Ach, Sie kennen die Autorin noch nicht?
Carola Hilmes bittet mit „Schriftstellerinnen V“ ein weiteres Mal um Aufmerksamkeit für deutschsprachige Autorinnen der Gegenwart
Von Günter Helmes
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVor gut zwei Jahren wurde an dieser Stelle Schriftstellerin III besprochen. Diese Besprechung sei zur begleitenden Lektüre nahegelegt, wenn es beispielsweise um die Herausgeberin Carola Hilmes, um die von Axel Ruckaberle herausgegebene Reihe KLG Extrakt, der Schriftstellerinnen V zuzuordnen ist, oder um das mit diesem wie den Vorgängerbänden anvisierte Lesepublikum geht.
Diesmal werden zum einen Autorinnen vorgestellt, die Anfang der 1960er Jahre oder früher geboren worden sind, zum anderen solche, die Mitte der 1970er Jahre oder später zur Welt kamen. In ihrer Einführung stellt die Herausgeberin diese Autorinnen kurz vor – Biogramme am Schluss des Bandes liefern weitere Informationen – und rahmt diese Vorstellungen mit einigen Anmerkungen zu den Themen „Gender“ und „gendergerechte Sprache“. Dabei kann man ihr darin zustimmen, dass „Gender als Analysekategorie“ berücksichtigt werden sollte – die Herausgeberin selbst spricht allerdings deutlich entschiedener davon, dass Gender „wichtig“ sei, weil es literarischen Texten „eingeschrieben“ und „an ihnen ablesbar“ sei.
Ist das in dieser Pauschalität tatsächlich so? Widerspricht dem nicht ein Text wie beispielsweise Anna Seghers’ Aufstand der Fischer von St. Barbara, von dem man seinerzeit annahm, er könne nur von einem Mann geschrieben worden sein? Im Übrigen scheint mir die von der Herausgeberin getroffene Aussage auch allzu lange Zeit nicht ernsthaft in Zweifel gezogen worden zu sein. In dem fatalen Sinne allerdings, dass von Frauen geschriebene Texte aufgrund von deren behaupteter Minderwertigkeit per se als minderwertige ästhetische Produkte galten. Was Frauen schreiben, kann nur minderwertig sein, so das unaus- oder ausgesprochene Urteil großer Teile von Literaturkritik und Fachwissenschaft bis tief ins 20. Jahrhundert hinein. „[E]ingeschrieben“ und „ablesbar“ – zweischneidige Schwerter offenbar, die zu führen alles andere als risikolos zu sein scheint. Alles andere als risikolos auch darin, dass sich die Frage stellt, warum das bislang gebräuchliche Deutsch, zumal im Metabereich Literatursprache, einer mit einem Oktroy verbundenen Fundamentalkritik unterzogen werden soll, wenn sich doch Gender allemal in Texte einschreibt und an ihnen ablesbar ist.
Die bis auf die Beiträge über Gertrud Leutenegger und Eva Kinsky an dieser oder jener Stelle gekürzten elf Beiträge aus dem Kritischen Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben einen Umfang von elf bis vierunddreißig Seiten. Sie liegen – das spricht für ihre Konsumierbarkeit – mehrheitlich unter zwanzig und nur in zwei Fällen über dreißig Seiten. Das hat u. a. mit dem jeweiligen Umfang des Gesamtwerkes zu tun.
Allen Beiträgen ist gemeinsam, dass sie – zum Teil sehr intensiv, zuweilen auch in eher legitimistischer Manier – die feuilletonistische Rezeption des zur Rede stehenden Werkes berücksichtigen. Sie sind, hier nicht zu diskutierender qualitativer Unterschiede zum Trotz, auch von daher durchweg informativ und folglich empfehlenswert.
