Aufrichtigkeit und Melancholie

Zum 100. Geburtstag des Dichters und Sängers Bulat Okudschawa (1924-1997) legt Ekkehard Maaß eine liebevoll aufgemachte Freundesgabe vor

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bulat Okudschawa gehörte in der Sowjetunion zur Generation der „Sechziger“, geprägt von der sensationellen wenn auch halbherzigen Entstalinisierung im Zuge des XX. Parteitags der KPdSU von 1956. Die Geheimrede des damaligen Generalsekretärs Nikita Chruschtschow hatte den Glauben von Millionen Parteimitgliedern an die Unfehlbarkeit Stalins bis ins Mark erschüttert. Obgleich diese Rede nicht veröffentlicht wurde, war sie auf unzähligen Parteikonferenzen und Betriebsversammlungen verlesen worden.

Es folgten die wenigen Jahre des sogenannten „Tauwetters“. Junge Parteigänger des Sozialismus hofften auf ein freieres Leben im Land. So unterschiedliche Schriftsteller wie Wladimir Dudinzew oder Viktor Astafjew überraschten mit unerhörten Romanen und Lyriker wie Bella Achmadulina, Jewgenij Jewtuschenko, Andrej Wosnessenski und eben auch Bulat Okudschawa veröffentlichten ihre Verse, die einen völlig neuen Sound atmeten.

Die Hoffnungen währten freilich nicht lange, das Regime schnürte Schritt für Schritt die Lockerungen wieder ein. Auch Bulat Okudschawa bekam dies zu spüren. Bald holte ihn das Unverständnis der Funktionäre wieder ein, die ihm, dem ehemaligen Frontsoldaten und Parteimitglied, sein Gitarrenspiel nicht nachsehen wollten. Die Gitarre – ein dekadentes Instrument!

Und doch hatte sich Bulat Okudschawa bereits zu Lebzeiten seinen Ruhm im Lande ersungen. Auf Magnetbändern waren seit den 1960er Jahren seine Lieder aufgenommen und weitergegeben worden. Und da in privaten Runden etwa in den Moskauer Küchen zu später Stunde gerne gesungen wurde, waren immer auch Lieder von Bulat Okudschawa dabei.

Eingängige Melodien und eine ruhige, fast schüchterne Stimme waren Okudschawas Kennzeichen. Wer einmal seine belegte Stimme zum Gitarrenspiel begleiten hörte, konnte sie nicht mehr vergessen. Im Temperament stellte er das genaue Gegenteil seines ungestümen jüngeren Bruders im Geiste, dem ebenfalls populären Barden Wladimir Wyssotzki dar.

Das Leben im grauen Alltag hatte in den Liedern Okudschawas Eingang gefunden. Somit war ein scharfer Kontrapunkt gegen verordnete Jubelgesänge und parteiamtliches Pathos gesetzt. Dem dankbaren Publikum waren die tagtäglichen Widersprüche zwischen einer tristen Realität und proklamierter Zufriedenheit sattsam bekannt. Die Bandbreite der Themen in Okudschawas Gedichten und Liedern war im wahren Leben angesiedelt. Okudschawa widmete seiner Mutter ebenso ein emotionales Porträt, wie er ironisch und melancholisch über die Liebe und auch den Tod singen konnte: „Auch das Sterben – will gekonnt sein auf Erden“. Leidenschaftlich besang der Sohn eines Georgiers und einer armenischen Mutter das Moskauer Arbatviertel seiner Kindheit.

Der Krieg und das namenlose Schicksal des einfachen Soldaten kehrt immer wieder in Okudschawas Liedern zurück. Als junger Mann hatte er sich freiwillig zur Roten Armee gemeldet, um den Kampf gegen die Invasion der Deutschen Wehrmacht zu unterstützen. In seinen Knochen steckte freilich auch das Urerlebnis seiner Kindheit, als die Eltern 1937 in der Sowjetunion verhaftet wurden. Der Vater war als angeblicher Trotzkist erschossen worden, die Mutter hatte achtzehn Jahre in sowjetischen Straflagern verbracht.

Als Mitte der 1980er Jahre Michail Gorbatschows Politik von „Glasnost“ (Offenheit) und „Perestroika“ (Umbau) einsetzte, konnte Bulat Okudschawa in jenen Jahren kultureller und politischer Öffnung wieder vor einem Publikum auftreten und seine Bücher und Schallplatten veröffentlichen.

Am 12. Juni 1997 starb Bulat Okudschawa auf einer Lesereise, die ihn über Marburg und München geführt hatte, 73jährig in Paris.

Die vorliegende, zweisprachige Jubiläumsausgabe ist mit Illustrationen von Moritz Götze versehen. In ihrer Nachbemerkung „Bulat Okudschawa – der Gründer der Gitarrenlyrik“ gibt Katja Lebedewa Aufschlüsse über kulturelle Hintergründe jener sowjetischen Jahrzehnte. Zudem berichten seine DDR-deutschen Freunde Wolf Biermann und Ekkehard Maaß in eigens verfassten Beiträgen über abenteuerliche Umstände ihrer Begegnung mit dem sowjetischen Chansonier und Schriftsteller.

Der Herausgeber Ekkehard Maaß hat diese Ausgabe dem russischen Wissenschaftler Sergej Kowaljow und der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial gewidmet. Er setzt somit, ganz im Geiste Bulat Okudschawas und dessen Freunden und Weggefährten, eine patriotische Geste zugunsten des wahren Russlands. 

Titelbild

Bulat Okudschawa: Mein Jahrhundert. Lieder und Gedichte.
Mit einem Vorwort von Wolf Biermann.
Aus dem Russischen von Ekkehard Maaß.
Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte, Berlin 2024.
136 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783867324441

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