Trägheit oder Szenen aus der Vita activa

Lothar Baier enthüllt, weshalb der angebliche Zeitgewinn durch moderne Kommunikationsmittel unmöglich ist

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Eigentlich hatte ich keine Zeit, dieses Buch zu lesen" - so beginnt eine Besprechung von Lothar Baiers Essay "Keine Zeit!" in der Zeitschrift "Listen". An Besonderheiten des Bandes kann sich der Kritiker offenbar nicht erinnern. Mit gerade einmal einem Satz bezieht sich die Rezension auf ihren Referenztext. Sollte das wirklich alles sein, was haften geblieben ist? Falls ja, dann schließen sich Baiers Diagnosen mit der an seinem eigenen Buch demonstrierten Leseerfahrung auf verhängnisvolle Weise kurz. Hätte sich der Mann die Zeit genommen und beispielsweise im Kapitel "Lesezeit, Schreibzeit" nachgelesen, so hätte ihm möglicherweise gedämmert, wo die Ursache einer derartigen Amnesie zu suchen ist.

Richtiges Lesen, das weiß Baier, zeichnet sich im Gegensatz zur flüchtigen Lektüre durch einen 'verschwenderischen' Umgang mit der knappsten aller Ressourcen aus. Es braucht Zeit zum Innehalten, Wiederholen, Vor- und Zurückspringen: "Bücherleser erleben Gegenwart und vergangene Zeit auf ganz bestimmte Weise, die ihnen erlaubt, etwas vom eigenartigen Wesen vergehender Zeit zu erfassen." Dabei dürfte der steigende Ausstoß an Lesestoff, die damit einhergehende Fragmentierung des Wissens und die Verwandlung der Drucksachen in seelenlose "E-Books" diese Fähigkeit wohl über kurz oder lang zunichte machen. Wichtiger aber scheint die These, dass die Schnelllebigkeit des Kulturbetriebs einen gegensinnigen Effekt hervortreibt: die Illusion einer Unbegrenztheit des eigenen Daseins.

Ist es womöglich seine Flüchtigkeit, die gerade das elektronisch abrufbare Wissen für uns so attraktiv macht und gewinnen wir aus ihr ein Bewusstsein von Unsterblichkeit? Wir blättern weiter, und zwar ins Kapitel "Lebenszeit absolut". Im Prototyp des modernen Individuums, heißt es dort, verschränken sich Lebenszeit und Weltzeit. Das Ende der eigenen Existenz soll die Dauer des Ganzen befristen. Darin gleichen sich für Baier Hitler, der trotz Ausrufung des 'Tausendjährigen Reiches' nie für dessen Fortbestand Vorsorge traf, die Anhänger der Kryonik (eines Tiefkühlverfahrens für menschliche Körper mit der Aussicht auf Wiederbelebung ihrer Besitzer in einer fernen Zukunft), die im Angesicht des nahenden Untergangs sich selbstmordenden Sekten und eine auf kurzfristige Amortisierung ihrer Investitionen bedachte Wirtschaft.

Wie aber erklärt sich die Paradoxie, dass gerade im Rücken von Beschleunigung und Individualisierung ein Echo, ein Anderes da ist, nämlich der Ruf nach Beständigkeit? Vielen gilt die Zeitnot und der daran gekoppelte Zwang zu immer stärkerer Selbstdisziplin als unvermeidliche Folge der sich beschleunigenden Prozesse in Technik, Wirtschaft und Gesellschaft. Daher rührt die tief sitzende Befürchtung, Zeit zu verschwenden, zu spät zu kommen oder den Anschluss zu verlieren. Unter den Bedingungen wachsender Komplexität, so tönt es von Elias bis Luhmann, wird Zeit knapp. Andere Stimmen meinen, dass man sich der allgemeinen Hetze verweigern und zu einer gemächlicheren und bewussteren Lebensführung zurückkehren müsse. Rasender Wandel scheint ebenso ein Symptom unserer Gesellschaft zu sein wie das Leiden an ihm.

