Altägyptens phantastische Reise in die Postmoderne
Der sechste Band der Reihe "Archäologie der literarischen Kommunikation" widmet sich der 'mediengestützten Einsamkeit
Von Axel Schmitt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNach intensiver Durchdringung von Themen wie "Schrift und Gedächtnis", "Kanon und Zensur", "Text und Kommentar", "Weisheit" und "Geheimnis" (www.literaturkritik.de/txt/2000-01-52.html) hat sich die Arbeitsgruppe "Archäologie der literarischen Kommunikation" in ihrer jüngsten Veröffentlichung einem Thema gewidmet, das auf den ersten Blick - wie die Herausgeber in ihrem Vorwort hervorheben - "seinen Bezug zu Text und Sprache nicht so deutlich ankündigt und sehr viel allgemeinere anthropologische Fragen aufzuwerfen scheint". Gönnt man sich jedoch einen zweiten Blick, so wird man leicht erkennen, dass "Einsamkeit" zwar ein einschlägiges Thema der Literatur ist, ohne ein brauchbares kulturanthropologisches Arsenal an Fragestellungen jedoch nur unzureichend erfasst werden kann. In Texten wie dem biblischen "Hiob"-Buch, "Philoktet" und "Prometheus", Petrarcas "De Vita Solitaria", Hölderlins "Hyperion" und Hesses "Steppenwolf", um nur einige wenige zu nennen, erweist sich der literarische Text als Medium einer vielgestaltigen ethischen, religiösen und soziologischen Reflexion über die Einheit und Einsamkeit Gottes wie auch über die vielfältigen Formen mystischer Einsamkeit des Menschen.
Kultur als Text und umgekehrt Literatur in ihrer Eingebundenheit in den Gesamtprozess anthropologischer Reflexion und kultureller Sinnproduktion zu lesen, heißt daher vor allem, ein gemeinsames Feld abzustecken, das nur durch Disziplinen übergreifende Fragestellungen zu bearbeiten ist: Kultur ist ein Bereich, der ähnlich wie der Text, zu verschiedenen Lesarten aufruft. Die Ausbildung einer kulturanthropologischen Perspektive bedeutet daher für die Literaturwissenschaft eine Hinwendung auch zu Oralität, zu Fremdkulturellem, zur kritischen Selbstreflexion der europäischen Kultur und des europäischen Literatur- und Kulturverständnisses. Literarische Texte für ein Aushandeln vor allem der interkulturellen Differenzen im Wahrnehmen, Denken und Handeln in Anspruch zu nehmen statt sie auf Einheits- und Identitätsstiftungen zu verpflichten - darauf zielt eine kulturanthropologisch ausgerichtete Literaturwissenschaft, die verstärkt den Blick auf die Entstehungsbedingungen des Literarischen, die "poetogenen Situationen" richtet, in denen "typischerweise Dichtung im umfassendsten Sinne sprachlicher Artikulation menschlicher Grunderfahrungen ihren Ursprung hat". Die "Textualisierung" von Kulturen verweist stets auf den engen Zusammenhang zwischen den Formen menschlicher Selbstdefinition einerseits und den dafür benötigten Medien menschlicher Kommunikation andererseits. Für die Literaturwissenschaft bedeutet diese Kulturhermeneutik, dass auch und vor allem literarische Texte als Medien begriffen werden können, in denen bereits selbst verdichtete Formen anthropologischer Beschreibung und Kulturauslegung enthalten sind, oftmals verkleidet im Gewand der Fremderfahrung, selten als Kondensierung eigenen Erlebens. Kaum ein anderes geisteswissenschaftliches Großunternehmen der letzten Jahre hat es derart gut verstanden, den Begriff 'Literatur' aus den Fesseln positivistischer Selbstbespiegelung zu befreien, um ihn - im weitesten Sinne von "schriftlicher Überlieferung" (in Anlehnung an Geertz "thick description") - im Gesamtprozess anthropologischer Reflexion und kultureller Sinnproduktion zu lesen, wie die von Aleida und Jan Assmann 1979/80 auf den Weg gebrachte Entreprise "Archäologie der literarischen Kommunikation". Sie ist damit mindestens ein würdiger Nachfolger der Forschergruppe, die unter dem Namen "Poetik und Hermeneutik" über Jahrzehnte das geisteswissenschaftliche Profil in der deutschen Forschungslandschaft mitgeprägt hat.
