Das Talionsgesetz und der Königsmord
Jacques Derridas Seminar „Die Todesstrafe II“ (2000-2001) behandelt die De-Konstruktion einer Strafform
Von Andreas Jacke
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDerridas Versuch, eine neue Argumentationsstrategie zu entwickeln, welche die alte unterirdische Allianz zwischen Gegnern und Befürwortern der Todesstrafe kenntlich macht, um sie so zu lockern, wurde im zweiten Teil seines Seminars noch energischer vorangetrieben. Für ihn ist die Todesstrafe fest eingebunden im gesamten Gesetzeskontext. Um dieses enorme Gerüst zu dekonstruieren, müssen die staatsrechtlichen Verankerungen dieser Kapitalstrafe eingehend analysiert werden. In der achten Sitzung seines Seminars erklärt Derrida, dass es nicht nur darum gehe, die Todesstrafe abzuschaffen, die dann, obwohl sie nicht mehr als Akt ausgeführt würde, potenziell durchaus erhalten bliebe. Vielmehr gehe es ihm darum, die Struktur, die diese grausame Strafe ermöglicht hat, zu verstehen und zu verändern.
Noch deutlicher als im ersten Teil steht hier die Frage des Souveräns im Zentrum, die Derrida in seinem nächsten Seminar Das Tier und der Souverän (2001-2003), welches dann leider sein letztes werden sollte, noch ausführlicher behandelt hat. Eingehend wird Kants komplexe Position diskutiert; denn einerseits verurteilte Kant moralisch den Königsmord und andererseits verteidigte er die Idee der Revolution, weil er in ihr ein Werkzeug der Aufklärung sah. Der Versuch, den Souverän zu verurteilen und hinzurichten, stellte in seinen Augen einen rechtswidrigen Vorgang dar, zugleich befürwortete er aber den Versuch, eine republikanische Verfassung zu installieren. Die Französische Revolution deutete er als ein geschichtliches Zeichen für die Zukunft. Durch ihre politische Errungenschaft (ein Volk gibt sich selbst die Gesetze) löste sie Enthusiasmus durch ihr Scheitern zugleich aber auch Entsetzen aus.
Die Gründe für die Rechtswidrigkeit, die Kant im Königsmord sieht, erläutert Derrida in der zweiten Sitzung mithilfe von Walter Benjamins berühmten Aufsatz Zur Kritik der Gewalt (1921). Benjamin hat darin erklärt, dass die Todesstrafe nicht eine Strafform unter anderen sei, sondern eben jene, die das Recht als Ganzes bekräftige. Weil das Recht nach Benjamin darauf beruht, das Gewaltmonopol innezuhaben, manifestiere es sich durch seine extreme Form von Gewaltausübung bei der Todesstrafe immer wieder neu. Durch sie offenbare sich der gewalttätige Ursprung des Rechts. Diese Verknüpfung zeigt, dass die Todesstrafe eine exponierte Position innehat, weil durch sie unmittelbar das Gewaltmonopol des Staates in seiner vollen Wucht zum Ausdruck gebracht wird. Insbesondere die absolute Macht des Souveräns besteht darin, über das Leben oder den Tod des Anderen im an ihn gestellten Gnadengesuch allein entscheiden zu dürfen. Er hat als einziger das Recht, den Verurteilten begnadigen zu können.
Weil die Gewalt als Grundlage des Rechts fungiert, steht die Todesstrafe selbst für Derrida außerhalb der Rechtsordnung, sie funktioniert als Strafform wie ein Transzendental, dass die immanente Rechtsordnung erst ermöglicht. Aufgrund dieser Verknüpfung kann der Souverän selbst der Todesstrafe bzw. dem Rechtssystem nicht einfach unterworfen werden. Wenn man den König tötet, suspendiert man das Recht selbst. Der König kann nicht legal hingerichtet werden. Nun geht heute die Möglichkeit, einen Staatschef vor Gericht zu bringen, eng oft einher mit der Bewegung, die Todesstrafe abzuschaffen. Überall da, wo die strenge Form der Allmacht des Souveräns durch die Demokratisierung begrenzt wird, kommt es auch zu Beschränkungen bzw. zur Abschaffung der Todesstrafe. Beide Motive hängen demnach zusammen.
