Hoffmann im Härtlingtest

Peter Härtlings Roman "Hoffmann oder die vielfältige Liebe"

Von Pia-Elisabeth LeuschnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pia-Elisabeth Leuschner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der neue Roman von Peter Härtling ist - ein neuer Roman von Peter Härtling, nicht mehr und nicht weniger. Romantische Biographien haben es Härtling bekanntermaßen angetan: nach Hölderlin, Lenau, Waiblinger, Schubert, Schumann jetzt eben Ernst Theodor Wilhelm "Amadeus" Hoffmann (1776-1822): Kammergerichtsrat, Schriftsteller, Komponist, Zeichner, Bühnenbildner, Regisseur, Musikkritiker, Alkoholiker, unersättlicher Liebhaber und vor allem großer Erzähler von Musik und des durch Wahnsinn gefährdeten Genies. Aus dieser faszinierenden Persönlichkeitsvielfalt fokussiert Härtling den Erotomanen Hoffmann und insbesondere dessen Bamberger Jahre (1808 bis 1814), in die zum einen die Geburt des Schriftstellers und zum anderen die Liebesbeziehung des damals 34jährigen verheirateten Theaterfaktotums zu seiner 14jährigen Gesangsschülerin Julia Marc fällt. Die anderen Lebensstationen erscheinen respektive als ,Vorspiel' dieser zentralen Phase oder als Fortwirken der in ihr geborenen Gedanken: Hoffmanns Kindheit in Königsberg, die Tätigkeit als Regierungsbeamter im von den Franzosen eingenommenen Warschau, die Hungerphase als Commis für den Berliner Musikverlag Härtel und dann - jenseits von Bamberg - die kurze, desaströs endende Anstellung als Musikdirektor in Dresden sowie die letzte Phase in Berlin, die gesicherte Anstellung als Jurist, bekrönt vom Erfolg der Oper "Undine", dem erst das Niederbrennen des Theaters am Gendarmenmarkt ein Ende setzt.

Härtling macht Julia Marc nicht ohne Fug zur entscheidenden Muse des Autors Hoffmann, zum Urbild all jener unerreichbaren Idealfrauen, die dessen Erzählwerk in so vielen Gestalten schildert. (Hoffmann selbst nennt die Geliebte in seinem Tagebuch, als erste Stilisierung und Tarnung vor den neugierigen Augen seiner Frau, "Käthchen" und spielt damit auf Kleists 1811 in Bamberg uraufgeführtes Drama an; im Wahn seiner erotischen Frustration erwägt Hoffmann sogar - nach Kleists Vorbild - den Doppelselbstmord mit Julia.)

Der Erzähler Härtling erklärt unverhohlen, was ihn an dieser Liebesbeziehung interessiert: "Ich wollte nicht die romantische Liebe erkunden, eher ein poetisches Phänomen, nein, ich wünschte mit Hoffmann in jene Ekstase zu geraten, die es nicht zulässt, dass das reale Bild der Geliebten dem gedachten gleicht." Dieses Anliegen, an der speziellen erotischen Phantasie Hoffmanns zu partizipieren, gibt dem Buch seine Schwüle, die sich auf der sprachlichen Oberfläche in nicht immer glücklichen Formulierungen manifestiert. Härtling lässt Hoffmann durch Stimmen erotisieren, ihn durch sie verführen, "den Körper der Stimmen zu streicheln, ihn an sich zu pressen, atemlos zu werden aus Sehnsucht". Hoffmann erscheint von diesen erotischen Reizungen umgetrieben, zudem besessen von der Manie, seine wenig einnehmende eigene Physis durch beständiges Rollenspiel bald zu verbergen, bald zu karikieren: ein "Zappler", wie ihn seine Frau und Geliebten ihn immer wieder nennen. Die einzige, die diesem Nimmerstillen emotionalen Halt zu geben vermag, ist zugleich die insgesamt plastischste Figur des Romans: Mischa, Hoffmanns polnische Frau, die seine Spitzfindigkeiten mit dem robusten Witz ihres gebrochenen Deutsch kontert, die den immer neuen Idealen Nachhetzenden mit ihrer handfesten Wärme erdet, die von seinen Wirtshaustouren weiß und sie ihm nicht nur nachsieht, sondern ihm ihrerseits noch ein Glas Rotwein bereithält.