Der deren hochreflektierte, thematisch reichhaltige Kunst herausarbeitende Beitrag über die 2005 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnete Brigitte Kronauer von Gisela Ullrich, Sibylle Cramer, Julia Bertschik und Tanja van Hoorn setzt sich vor allem mit den zwölf Romanen bzw. „Romangeschichten“ zwischen Frau Mühlenbeck im Gehäus (1980), Berittener Bogenschütze (1986), Teufelsbrück (2000), Errötende Mörder (2007) und Das Schöne, Schäbige, Schwankende (2019) auseinander. Er geht aber beispielsweise auch auf die mehrheitlich Erzählungen versammelnden Bände Die gemusterte Nacht (1981), Schnurrer (1992), Die Einöde und ihr Prophet (1996) und Die Kleider der Frauen (2008), die Balladen-Anthologie Die Augen sanft und wilde (2014) sowie auf ihre literaturtheoretischen Arbeiten Aufsätze zur Literatur (1987, 2010) und Poesie und Natur (2015) ein – letztere Essaysammlung enthält ihre Poetikvorlesungen in Wien, Tübingen und Zürich.
Nach Eckhard Franke sind „Heimlichkeit und Hoffnung, Trauer und Träume […] die Pole“ in jenen „mit großer Sensibilität und Kompromisslosigkeit“ verfassten Werken Monika Marons, die bis 1992 entstanden sind, bspw. in Romanen wie Flugasche (1981) und Stille Zeile sechs (1991) oder in dem Essay Zonophobie (1992). Auch die als Liebesroman, autobiographischer Text oder fiktive Biographie daherkommenden Romane Animal triste (1996), Pawels Briefe (1999) und Endmoränen (2002) sind Roman Luckscheiter zufolge letztlich „Auseinandersetzungen mit der DDR-Vergangenheit“. Ingrid Laurien stellt die Qualitäten der in Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche (2005) und Zwei Brüder. Gedanken zur Einheit 1989-2009 (2010) gesammelten Essays und Vorträge heraus. Marons islamkritische Texte hält sie für „fragwürdig“. In den Romanen Munin oder das Chaos im Kopf (2018) und Artur Lanz (2020) sei „Komplexität durch ideologische Statements“ ersetzt.
In dem von Martin Zingg und Esther Köhring fortgeschriebenen Beitrag über Gertrud Leutenegger stellt Riki Winter eingangs fest, dass Leuteneggers „sehr lyrische[]“ Prosa „eher einer an einem feinen Faden gesponnenen Sammlung von Eindrücken, Erinnerungen, Nachdenklichkeiten und Traumsequenzen“ denn einer Geschichte gleiche. „Kontinuität“ resultiere in Romanen wie Vorabend (1975) und Ninive (1977) aus „der subjektiven Historie des Welterkennens“. Thematisch gehe es immer wieder, auch in der Lyrik, um das Individuum, dessen Einsamkeit und scheiternde Annäherungsversuche, sodann, wie etwa in Lebewohl, Gute Reise (1980), um „das patriarchalische Prinzip der Ordnung, Überwachung und Zerstörung, die Sehnsucht nach diesem ‚verletzlichen Vogel Liebe‘.“ Dabei lasse sich eine Tendenz zur Dekonturierung von Personen, Handlungen und Motiven erkennen. Esther Köhring weist neben den Romanen Matutin (2008), Panischer Frühling (2014) und Späte Gäste (2020) auch auf den „poetologischen Text“ Partita (2022) hin, der „den Prinzipien ihres Schreibens“ nachhorche.
Esther Kinskys naturverbundenes Werk besteht aus „episodenhaft erzählte[n] Romane[n]“ wie Sommerfrische (2007), Banatsko (2011), Am Fluss (2014), Hain (2018) und Rombo (2022), Lyrikbänden wie die ungerührte schrift des jahrs (2010), Aufbruch nach Patagonien (2012) oder Am kalten Hang. viagg‘ invernal (2016) und Essays wie Fremdsprechen. Gedanken zum Übersetzen (2013), Weiter Sehen. Von der unwiderstehlichen Magie des Kinos (2023) und Gedankenspiele über die Hoffnung (2023). Für dieses Werk stellt Anna Rauscher eine „genaue[] Beobachtungsgabe“, „zahlreiche deskriptive Passagen“, „Neologismen, originelle Metaphern, Vergleiche und Personifikationen“ und einen „Tonfall“ heraus, der „ruhig bis lakonisch“ sei. Hinsichtlich dieses Werkes biete sich „eine Gliederung unter thematisch-motivischen Gesichtspunkten an, wobei die jeweilige Formsprache […] stets eigens in den Blick zu nehmen“ sei.