Wer Lothar Baiers Essay aufmerksam gelesen hat, weiß jedoch, dass sowohl die Verlautbarungen der notorischen Fortschrittler und Innovatoren als auch die Kassandrarufe der Entschleuniger an der Oberfläche oder, präziser formuliert, an der 'Benutzeroberfläche' des Phänomens bleiben. Denn in diesem Buch geht es überhaupt nicht um die Diagnose von Beschleunigungserfahrungen oder um Verlangsamung. Vielmehr will der Autor zeigen, dass der Umgang mit diesen Kategorien nur dann einen Sinn macht, wenn man sie komplementär überbrückt. Leben wir heute wirklich schneller? Man denke beispielsweise daran, dass sich das Fortbewegungstempo des modernen Automobils mit Riesenschritten dem einer scheinbar hoffnungslos antiquierten Droschkenkutsche annähert und in größeren Städten wohl schon hinter diesem Gefährt zurückstehen muss.

Baier, der nicht von ungefähr immer wieder Auskunft bei den großen 'Antimodernen' sucht, vor allem bei Benjamin, besitzt ein ausgeprägtes Gespür für den mit den modernen Auf- und Überschriften betriebenen Etikettenschwindel. Ihn interessiert, was sich hinter dem verbirgt, was sich da so ostentativ und wortgewaltig in den Vordergrund spielt: "Mir scheint die 'Benutzeroberfläche', weit jenseits des Computerbildschirms, eine Schlüsselmetapher unserer gegenwärtigen Zivilisation zu sein." Der Blick auf den Bildschirm belehrt darüber, dass sich das, was sich auf der Ebene des Betriebssystems abspielt, und die diese Funktionen repräsentierenden Icons nicht das Geringste miteinander gemein haben, dem Nutzer aber trotzdem Zusammengehörigkeit suggerieren.

Baiers Buch geht darum der Frage nach, was aus dieser Entkoppelung für das Konzept der modernen Zeit folgt, oder besser, inwiefern dieses neu formuliert werden muss. So findet auf der farbenfrohen grafischen Oberfläche des PCs ein pausenloser Umbau statt. Anstatt verlässlichere und stabilere Programme zu entwickeln, blähen die Konzerne ihre Produkte lediglich auf. Trotz vermeintlich sich überschlagender 'Innovationen' bleibt alles beim Alten. Eine höhere Rechnergeschwindigkeit wird spätestens von der folgenden Softwaregeneration wieder absorbiert und in nervtötende Langsamkeit umgesetzt. Das Hauptmotiv, das viele Zeitgenossen zum Umstieg von der mechanischen Schreibmaschine auf den internetfähigen Rechner bewogen haben mag, nämlich der Zeitgewinn, geht zuschanden am tatsächlichen Aufwand an Zeit und Aufmerksamkeit, den wir auf das Gerät verwenden.

Zu Lasten welcher Qualitäten geht das gesteigerte Übermittlungstempo von Nachrichten? Abwesenheit des Empfängers, Heranreifen des Textes, Abwarten, Herbeisehnen - das waren einst die Stoffe, aus denen Briefe gemacht waren. Davon ist im kurzweiligen E-mail-Gestöber kaum mehr etwas geblieben. Zu sehr juckt es uns in den Fingern, noch den belanglosesten Gedankensplitter mit dem Befehl 'Send' zu versehen und über das Netz loszuwerden. Hinter solchen Gegenüberstellungen verbirgt sich keineswegs ein rückwärts gewandter, nostalgisch verklärter Blick auf eine untergegangene Epoche, sondern die Überzeugung, dass mit dem gewandelten Verhältnis zur Zeit sich auch der Charakter unserer 'zeitnah' produzierten Hervorbringungen verändert. Ein herkömmlicher Brief ist besser als sein elektronischer Nachfahre, da er möglicherweise besser durchdacht und in einem Zug heruntergeschrieben ist.

Vergleichbares gilt für die Bildung. Wissen kann unmöglich das sein, was wir uns aus der 'elektronischen Müllhalde' des Internet innerhalb von Sekundenbruchteilen auf unseren Rechner 'downloaden' können (wobei es, Hand aufs Herz, zumeist auch bleibt), sondern das, was wir uns im Laufe der Zeit aneignen. Wissen setzt voraus, dass wir Informationen selektieren, Wichtiges von Belanglosem sondern und so fort. Zeitnot, so scheint es zuletzt, wird durch Computer, tragbare Telefone und andere Taschenquälgeister überhaupt nicht beseitigt, sondern vielmehr erst erzeugt. Diese Geräte nehmen uns an die "Zeitkandare" - von der Auflösung des Mitgeteilten in schwatzhaften Klüngel und den damit in die Welt gebrachten Abhängigkeitsverhältnissen ganz zu schweigen.

