sein kann. So menschenunwürdig ihr Leben auch ist, glaubt sie fest, aber unreflektiert daran, für die Soldaten etwas Wichtiges zu tun, und schließt sich durch das ‚Wir‘, mit dem sie über die eigene Rolle im Kriegsgeschehen spricht, dem Naziwahnsinn an.

Für die Arbeiterinnen gibt es wenig zu genießen. Sie leben unter schrecklichen Bedingungen, bei spärlichster Verpflegung, in einer Massenunterkunft und arbeiten 49 Stunden in der Woche. Als die Waffen-SS neben dem Arbeitslager für jüdische Zwangsarbeiterinnen aus ganz Europa, die als „Menschenmaterial“ in der Produktion eingesetzt werden sollen, ein Lager „wie Theresienstadt“ einrichtet, bekommt Klara die Jüdin Lujza aus der Slowakei zugewiesen, die vom Alter her ihre Mutter sein könnte. Sie arbeiten Körper an Körper, ohne sich wirklich nahe zu kommen, und müssen gemeinsam vor den willkürlich brutalen SS-Aufseherinnen für Arbeitsfehler oder Nichtigkeiten geradestehen.

Doch das Kriegsende naht. Zuerst werden die Produktionsmittel und einige Arbeiterinnen in Sicherheit gebracht und die Zwangsarbeiterinnen zum Evakuierungsmarsch nach Mauthausen getrieben. Schließlich soll die Fabrik zerstört werden, um dem Feind nicht in die Hände zu fallen. Klara steht ohne Arbeit, Patronen, Lebensmittelkarten und Leidensgenossinnen wieder vor dem Nichts und trifft eine überraschende (und wenig nachvollziehbare) Entscheidung: Sie folgt heimlich dem Zug der Zwangsarbeiterinnen. Nicht erst an diesem Punkt stellt sich für die Leserschaft die Frage, was haben die Kriegserzählungen mit der so viel späteren Gegenwart zu tun?

Denn Klara sparte diesen Teil ihres Lebens bisher immer aus, sogar als ihr Enkel aus Mauthausen, der Gedenkstätte des größten Konzentrationslagers der Nationalsozialisten auf österreichischen Boden, vom Schulausflug nach Hause kam. Erst 65 Jahre nach dem Krieg häufen sich plötzlich bei der alternden, von der Demenz bedrohten Klara die Flashbacks: Die harmlose Frage des Arztes beim Röntgen des Enkels nach dessen Unfall, ob sie sich vor den Strahlen mit einer Bleiweste schützen will, bringt unvermittelt die Erinnerung an die Schrecken der Kriegsjahre zurück, weil sie weiß, dass sie das Blei aus der Munitionsherstellung ein Leben lang in ihren Knochen tragen wird. Bei der Renovierung des Hauses fallen die Ziegel mit sie an Luftangriffe erinnerndem Krach, die sie selbst einmal aus der Ferne erlebt hat, auf den Boden und dann findet Dora auch noch in Klaras Schlafzimmer die zwei Patronen, die sie über ein halbes Jahrhundert aufgehoben hat.

Die Großmutter lässt sich von ihrem Enkel schließlich dazu überreden, mit ihm noch einmal nach Hirtenberg zu fahren. Der Ausflug verläuft unspektakulär, es ist wortwörtlich Gras über die Geschichte gewachsen: „Der ganze Ort lebte ohne Erinnerungszeichen.“ Dabei ist eine Kultur des Vergessens und Vertuschens nichts Ungewöhnliches, wenn Orte mit Nazigeschichte sich aus der Verantwortung ziehen wollen. 

Dieser Verantwortung stellt sich Didi Drobna durch die Themenwahl ihres Romans mit Nachdruck. Unklar bleibt allerdings bis zum Schluss, warum Klara an ihrem geruhsamen und entschleunigten Lebensabend, der von unangenehmen Begleiterscheinungen des Alterns flankiert wird, auf einmal das Bedürfnis verspürt, sich den mentalen Wunden ihrer Vergangenheit zu stellen. Bietet das Stöbern der kleinen Dora im Privatleben und die dabei gefundene Munition dafür genügend Zündstoff? Gibt es im Dreiviertel Leben, das in Klaras Lebenserzählung ausgespart bleibt, kein Ereignis oder keine Erfahrung, an die es sich zu erinnern lohnt?

Die Autorin bleibt mit ihrem Text aufgrund ihres Erzählkonstrukts grundsätzliche Antworten schuldig. Wie es Klara nach dem Krieg erging, was sie getan, erlebt, wen sie geliebt und wann, warum wieder verloren hat, wird nicht erzählt. Der Sprung von der jungen Patronenfrau im Zweiten Weltkrieg zur resümierenden, bekehrten, gegen die Alterskrankheiten kämpfenden, alleinerziehenden Großmutter ist zu groß.

Was bei uns bleibt ist vor allem eine Erzählung des österreichischen Kriegsalltags jenseits der Kampfhandlungen. Dabei kommt eine erschreckend naive Haltung gegenüber der Lage, in der sich die Protagonistin befindet, zum Vorschein. Nicht kämpfen heißt ja nicht, am Geschehen unbeteiligt zu sein. Wahrnehmen heißt nicht automatisch Verarbeiten. Denn „[d]er Krieg kam nicht zu uns“, heißt an einer Stelle des Romans, „wir waren der Krieg!“

Titelbild

Didi Drobna: Was bei uns bleibt.
Piper Verlag, München 2021.
256 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783492070522

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