Für Karin Herrmann sind Karen Duves erste, um Geschlechterbilder und -verhältnisse kreisende Romane Regenroman (1999), Dies ist kein Liebeslied (2002) und Die entführte Prinzessin (2005) mit erzählsprachlichen, erzählstrategischen und konzeptuellen Mängeln behaftet. Deutlich positiver werden trotz anders gelagerter Einwände die nachfolgenden realistischen bzw. dystopischen Romane Taxi (2008) und Macht (2016), die Grimm-Bearbeitungen Grrrimm (2012) sowie die „nichtliterarischen Projekte“ Anständig essen (2010) und Warum die Sache schiefgeht […] (2014) gesehen. In Fräulein Nettes kurzer Sommer (2018) sieht Katrin Dautel unterm Strich einen „gelungene[n] Beitrag“ zur Droste-Hülshoff-Rezeption. Mit Sisi (2022) entwerfe Duve „ein höchst ambivalentes Bild der Kaiserin […], das zwischen Liebenswürdigkeit und narzisstischer Rücksichtslosigkeit“ oszilliere.
Petra Günther diskutiert das literarische Werk Sibylle Bergs zwischen 1997 und 2015, darunter acht Romane, einen Sammelband mit journalistischen Arbeiten, sieben ausgewählte Theaterstücke und zwei Sammlungen mit Abschiedsbriefen von Frauen und Männern unter ästhetischen und thematischen Aspekten. Ästhetisch charakteristisch seien sprachliche Drastik, schnelle, harte Schnitte, „journalistische[] Erzählstrategien“, Mangel an Kohärenz und „dramatischer Spannung“, thematisch Gewalt, Beziehungen, Bindungslosigkeit, die Suche nach Glück und Liebe, Sexualität. Es herrsche ein „konservativer kulturkritischer Ton“ vor. Shantala Hummler ergänzt für die jüngsten Romane GRM. Brainfuck (2019) und RCE – #RemoteCodeExecution (2022), die von der „brutale[n] und asoziale[n] Realität“ eines „digitalen Spätkapitalismus“ handeln, dass Drastik hier mit „kompromisslos[em] Zynismus“ einhergehe.
Für Anna Kim stellt Linda Koiran die „Verknüpfung ihrer ungewöhnlichen“, durch die „Sprachexperimente der Wiener Gruppe“ beeinflussten Sprache „mit ihrer Migrationsbiografie“ – Stichwort: Identität – heraus. Kim suche nach „eigenen Bildern und den Bildern in einer eigenen Sprache.“ Texte wie irritationen (2000), exile (2002), Verborgte Sprache (2004) und insbesondere die „Künstlernovelle“ Die Bilderspur (2004), „Trauer- und Erinnerungsarbeit zu ihrer persönlichen Geschichte, seien „grundlegend“ dadurch bestimmt, dass sich Kim als „Fremde“ positioniere und so eine „genuin andere Welt“ konstruieren könne. In historische Themen wie Kosovo-Krieg, Kolonialismus, Teilung Koreas und Rassismus in den USA aufgreifenden Romanen Die gefrorene Zeit (2008), Anatomie einer Nacht (2012), Die Große Heimkehr (2017) und Geschichte eines Kindes (2022) gehe es neben Politisch-Sozialem vor allem um „grundlegende Themen menschlicher Existenz“.
Anne Fleig charakterisiert die um „Wahrnehmung“ kreisenden und durch die „Infragestellung bestehender Vorannahmen“, „Erfahrung von Differenz“ sowie die Themen „Geschlecht“ und „Reisen und Ortswechsel“ charakterisierten „Sprachkunstwerke“ von Antje Rávik Strubel als „‚Lichtspiele‘“. Doch spiele bei Strubel auch Wasser eine zentrale Rolle. Im Einzelnen geht es um die Romane und Prosabände Offene Blende (2001), Unter Schnee (2001), Fremd Gehen. Ein Nachtstück (2002), Tupolew 134 (2007), Vom Dorf. Abenteuergeschichten zum Fest (2007), Kältere Schichten der Luft (2007), Sturz der Tage in die Nacht (2011), In den Wäldern des menschlichen Herzens (2016) und den im Erscheinungsjahr mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman Blaue Frau (2021), aber auch um den Essay und die Essaysammlung Mädchen in Betriebnahme (2003) und Es hört nie auf, dass man etwas sagen muss (2022).