Man kann ob dieser Feststellungen verständnislos seinen Kugelkopf schütteln und an hergebrachten Gewohnheiten festhalten oder man kann, wie Baier es tut, für einen durchdachteren Umgang mit der Technik plädieren. Vermutlich ist es sein kulturgeschichtlicher Background, der den Autor nicht verzagen lässt. Denn unter historischer Perspektive offenbart sich die Neigung, das augenblickliche Tempo der Welt für etwas Neues und ganz und gar Einzigartiges zu halten, in erster Linie als ein Bewusstseinsphänomen. Vergleicht man nämlich gegenwärtige und vergangene Beschleunigungen, so gelangt man unweigerlich zu dem Schluss, dass unsere modernen Zeiten so modern nicht sind. Was aber geschieht, wenn wir eines Tages erkennen, dass das, was uns antreibt, letztlich nicht notwendige und wichtige Entwicklungen sind, sondern gänzlich inhaltsleere Umwälzungen? "Im Mißverhältnis zwischen verspürten Leiden und nicht wahrnehmbarer Zweckbestimmung könnte eine Zeitbombe langsam scharf werden."

Mit 'benutzeroptischen' Täuschungen haben wir es Baier zufolge laufend zu tun, sei es angesichts des sich steigernden Tempos der politischen Reformen oder des Unumkehrbarkeit und Linearität vorspiegelnden Zeitpfeils der Physik. Beschleicht uns beim "lärmenden Schlendrian[]" der reformwilligen Republik das Gefühl eines leerlaufenden Stillstands, so verläuft unterhalb der physikalischen Oberfläche der richtungslose Fluss der sozialen Zeit. Dass die Dinge Zeit brauchen und diese durch benutzeroberflächliche Arrangements nicht wettzumachen ist, belegt Baier ferner für so disparate Themen wie Migrationsprozesse oder den Serbienkrieg. Dieser Krieg war weit entfernt davon, in das Gefüge unseres Daseins einzugreifen. Mit seiner kalkulierten Risikoscheu glich er weniger einer militärischen Operation als dem keimfreien Verkehr via Telefon.

Die nämliche Misere: Die Zeit, im bon moment oder in der Trägheit der biologischen Uhr mit einem unverwechselbaren Gesicht ausgestattet, wird entqualifiziert, Zeitdifferenzen zur globalen Universalzeit zusammengestrichen. Noch überzeugender wäre Baiers gescheites Buch zweifelsohne ausgefallen, wenn die damit angedeuteten Einsichten zur anthropologischen Proportion (dem inneren Maßverhältnis der menschlichen Existenz) noch vertieft worden wären. Wenn die Frage nach einer menschlichen Natur heute auch als hoffnungslos antiquiert gilt, so scheint unser psychophysischer Apparat auf der anderen Seite doch nicht so unbegrenzt 'lernfähig' zu sein, dass er durch die chronische Zeitverknappung keinen Schaden nehmen würde. So krankt der Depressive, heißt es in dem Kapitel "Nervenzeiten", vor allem an einer Beschädigung seines Zeitsinns.

Die Dinge liegen zwar im Argen, aber nicht so sehr, dass der Autor aus seinen scharfsichtigen Diagnosen nicht doch noch Funken der Hoffnung schlagen könnte. Wie die Semantik der Benutzeroberfläche geeignet ist, in der modernen Hektik ihren Widerpart, nämlich Trägheit und hintergründige Immobilität zu entdecken und kritisch auf nicht erfolgte Veränderungen hinzuweisen, so könnte sie umgekehrt daran mitwirken, das Leiden an der Tempo- und Aktualitätssucht abzuschaffen oder wenigstens zu mindern. Wenn uns heute an den rotierenden Benutzeroberflächen schwindelig geworden ist, dann sind die Überforderungserlebnisse, wie sie die Bevölkerungen hoch entwickelter Länder am Ende des 20. Jahrhunderts heimsuchen, auch 'benutzeroberflächlich' aus der Welt zu schaffen; "dann ist das Absurde an den Leiden [...], daß sie eigentlich unnötig sind".

Titelbild

Lothar Baier: Keine Zeit! 18 Versuche über die Beschleunigung.
Verlag Antje Kunstmann, München 2000.
224 Seiten, 16,40 EUR.
ISBN-10: 3888972493

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