Neben Kant, dessen Argumente im Zentrum des Seminars stehen, gibt es eine lange Beschäftigung mit der klassischen Psychoanalyse und auch mit Heidegger. Derrida konfrontiert Kants Argumente dabei mit den psychoanalytischen Erklärungen von Reik/ Freud, die hier zum Teil direkt als Fortsetzung der nietzscheanischen Argumentation aus dem ersten Teil des Seminars auftreten: Das Unbewusste kennt keine Moral und handele so auch nicht ethisch. Die moralische Ebene ist nach Kant jedoch über alle Triebansprüche erhaben und wird nicht von diesen tangiert. Die ungeheure Spannung zwischen diesen beiden Positionen, man könnte von Gewissen und Trieb und dann – mit Heidegger – auch von Gewissen und Sein sprechen, organisiert im Grunde das gesamte Seminar, in dem Derrida immer wieder die Perspektiven ändert. Dieses Wechselspiel ist typisch für ihn; man denke nur an die zwei Glossen in Glas, wo er Genet und Hegel ganz ähnlich miteinander in Verbindung setzte.
Für Kants Rechtsauffassung ist das Talionsgesetz grundlegend. Kant liest dieses durch die jüdische Religion berühmt gewordene Gesetz nicht antisemitisch (Auge um Auge usw.): nicht als Rache-, sondern als Berechnungsprinzip. Es besage daher nicht mehr als: ein Auge für ein Auge, nicht mehr als: ein Zahn für einen Zahn. Der klar berechnete Ausgleich soll die Entfesslung der Rache gerade verhindern. Das Talionsgesetz soll in der Justiz (jedoch nicht in einem privaten Urteil) für Kant die quantitativen ebenso wie die qualitativen Ausmaße der Strafe bestimmen. Es besage aufgrund seines Prinzips einer ausgleichenden Gerechtigkeit, dass einem Mord mit der Tötung, also der öffentlichen Hinrichtung des Mörders zu begegnen sei. Im Talionsgesetz, in dem es um die Berechenbarkeit des Strafausmaßes geht, sieht Derrida einen der stärksten Widerstände gegenüber der Todesstrafe und zeigt seinen großen Einfluss: Im Koran wurde es übernommen, Levinas hat es als Milde gedeutet und Heidegger und Reik haben ihm widersprochen. Reik sieht in ihm einen gut getarnten Akt der Rache.
Reiks Argumentation gegen die Todesstrafe steht insgesamt im Fahrtwind von Freud, so stützt er sich auf dessen Buch Totem und Tabu (1913). Hier darf der Urvater, der von Derrida als die archaische Figur des Souveräns gedeutet wird, zwar über Leben und Tod der anderen Sippenmitglieder entscheiden, dafür wird er aber schließlich selbst von seinen Söhnen getötet. Dieser ödipale Mord bildet für Freud den Anfang jeder Moral. Paradoxerweise empfinden die Söhne unmittelbar nach dem Vatermord Scham. Wie könne das sein, fragt sich Derrida, wenn der Vatermord überhaupt erst die Moralität mobilisieren solle?. Es gäbe die Scham dann doch bereits zuvor, sonst könnten die Söhne sie nicht empfinden. Wie Derrida erklärt, ist die Scham die Reaktion auf den Blick und das Urteil des Anderen. Dieses Gefühl kann aber nicht direkt nach der Tat einsetzen, sondern erst später mit zeitlichem Abstand entstehen, wenn das Entsetzliche am Mord ins Bewusstsein gerät. Da für Freud die Scham jedoch direkt einsetzt, liegt der Verdacht nahe, das dieses moralische Gefühl vor dem Mord bereits vorhanden war. Der Vatermord des Souveräns und seine Sühnung müssen außerdem nach Freud stets wiederholt werden. Für Reik liegt die wesentliche Ursache des kriminellen Handelns in einem mächtigen, unbewussten Schuldgefühl des Täters, das seinen Taten bereits vorausgehe und damit nicht erst durch sie zustande käme. Dieses Schuldgefühl resultiere aus der ödipalen Konstante des unbewussten Vatermordes und lasse sich daher psychoanalytisch bearbeiten. Angesichts dieses vorhergehenden Schuldgefühls nimmt Reik zwar eine eindeutige Stellung gegen die Todesstrafe ein. Dennoch bleibt Derrida gegenüber seiner Argumentation skeptisch.
Für Derrida haben die Erkenntnisse der Psychoanalyse bereits begonnen eine Transformation des Staatsrechts einzuleiten. Reiks Perspektive läuft aber im Grunde auf eine illusorische psychoanalytische Behandlung zukünftiger Krimineller, wenn nicht sogar der gesamten Gesellschaft hinaus. Er setzt anstelle der harten Strafe die Milde des freiwilligen Geständnisses. Eine präventive Ausarbeitung der ödipalen Motive könne den potenziellen Verbrecher von seinem destruktiven Weg abbringen und damit sogar das Delikt verhindern – oder zumindest könne sich der Mörder durch das psychoanalytische Geständnis seiner wahren, unbewussten Motive bewusst werden. Damit setze die Psychoanalyse, anders als die Strafjustiz, an der Ursache und nicht am Symptom des Verbrechens an.