Hoffmann selbst dagegen gewinnt (gemäß Härtlings Programm: "ich habe es längst aufgegeben, hinter jeder seiner Maskeraden eine Bedeutung zu suchen, [...] die gemeinte Person") primär in zersprengten Momenten seiner Selbstinszenierung Profil, in knapp-prägnanten Dialogen oder einzelnen eindrücklichen Szenenschilderungen: wenn er etwa auf einem Ball, Julia umwerbend, die "Geschichte vom verlorenen Spiegelbilde" zum Besten gibt oder bei einer Landpartie mit Julias Gatten in spe, dem prosaischen Hamburger Geschäftsmann Gräpel, jenen Eklat provoziert, der ihm ein Hausverbot im Hause Marc einträgt. Dass Härtling dabei, wie in seinen früheren Werken, auf eine Markierung der wörtlichen Rede durch Anführungszeichen verzichtet, fördert typographisch ein Verschwimmen von Figuren- und Erzählerperspektive, das dem Leser eine beständige eigentätige Ergänzung abfordert, um die Szenen präzise zu imaginieren. Aus dieser Verschmelzung des Erzähler- mit dem Figurenbewusstsein entstehen einige der einprägsamsten Metaphern des Buches: "Die Stille, die sich über beide [Hoffmann und Julia] senkt, hat einen knisternden Rand."; "Die Stadt schnurrt [in Hoffmanns Verliebheit] noch mehr zusammen."

Ob man diesen Roman insgesamt als Lesevergnügen empfinden wird, hängt somit maßgeblich davon ab, wie man sich zu der unablässigen Präsenz des Erzählers Härtling stellt. Schon im zweiten Satz des Romans nennt der sich in schöner Bescheidenheit vor seiner Hauptfigur: "Jetzt, zu Beginn, weiß ich mehr als er, doch es könnte sein, dass er am Ende mehr weiß als ich." Der Protagonist darf dann zwar im nächsten Satz auftreten ("Am 1. September 1808 [...] kommt Hoffmann in Bamberg an."), aber sofort lässt uns der Schreibende wieder seine eigene Zeitplanung spüren: "Aber bis dahin, bis Julia, nehme ich mir Zeit, hole ihn in Warschau ab" - eine schöne Geste des auktorialen Gastgebers. Der hat sich, wie er uns gleichfalls beflissen mitteilt, auf diese Rolle gut vorbereitet: "Seit Monaten lese ich in seinen [Hoffmanns] Werken... Ich bin ihm in seinen Tagebüchern gefolgt, habe seine Briefe gelesen." De facto führt dieses Recherchewissen dazu, dass die Figuren und Begebenheiten von Hoffmanns Biographie als angebliche ,Vorbilder' - tatsächlich als Nachempfindungen - seiner Erzählungen gestaltet werden und sich darin zu erschöpfen drohen. Zudem beschert die Hoffmann-Lektüre dem Erzähler die wichtigste Stilisierung seines eigenen Schreibens: "Lese ich ihn [Hoffmann], höre ich Musik." So bezeichnet Härtling Hoffmanns Erleben bald als "ein Arioso mit Zwischentönen" oder findet darin "eine neue Tonart und ein anderes Tempo - Andante." Dieser Metaphorik folgend, mag man auch das beständige Ineinander von Erzähler- und Figurenstimmen als ,Zweistimmigkeit', die wiederkehrenden Zitate aus "Undine" als 'Leitmotiv' und Härtlings Stil insgesamt, wie es sich inzwischen in Forschung und Kritik eingebürgert hat, als 'musikalisch' bewerten. Gemeint ist damit jedenfalls ein Erzählen, das seinen Gegenstand aus einer Art freier Szenenassoziation entstehen lassen will.

Wer von E. T. A. Hoffmanns Leben und Werk nichts weiß, wird das Buch möglicherweise um dieser Einzelszenen oder der erotischen Thematik willen genießen, aber viele der angedeuteten Hintergrundbezüge nicht verstehen. Wer sich dagegen auf die gesamte Komplexität von Genie und Wahnsinn, Erotik, Ideal und Musik im Werk dieses Multitalents einlassen oder von Hoffmann selbst mehr erfahren möchte, dem wäre entweder die Lektüre der detailsatten romantischen Originalwerke nahezulegen oder die materialreiche und stilsichere Biographie von Rüdiger Safranski (1992), in der die geistesgeschichtlichen, gesellschaftlichen und politischen Hintergründe von Hoffmanns Leben differenziert erhellt und die von Härtling unterprivilegierten Aspekte dieser schillernden Figur fassbar werden. Hiernach kann man Härtlings Buch als eine idiosynkratische Perspektive goûtieren.

Titelbild

Peter Härtling: Hoffmann oder die vielfältige Liebe. Eine Romanze.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001.
251 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3462029703

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