Bereits im ersten Band der Reihe von 1983 werden Schrift und Gedächtnis als die wesentlichen Konservierungsmethoden vorgestellt, die das Vergessen unterminieren. Beide Medien eröffnen dabei spezifische Möglichkeiten der Orientierung und Aneignung von Welt. In exakt demselben Sinne lässt sich nun auch ein systematischer Zusammenhang zwischen 'Schrift' und 'Einsamkeit' herstellen, da die "Erfahrung der Vereinsamung eine typische Entstehungsbedingung von Literatur" darstellt. Einsamkeit erscheint als der prominente Ort einer anthropologischen Reflexion, an der die Literatur in besonderem Maße teilhat. Der erste Teil des Bandes versammelt daher Beiträge, die sich mit der Anthropologie und Phänomenologie der Einsamkeit beschäftigen. So beschreibt Thomas Macho Kulturtechniken der Einsamkeit vom Rosenkranz bis zum Walkman, die er im Rahmen einer "Technologie des Selbst" interpretiert, Tilman Borsche untersucht ausgehend von Heraklit, über die Stoa, Augustinus, Meister Eckhart bis hin zu Nietzsche, der bekanntlich den "Weg zu sich selbst" als den "Weg in die Einsamkeit" bezeichnete, die "Einsamkeit des Denkens". Dabei zeichnet er einen Weg nach, der seinen Ausgang von der Unsagbarkeit Gottes nimmt und in der Moderne bei der Ineffabilität des Individuums anlangt. Konsequenterweise ist 'Verstehen' nur über eine Verstehensfiktion möglich, so dass ein Einsamer weder "Selbst" noch "Welt" hat. Einen ähnlichen Ansatzpunkt wählt Walter Haug, in dessen Beitrag es um Einsamkeit als verordnete Isolation, als temporäre Abschirmung von der Gesellschaft geht.
Im zweiten und dritten Teil des Sammelbandes rückt die "Pathologie der Einsamkeit", ihre Nähe sowohl zur Verzweiflung als auch zum gesellschaftlich Bösen in den Mittelpunkt. Die Beiträger dieser beiden Abschnitte rekurrieren dabei auf einen grundsätzlichen Strukturwandel der Einsamkeit, der ursächlich mit der Genese des autonomen Individuums im Abendland zusammenhängt, eine Entwicklung, die Karl Jaspers unter die griffige Formel der "Achsenzeit" gestellt hat und damit auf eine weitgehende Synchronizität dieser Wandlungen in Ost und West zwischen 800 und 200 v. Chr. aufmerksam machen wollte: Visionen einer transzendenten Fundierung von Lebensordnungen und Deutungen, die von großen Einzelpersonen wie Konfuzius, Laotse, Buddha und Zoroaster, Mose und den Propheten, Homer und den Tragikern, Sokrates, Pythagoras, Parmenides, Jesus und Mohammad vorgetragen, von neuen intellektuellen Eliten aufgenommen und in einer durchgreifenden Umgestaltung der Wirklichkeit zum Tragen gebracht wurden. Löst man die optische chronologische Täuschung auf, so weitet sich der fragliche Zeitraum schnell vom 14. vorchristlichen bis zum 7. nachchristlichen Jahrhundert. Doch die Zeit ist diesem Phänomen offenbar nur äußerlich. Viel wichtiger ist die Erkenntnis, dass es sich hierbei um nicht weniger handelt als um die "Transformation von ritueller zu textueller Kohärenz" (Jan Assmann), die auf höchst natürliche Weise mit der sich ausbreitenden Schriftkultur ganz verschiedene, untereinander in mehr oder weniger lockerem Kontakt stehende Kulturen ungefähr zur gleichen Zeit erreicht hat. In dieser Zeit entstehen nicht nur die fundierenden Texte dieser Gesellschaften, sondern auch die kulturellen Institutionen, "mit deren Hilfe die normativen und formativen Impulse dieser Texte über die sich wandelnden Sprachen, Gesellschaftssysteme, politischen Ordnungen und