Vom Auswärtigen Amt zur Reformschule

Angela Hartwigs Biografie „Der Pelikan“ berichtet sehr persönlich aus dem Leben Lina Richters

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lina Richter dürfte nur wenigen bekannt sein. Möglicherweise ändert sich das. Nun, ein wenig zumindest. Denn ihre Enkelin Angela Hartwig hat ein Buch über sie geschrieben. Da die Großmutter der Autorin laut Untertitel als Reformpädagogin, Politikberaterin und Frauenrechtlerin aktiv war, verspricht die Lektüre recht interessant zu werden. Von Vorteil ist zudem, dass Hartwig nicht nur Zugang zu öffentlichen Archiven hatte, sondern auch zu privat aufbewahrten Schriftstücken der Familien – wie etwa nicht weniger als 800 „in einem alten Schrank“ entdeckten Briefen. Die zahlreichen und oft ausführlichen Auszüge aus den Schreiben von und an Richter werden in der Regel unkommentiert wiedergegeben und reihen sich gelegentlich sogar über längere Strecken ohne Unterbrechung aneinander. Denn die Autorin möchte „über die zitierten Briefe die Akteurinnen und Akteure in Dialog miteinander treten lassen“. Im Text selbst wird oft nur kurz angegeben, wer ein zitiertes Schreiben verfasst hat. Über Näheres, also an wen es sich richtete, wann es geschrieben wurde und wo es sich heute befindet, informieren Endnoten. Neben schriftlichen Quellen zieht Hartwig gelegentlich auch mündliche Familien-Überlieferungen heran.

Das von der Autorin gezeichnete Bild ihrer Ahnin fällt insgesamt sehr persönlich aus, inklusive einiger Überhöhungen. So „erhebt“ ihr Buch dann auch „nicht den Anspruch, wissenschaftlich-akademische Studie zu sein“.

Lina Richter wurde 1872 geboren und wuchs mit mehreren Geschwistern wohlbehütet in einem mehr als gutsituierten Elternhaus in Berlin auf. Der von ihrem patriarchalischen Vater Benoit Oppenheim „arrangierte[n] Ehe“ mit einem Mann aus ebenfalls ‚höheren Kreisen’ widersetzte sie sich als junge Frau erfolgreich und begann mit 20 Jahren „ein eigenständiges Leben zu planen“.

Einige Jahre später verliebte sie sich in den Philosophen Raoul Richter, den sie 1898 heiratete. Aufgrund des erst in den 1950er Jahren endgültig abgeschafften Lehrerinnenzölibats musste sie ihre bis dahin ausgeübte Arbeit als Lehrerin aufgeben. Das Paar zog von Berlin nach Leipzig, wo es „gerne und regelmäßig Philosophen, Schriftsteller, Pädagogen, Intellektuelle vieler Wissensgebiete“ empfing. Lina Richter „inspirierte“ die Herrenrunde der Autorin zufolge „mit ihrer weiblichen Sichtweise auf die diskutierten Fragen“. Das klingt nicht eben so, als hätte sie als Gleiche unter Gleichen an den Gesprächen teilgenommen, sondern eher als wäre ihr die einer Muse analoge Rolle zugekommen.

1901 bot Raoul Richter „die in Deutschland erste Vorlesungsreihe über das Leben und Werk“ des kürzlich verstorbenen Friedrich Nietzsches an. Viele seiner Studenten „begeister[ten]“ sich für die „Ideen“ des bramarbasierenden Umwerters, die von ihnen „als Aufforderung zur sexuellen Befreiung, zur feministischen und homosexuellen Emanzipation [gedeutet]“ wurden. Angesichts solch einer gravierenden Fehlinterpretation stellt sich allerdings die Frage, was Richter seinen Studenten über die Lehren Nietzsches erzählte. Immerhin erklärte er selbst 1913 in einem Essay: „Mit der Bekämpfung der Emanzipation war es Nietzsche tiefer Ernst.“ Was er zwölf Jahre zuvor seine Studenten über Nietzsche lehrte, lässt sich in einem allerdings nur noch antiquarisch zu erwerbenden Buch nachlesen. Denn er publizierte die fünfzehn Vorlesungen 1903 unter dem Titel Friedrich Nietzsche. Sein Leben und Werk. Schon einige Jahre vor Richters Kolleg war Lou Andreas-Salomé mit ihrem Buch Friedrich Nietzsche in seinen Werken hervorgetreten, dass im Unterschied zu dessen Nietzsche-Buch noch heute bekannt und im Buchhandel zu erhalten ist.