Die Prosatexte der „schreibende[n] Malerin“ Teresa Präauer, so Kalina Kupczynska, zeichnen sich durch „gattungsmäßige Willkür“ und durch einen „spielerische[n] Umgang mit der Sprache“ aus – der schreibe die Kritik „visuelle“ und „auditive“ Qualitäten zu. Es falle zudem auf, dass Präauer „eigensinnig und frei […] in der Wahl der Themen und in der Kombination der literarischen Motive“ sei. Romane und Erzählbände wie Für den Herrscher aus Übersee (2012), Johnny und Jean (2014), Oh Schimmi (2015), Das Glück ist eine Bohne und andere Geschichten (2021) oder Kochen im falschen Jahrhundert (2023) seien eigentlich „Genre-Mixe“. Mit den essayistischen bzw. sachbuchartigen Texten Über Ilse Aichinger (2021), Mädchen (2022) und Cranach A-Z (2022) habe Präauer sich auch als historisch wie theoretisch versierte Kritikerin profiliert.
Schon das „lyrische[] Prosadebüt Gegend (2006), so Juliana Kálnay, zeuge mit seinen „poetischen und rätselhaften Bildern“ und seinem „suggestiv verdichteten Blick“ von der „Erzählkunst“ Nora Bossongs. Die zeige sich auch in den im 20. Jahrhundert spielenden, realistisch erzählenden historischen Romanen Webers Protokoll (2009) und Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ (2012), dem zeitgeschichtlichen Roman Schutzzone (2019) und in dem Antonio Gramsci-Roman 36,9° (2015). Die teils mit dem Romanwerk verwobenen, zyklisch aufgebauten Lyrikbände Reglose Jagd (2007), Sommer vor den Mauern (2011) und Kreuzzug mit Hund (2018) hingegen stünden für ihre Begabung zur Dichterin. Vom politisch-gesellschaftlichen Engagements Bossangs zeugten Essays und Reportagen wie Rotlicht (2016), Auch morgen. Politische Texte (2021) und Die Geschmeidigen. Meine Generation und der neue Ernst des Lebens (2022).
Die mit dem Kinderbuch Der Cousin und Bekina (2001) debütierende Autorin und Regisseurin Nino Haratischwili habe sich erst „durch ihr Bühnenschaffen“ einen Namen gemacht, so Peter Langemeyer. Ihre Stücke seien ohne „Lehren“ – eingegangen wird auf gut 25 Stücke über (Selbst-)Begegnungen, Beziehungen, Liebes(un)glück, Identität, Migration, Familiengeschichten, Kunst, Leben und Kunstbetrieb, Historisches und Zeitgeschichtliches, Antikenrezeption bzw. Intertextualität –, sie stellten Fragen, „auf die der Zuschauer eine Antwort finden muss.“ Bemerkenswert seien auch die „Nebentexte“ der Stücke. Ihre erzählerisch ambitionierten Romanen Juja (2010), Mein sanfter Zwilling (2011), Das achte Leben (Für Brilka (2014), Die Katze und der General (2018) und Das mangelnde Licht (2022) handelten von toxischer Literatur, („Selbst-)Befreiung“, Generationenerfahrungen sowie der Geschichte der Sowjetunion bzw. Russlands aus georgischer Perspektive.
Fazit: Es bleibt zu hoffen – sinngemäß endete so auch die Besprechung von Schriftstellerinnen III –, dass Verlag und Herausgeberin die KLG Extrakt-Reihe „Schriftstellerinnen“ noch mehrfach fortsetzen werden. Elfriede Czurda, Olga Flor, Marianne Fritz, Zsuzsanna Gahse, Sabine Gruber, Eva Menasse, Annette Pehnt, Brigitte Schwaiger, Verena Stefan, Karin Struck und und und verdienen es, von Vielen (wieder) gelesen zu werden – Helena Adler, Ruth Aspöck, Verena Boos, Nina Bussmann, Marina Caba Rall, Valerie Fritsch, Dörte Hansen, Dragica Rajčić Holzner, Zoë Jenny, Mareike Krügel, Christina Maria Landerl, Marlen Schachinger, Gudrun Seidenauer, Brita Steinwendtner, Jana Volkmann, Laura de Weck oder Anna Weidenholzer warten sogar noch auf ihren KLG-Eintrag.
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