Wirklichkeitskonstruktionen hinweg in Kraft gehalten und die Rahmenbedingungen eines Dialogs mit den Vorgängern über die Jahrtausende hinweg geschaffen werden" (Jan Assmann). Während nun die "vorachsenzeitlichen" Kulturen noch keinen positiven Zugang zur Einsamkeit kannten, geschah dieser Umbruch erstmals in Indien und dann in Griechenland, wo die Absonderung von der Gesellschaft nicht mehr als sozialer Tod gefürchtet, sondern als "notwendige Voraussetzung höherer Erkenntnis oder besonderer Gottesnähe gesucht und als eine Quelle charismatischer Weisheit und Heiligkeit" verstanden wurde. Frank Crüsemann zeigt anhand des Pentateuchs und der Psalmen, dass die Bundestheologie mit ihrem anthropomorphen Beziehungsgeflecht zwischen Gott und Mensch zwar keine Einsamkeit zulässt, wohl aber die latente Angst davor. Einsamkeit wird daher - anders als im griechischen Denken - vorwiegend negativ bewertet.
Auch die Assoziation der Einsamkeit mit dem Bösen gehört in den Zusammenhang einer negativen Bewertung derselben, wie Aleida Assmanns Untersuchung des literarischen Motivs des "einsamen Bösen" in drei Texten zwischen 1600 und 1800 (Shakespeares "Richard III.", Miltons "Paradise Lost" und Shelleys "Frankenstein") anschaulich zeigt. Während hier eine Kultur in den Mittelpunkt rückt, die für Individualisierung und Einsamkeit votiert hat und nun über die Grenzen dieser Entscheidung nachdenkt, beschreibt Moshe Barasch in seinem einleitenden Beitrag zum dritten Abschnitt ("Einsamkeit als Charisma") die grundsätzliche Ambivalenz der Einsamkeit, die auch unter den Bedingungen des neuen abendländischen Paradigmas, wo Einsamkeit der Selbst- und Gottessuche dient, nichts von ihrem Schrecken verloren hat. Barasch lenkt dabei verstärkt den Blick auf die Ikonographie der Einsamkeit und identifiziert zwei typische Motive, die zeitüberdauernd immer wieder begegnen: der Eremit vor seiner Höhle und der Eremit im Kampf mit den Dämonen.
Bernhard Lang verweist aus neutestamentlicher Sicht auf den Zusammenhang zwischen einer dualistischen Leib-Seele-Anthropologie und einer Neubewertung der Einsamkeit als Charisma, die einen wesentlichen prominenteren Ort besetzt als etwa im Judentum, das der Jerusalemer Kabbala-Forscher Moshe Idel in den Mittelpunkt seiner Analyse stellt. Erst mit Philo von Alexandrien und dessen Rezeption "therapeutischer" Axiome, Einsamkeit sei als eine Art mystische Technik zu verstehen, findet eine Umwertung statt. Unter Rekurs auch auf islamische Vorstellungen fand für jüdische Mystiker die "Behaftung" (devequt) mit Gott vor allem in der Absonderung von den Menschen statt. Im Unterschied zu christlichen und indischen Vorstellungen wird Einsamkeit - Idel zufolge - im jüdischen Denken als zeitweiliger Rückzug aus der Gesellschaft, nicht als selbständige Lebensform interpretiert. Wird bereits im dritten Teil Einsamkeit auch immer als Kulturtechnik verstanden, so kommt diesem Verständnis im vierten und letzten Teil des Sammelbandes besondere Aufmerksamkeit zu. Die "Einsamkeit des Schreibenden" dient Hinrich Biesterfeld (am Beispiel des syrischen Dichter-Philosophen Abu l-'Ala'), Peter von Moos (am Beispiel von Petrarcas Schriften "De Vita Solitaria" und "De Otio Religioso"), Horst Wenzel (am Beispiel des wunderbaren Dialogs Tomasins von Zerclaere mit seiner Schreibfeder) als Beispiel für den gleichsam innigen wie auch ambivalenten Zusammenhang zwischen Einsamkeit, Frömmigkeit und Schrift.