Richter beschäftigte sich auch in seinen noch verbleibenden knapp zehn Lebensjahren weiterhin mit Nietzsche und nahm eine „wichtige Rolle als wissenschaftlicher Berater“ von Elisabeth Förster-Nietzsche ein, „zu der er einen engen brieflichen und persönlichen Kontakt pflegte“. Heute zählt diese Verbindung allerdings nicht mehr zu den besten Referenzen. Jedenfalls gehörte Richter von 1908 bis zu seinem frühen Tod 1912 dem Vorstand des von ihr geleiteten Nietzsche-Archivs in Weimar an.

Ungeachtet seiner Nietzsche-Verehrung zählte Raoul Richter „zu den fortschrittlichsten Männern seiner Zeit“ und stand der Frauenemanzipation keineswegs ablehnend gegenüber. Seine Ehefrau „schaffte es sogar, den Gatten zu überzeugen, in den Vorstand des 1904 in Leipzig gegründeten Bundes für Mutterschutz einzutreten“.  Wie aus dem vorliegenden Band weiter zu erfahren ist, gehörte auch Lina Richter selbst dem von Helene Stöcker imitinitiierten Bund an. Über ihr dortiges Engagement verrät die Autorin allerdings so gut wie nichts; allenfalls, dass sie dort „erste politische Gehversuche“ unternahm, wobei sie „von ihrem Mann [unterstützt]“ wurde. Zu den „enge[n] Vertraute und Ratgeberin[nen] in ihren politischen Anfangsjahren“ zählen zudem Ida Dehmel und Marie Baum. Dehmels Bitte, sich im Vorstand der Berliner Ortsgruppe des Vereins für politische Frauenarbeit zu engagieren, lehnte sie allerdings ab.

Zwar „erlebten Lina und Raoul wolkenlose Jahre“ und „[schienen] das perfekte Glück gefunden zu haben“, doch brachten ihn seine Versuche, zunächst die „Gedanken“ von Kierkegaard und Nietzsche „in Einklang zu bringen“ und mehr noch sein späteres, gleichgelagertes Unternehmen hinsichtlich des philosophischen Systems von Schopenhauer und Nietzsches oft aphoristisch aufscheinenden Ideen an den Rande seiner geistigen Gesundheit. Zuletzt mag auch eine Syphilisinfektion, die er sich als Student zugezogen hatte, zur Zerrüttung seines „Nervensystems“ beigetragen haben, wie die Autorin vermutet. Lina Richter blieb allerdings zeitlebens von einer Ansteckung verschont. Auch machte sich die Krankheit bei den Kindern des Paares nie bemerkbar.

Andernfalls wäre die Erfüllung von „Linas Lebenswunsch“, „das Mutterglück zu erleben“, wohl auch sehr getrübt worden. Sie brachte zwei Söhne und eine Tochter zur Welt und „[ging] in ihrer Rolle als Mutter vollkommen auf“. Noch als Erwachsene nannten ihre Kinder sie „Pelikan“. Denn in einem „mittelalterliche[n] Mythos“ werden den Wasservögeln Hartwig zufolge „die Tugenden Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft und des Familiensinns zugeschrieben“. Tatsächlich stehen sie in der christlichen Ikonographie von alters her für Jesus Christus und seinen Opfertod.

Nach dem frühen Tod ihres Gatten konnte Lina Richter nicht über den weiteren Werdegang ihrer Kinder entscheiden. Denn die damalige Rechtslage sah vor, dass fortan ein Vormund über das Wohl und Wehe der Familie bestimmte. In ihrem Fall war das ihr Schwager Reinhold Richter. Als ihr „Mentor“ aber nahm ein anderer die Stelle ihres Ehemanns ein: Richard Dehmel.

Zwar war Lina Richter der Autorin zufolge keine Pazifistin, doch habe sie Kriege „verabscheut“. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs zählte sie jedoch durchaus zur Masse der kriegsbegeisterten Deutschen. Da ihr Heimatland von „wie Hunde bellenden Völkern“ umgeben sei, sei es „jetzt das einzige Glück, opfern zu können“, zitiert Hartwig sie. Ihr Mann, so vermutete Richter, würde gerne in den Krieg gezogen sein, „denn er liebte, schon im Manöver, das Soldatenleben, und bewunderte die vollendete Organisation“.

