Ein Leben und drei Abschiede

Martin Amis letztes großes Buch ist eine Anthologie aus Leben, Literatur und dem Sterben seiner drei engsten Freunde

Von Felix HaasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Haas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Sohn des Schriftstellers Kingsley Amis wurde Martin Amis 1949 in die englische Literaturwelt geboren. Sein Leben im London der 70er Jahre und sein erster eigener Roman Das Rachel-Tagebuch machten ihn dann früh zum „Bad Boy“ der englischen Literaturszene. Martin Amis ist heute beinahe genauso bekannt für sein Leben, wie für sein Werk. Ersteres hat er in seinem 2000 erschienen Buch Experience angefangen systematisch aufzuarbeiten – ein autobiographisches Projekt, das er erst 2020 durch seinen Roman Inside Story fortgesetzt und womöglich abgeschlossen hat.

In Experience hatte Amis sich auf seine Familie und insbesondere die Beziehung zu seinem Vater fokussiert. Wenige Jahre nach der Publikation arbeitete Amis bereits an einer Erweiterung seiner Autobiographie, die seine engsten Freunde und späteren Jahre zum zentralen Thema haben sollte. An einem Tag im Jahre 2005, nach der Lektüre seines da bereits 100 000 Worte umfassenden Entwurfs, sah er sich jedoch gezwungen, das Projekt als gescheitert abzubrechen.

Nach dem Tod des englischen Dichters und engsten Freund seines Vaters, Philip Larkin (1985), brauchte es noch den Tod einer weiteren Vaterfigur, des Romanciers Saul Bellow (2005), und seines eigenen besten Freundes, des Essayisten Christopher Hitchens (2011), bis er sich im Stande sah seinen Roman Inside Story zu schreiben. Dieser ist nun in deutscher Erstübersetzung bei Kein & Aber erschienen.

So ist Inside Story nicht nur ein Roman über das Leben des Autors, sondern vor allem auch über das Sterben und den Tod seiner drei Hauptfiguren: Larkin, Bellow und Hitchens. Besonders Hitchens, dessen Lebensphasen – Hochzeit, Kinder, Scheidung – bis zu seiner Krebsdiagnose 2010, überraschend eng mit Veränderungen in Amis‘ Leben Gleichschritt hielten, tritt stark in den Mittelpunkt. Amis verfolgt das langsame Verblassen seines besten Freundes, eines Mannes, der über Jahrzehnte Millionen in den Bann seiner Worte und seines Charismas gezogen hat. „… [i]ch denke über den Tod nach, fast ständig…“ gesteht uns Amis. „Warum ist Sterben so schwer, körperlich? Das will ich wissen.“ Eine Frage, die am Ende größtenteils unbeantwortet bleiben muss.

Doch der Leser, der Inside Story auch wegen seiner Erwartungen an die Gattungsbezeichnung „Roman“ erwirbt, mag enttäuscht werden. „Memoire“ oder „Anthologie“ mögen Gattungen sein, die formal nicht völlig den ganzen Text fassen, aber näher das Leseerlebnis widerspiegeln. Am Ende ist die Gattung „Roman“, ob ihrer Flexibilität jedoch die einzig formal Passende für ein Werk, das alles andere als eine chronologisch dahinplätschernde Erinnerungsbemühung ist. Inside Story verflechtet biographische Erinnerungsfragmente mit Fiktivem. Der Roman reiht literarische Kritik an Literaturhistorisches und Literaturtheoretisches so wie Schreib- und Stilanweisungen für seine Leser. Immer wieder bringt Amis auch politische und gesellschaftliche Kommentare an, so etwa über Trump, Israel, oder den Elften September. Bei all dieser Komplexität versteht der Autor gerade genug narrative Handlung aufrechtzuerhalten, um uns das Lesen weitestgehend reibungslos zu gestalten. Dennoch kann man sich des Eindrucks nur schwer erwehren, dass die Anziehungskraft von Inside Story davon abhängen mag, wie sehr der Leser bereits mit den Menschen und Werken vertraut ist, welche die Seiten des Romans bevölkern.

Immer wieder findet sich der Leser direkt angesprochen. „Willkommen! Treten Sie doch näher…,“ beginnt Amis‘ Roman, bei dem wir oft nicht völlig sicher sind, was Erinnerung und was Fiktion ist. Bei den Charakteren macht der Autor lediglich zu Phoebe Phelps, welche besonders im ersten Drittel des über 600 Seiten langen Romans stark präsent ist, explizite Anspielungen zu ihrer fiktiven Natur. In Inside Story trifft der junge Martin die sieben Jahre ältere Phoebe, um, nach einer „Nacht der Schande,“ mit ihr eine mehrjährige Beziehung zu führen. Amis konstruiert Phoebe als eine Femme fatale, nicht unähnlich zu der Nicola Six in seinem Erfolgsroman London Fields. Zwar lässt er andere Frauen, so wie seine Stiefmutter Jane Howard, die ihm in ihren intellektuellen Interessen ebenbürtig sind, am Rand auftreten, dennoch offenbart sich uns immer wieder eine Welt, in der Männer intellektuelle Vaterfiguren und Trinker und Frauen Femme fatales sind.

Gleichsam, ob bei literaturtheoretischen Erörterungen oder bei Schilderungen von Körperfunktionen, zeigt sich Amis sprachlich und stilistisch gewohnt sicher und humorvoll. Nicht zuletzt durch Sprachspiele sowie linguistische und etymologische Erörterungen stellte er seinen Übersetzer, Eike Schönfeld, vor eine nicht geringe Herausforderung, die der Leser mit Bravour gemeistert findet.

Inside Story ist ein ambitioniertes, Genre definierendes Buch über ein Leben und das Sterben. Dieses, Amis‘ letztes großes Buch, ist der Abschied des Autors von drei seiner engsten Freunde, welche ihn, in seinem Schreiben und seinem Leben geprägt haben.

Titelbild

Martin Amis: Inside Story.
Aus dem Englischen von Eike Schönfeld.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2022.
752 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783036958835

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