Martina Wagner-Egelhaaf konzentriert sich in ihrem Beitrag auf Johann Georg Zimmermann (1728-1795), Arzt und Verfasser eines vierbändigen Werkes "Über die Einsamkeit". Nach einer ausführlichen Gegenüberstellung orientalischer und okzidentaler Ansichten zum Thema Einsamkeit, ist es für Zimmermann evident, dass Einsamkeit unabdingbar zum Schreiben gehört, "weil sie durch Befreiung von den konventionellen Zwängen der Gesellschaft manches auszudrücken ermöglicht, was in Gesellschaft unsagbar wäre". Dies unterstützt der Beitrag von Hans-Jürgen Lüsebrink, der anhand exemplarischer Schriftsteller-Biographien aus dem Frankreich der Revolutionszeit die zwiespälige (dis-)konnektive Wirkung der Schrift skizziert. Abgeschlossen wird der insgesamt hervorragend gelungene Sammelband durch Raimar Zons' Überlegungen zur "Einsamkeit des Gedichts", die die "literarische Epoche" von Goethe bis Celan kennzeichne. Während im "Wissensdesign" der klassischen deutschen Philosophie das Unsagbare, Unaussprechliche, mithin das 'Schweigen' keine Rolle gespielt hat, beginnt mit Goethes "Tasso" und "Werther" die "Gabe" zu "sagen", was "nicht sich sprechen" (Derrida) lässt: das "beredte Schweigen der Literatur" (Geoffrey Hartman). Erst im späten 19. und dann verstärkt im 20. Jahrhundert finden sich beim späten Schelling, bei Schopenhauer, Kierkegaard, Nietzsche, Benjamin, Scholem und Heidegger Anklänge an die negative Theologie und die Sprache des Schweigens als "die andere Stummheit der tiefen Traurigkeit der Natur" (Benjamin). Adorno greift bekanntlich auf diese Überlegungen in seiner ästhetischen Theorie zur Rehabilitierung des Naturschönen zurück, doch zu voller Blüte gelangt die Vorstellung des Unsagbaren erst in Lyotards Ästhetik des Erhabenen, in Foucaults Theorie der Sprache des Schweigens und nicht zuletzt in Derridas Überlegungen "Comment ne pas parler". Für alle genannten Philosophen dient die Literatur (beginnend bei Mallarmé über Jabès bis zu Celan) als vorzügliches Medium im Zeitalter nach der Repräsentation. "Dichtung", so führt Zons plausibel aus, "kommuniziert mit negativer Theologie durch den Verzicht auf Repräsentation und durch jene Bewegung der Evokation und der Zurücknahme des Evozierten in den Glanz der Zeile, die mit dem Signifikant auch das Wort verlöschen läßt". Dass Literatur in religiöser, historischer und ästhetischer Hinsicht "trostlos" ist, zeigt Zons schließlich an Celans komplexem Gedicht "PSALM".
Auf der Reise von Altägypten bis in die Postmoderne begegnet, das illustrieren die einzelnen Beiträger des Sammelbandes auf recht anschauliche Weise, das Thema Einsamkeit in seiner ganzen Disparatheit und ambivalenten Ausleuchtung als eine stets 'poetogene Situation'. Die historische Dynamik von Individualisierungs- und Entindividualisierungsprozessen, von Konstruktion und Dekonstruktion des Subjekts lässt sich von menschlicher Kommunikation nicht trennen, greift sie doch gerade auf deren dauerhaftestes Medium zurück: die Schrift.
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