Wie viele andere Feministinnen stellte Richter ihre „frauenpolitischen Aktivitäten“ nach Kriegsbeginn „in den Hintergrund“ und hat sie offenbar nach Kriegsende und auch überhaupt in ihrem weiteren Leben nicht wieder aufgegriffen.

Kurz nach Kriegsausbruch nahm sie eine Arbeit als Erzieherin in einem Kinderheim an, die sie jedoch nach nur einem Jahr wieder aufgab, um im September 1915 einem Angebot Kurt Hahns folgend eine Anstellung im Auswärtigen Amt des Kaiserreichs anzunehmen, wo sie Presseschauen zusammenstellte. Auf diese Weise übte Hartwig einen „weiblichen Einfluss auf die von Männern gestaltete Politik“ aus. 1917 wechselt Richter „in die Militärische Stelle des Ministeriums (M. A. A.)“ und stand nunmehr „im Zentrum der Macht“. Dort „verfolgt[e]“ sie „das Ziel des Verständigungsfriedens“. Überdies wurde sie zu einer „wichtige[n] Ratgeberin“ des Prinzen Max von Baden. „In den Geschichtsbüchern erscheint ihr Name dennoch häufig nur als Randnotiz – zu Unrecht“, klagt die Autorin.

Nach dem Krieg richteten sich Richters „Anstrengungen“ vergeblich auf einen Friedensvertrag, in dem Deutschland „nicht als alleinschuldige Macht gebrandmarkt werden“ sollte. Angesichts des Vertrags von Versailles beklagt sie, dass „eine Schar heißhungriger Ratten sich auf Deutschland […] stürz[t]“. Auch vom neuen Wahlrecht der Republik ist sie „nur mäßig überzeugt“, denn die „Sitzvergabe nach Listen“ sei ein „Krebsschaden“, da die „alten Partei-Bonzen“ auf die „aussichtsreichen“ Plätze kämen, wie Hartwig aus einem Brief Richters an Marie Baum zitiert.

Ende 1919 verließ Richter Berlin und zog mit Hahn an den Bodensee nach Salem, wo sie an einer im April 1920 gegründeten Reformschule als Lehrerin tätig wurde, an der die SchülerInnen „zu selbständig denkenden und handelnden Individuum erzogen werden“ sollten. Hartwig zufolge ein „Traum, den auch Lina Richter schon lange träumt[e]“. Ihr Schwager beklagte allerdings wohl nicht zu unrecht, die „viele[n] Regeln“ der Schule, die „nicht die geringste Bewegungsfreiheit“ zuließen. Und auch die Autorin konstatiert: „Was nach Freiheit klingt, bedeutet aber in der Auslegung viele Vorschriften, die die Salemer in ein enges Korsett zwingen“.

Die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur und die Nachkriegszeit werden von Hartwig – vielleicht auf Grund mangelhafter Quellenlage – nur recht kurz abgehandelt. Die aus einer jüdischen Familie stammende Lina Richter ging im Spätsommer 1933 ins Exil nach England und später nach Schottland. 1938 kehrte sie aber nach Berlin zurück, um bei ihrem ältesten Sohn zu sein, der sich weigerte Deutschland zu verlassen. Sie überlebte die Nazidiktatur, zog nach Kriegsende noch einmal für einige Jahre nach England und kehrte 1957 endgültig nach Deutschland zurück, wo sie 1960 starb.

Am ausführlichsten berichtet die Autorin über Richters Zeit während und nach dem Ersten Weltkrieg, in der sie im Auswärtigen Amt tätig war – was Hartwig zufolge durchaus rechtfertigt, sie als „Politikberaterin“ zu bezeichnen. Weit weniger ist in dem vorliegenden Band über ihre Tätigkeit als „Reformpädagogin“ und so gut wie nichts über ihr Engagement als „Frauenrechtlerin“ zu erfahren. Dass das Buch dennoch von einigem Interesse ist, ist vor allem den zahlreichen und oft ausführlichen Zitaten aus unveröffentlichten Briefen der Korrespondenzen etwa mit Ida Dehmel und Marie Baum zu danken.

Titelbild

Angela Hartwig: Der Pelikan - Das Leben der Lina Richter. Reformpädagogin, Politikberaterin, Frauenrechtlerin.
Vergangenheitsverlag, Berlin 2024.
320 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783864083181

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