In der sechsten Sitzung seines Seminars liefert Derrida dann eine weitere Alternative zu Kants Straf-Philosophie. Die Sitzung beginnt mit einer langen Meditation über die Verquickung zwischen dem Berechenbaren- und dem Unberechenbaren, die zunehmend die Rahmung von Heideggers Philosophie erhält. Das animal rationale als alleinige oder zumindest privilegierte Wesensbestimmung des Menschen und mit ihm sogleich das moderne Menschenbild, welches auf einer Berechenbarkeit der Welt gründet, wurde von Heidegger (wie übrigens auch von Adorno) in Zweifel gezogen. Die Kategorien des Seins und mit ihr die des Todes entziehen sich dieser Berechenbarkeit. Der Tod ist eine Gabe, die ein Maß hat, welches sich nicht messen lässt. Der Tod ist infolgedessen für Heidegger das Unermessliche. Äußerst erstaunlich findet Derrida, dass ein Philosoph, der sich mit dem Sein zum Tode derart intensiv auseinandergesetzt hat, kein Wort über die Todesstrafe verloren habe.
Unermüdlich setzt Derrida die Positionen von Kant, Heidegger und Reik zueinander in Beziehung und vertieft sie abwechselnd. So erhellen sie sich wechselseitig. Dabei wird beispielsweise der nietzscheanische Vorwurf, dass Kants Philosophie nach Grausamkeit rieche, aus dem ersten Teil des Seminars durch Reik nun im zweiten Teil verstärkt. Für Reik liegt in dem idealistischen Anspruch Kants die Ursache für die Grausamkeit. Der zu hoch gesetzte Anspruch führt zum grausamen Verhalten: Seine zu hohen ethischen Erwartungen führten auch Robespierre zum Exzess der Grausamkeit, veranlassten ihn dazu, Tausende von Franzosen hinrichten zu lassen. Reik rät, um den Exzess der Grausamkeit zu stoppen, die idealistischen Ansprüche zu senken, die unflexible Rigidität der Regeln aufzugeben und sie geschmeidiger werden zu lassen. Für ihn steht Jesus selbst mit seinen Ermahnungen zum Frieden am Anfang einer ethischen Bewegung, die genau das Gegenteil von dem produziert habe, was sie forderte. Innerhalb einer freudianischen Logik, so Derrida, gehe der kantischen Haltung eine unbewusste Schuld voraus, die dazu führen würde, eine derart rigoros gesetzte, kategorische Moralität einzufordern.
Aber auch die klassische Psychoanalyse wird einer Kritik unterzogen. So kommt Derrida beispielsweise am Ende, in der neunten Sitzung, nach einigen Ausführungen über Hegel und das Blut, noch auf Freuds Aufsatz Das Tabu der Virginität (1918) und das damit verbundene Motiv des weiblichen Penisneids zu sprechen. An dieser Stelle, wo Freud die Ursachen für die grenzenlose Aggressivität der Frauen erläutert hat, nimmt Derrida Stellung zur feministischen Debatte. Dabei lehnt er Freuds Thesen weder ab noch unterstützt er sie, sondern zeigt vielmehr ihren eigenwilligen und phantasmatischen Charakter auf. Die Enthauptung wird von Freud beispielweise als Kastration gedeutet, wobei er die dabei stattfindende Tötung zugunsten einer rein libidinösen Deutungsebene einfach unterschlägt. Auffallend, wenngleich auch nicht falsch sei auch, dass Freud insbesondere bei den emanzipierten Literatinnen den stärksten Beweis für einen ausgeprägten Penisneid vorgefunden habe. Allein schon die Verankerung des Penisneids in der Natur als der natürlichen Eigenschaft der Frau stellt ein Problem dar. Für Freud hat sich die Kräftedifferenz zwischen den Geschlechtern von Natur aus so entwickelt. Man kann sie demnach zwar verfeinern, sublimieren und kultivieren, aber im Grunde doch niemals ändern. Freuds Hellsichtigkeit resultiert aber dennoch aus einer scharfsichtigen Nachzeichnung der phallozentrischen, gesellschaftlichen Strukturen, womit sein Beitrag nicht zu gering einzuschätzen ist.
Die Baustelle, die Derridas Seminar vorführt, zeigt einen typischen Arbeitsausschnitt seines Spätwerkes, wobei viele der von ihm behandelten Theoretiker schließlich schon seit Jahrzehnten bei ihm auftraten. Der freie Umgang mit ihren Texten und die daraus resultierenden Lesarten sind verblüffend flexibel. Derrida bietet ohnehin nie endgültige Lösungen an. Vielmehr werden in einer lebendigen Diskussion die zahlreichen und oftmals gar nicht gesehenen Berührungspunkte zwischen den verschiedenen Perspektiven aufgezeigt. Hier gibt es keine Monolithen, sondern Netzwerke zu studieren.
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