In den eigenen Umriss steigen...

Paul Nizons frühes Journal aus den Jahren 1961 bis 1972

Von Marion GeesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marion Gees

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gegen Ende dieses unlängst im Suhrkamp Verlag erschienenen Journals von Paul Nizon befindet sich eine längere Eintragung, die bereits auf die späteren überschwänglichen und sinnlich aufgeladenen Stadt-Beschwörungen dieses Autors verweist. Darin denkt der Tagebuchschreiber auf der Suche nach einer neuen Form-Fährte über das lose gestrickte Gerüst des in Paris spielenden Romans "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" nach. Als stimulierende Parallellektüren dienen ihm Benjamins "Paris - Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts" sowie Peter Szondis Ausführungen über Benjamins "Städtebilder". Und es ist kaum ein Zufall, dass Nizon kurz darauf bei einem Paris-Besuch eine euphorische Notiz festhält, beinahe so als ob er die Stadt der Städte endlich gefunden habe. Es ist eine Eloge auf diese "versammelte Verlockung der mit Lebenskunst erfahrensten Stadt der Welt", in der er sich einige Jahre später niederlassen wird und in der u. a. der Roman "Das Jahr der Liebe" und sein bemerkenswertes Paris-Journal "Die Innenseite des Mantels" entstehen. Und es ist das pathetisch aufgeladene Bekenntnis des Sich-Auslieferns an die Stadt, der man sich opfert; "se sacrifier: als Form des Erkennens".

Aber zurück zum Anfang dieser mit "Die Erstausgaben der Gefühle" betitelten Tagebuchaufzeichnungen, dessen Auswahl Wend Kässens aus einem Konvolut von über 1.000 Seiten zusammengestellt hat. Es sind zuerst noch die Städte Rom, Zürich und London, in denen der Autor seine freischwebende Schriftstellerexistenz und seine unruhige Suche nach der angemessenen Schreibweise immer neu auszuloten versucht. Die Jahre 1961 bis 1972, die das Tagebuch beleuchtet, bedeuten eine entscheidende Phase in der Entwicklung des Autors, die schließlich in eine erkämpfte, dezidiert künstlerische Existenz münden. Der 1929 in Bern geborene Paul Nizon hat 1959 seinen ersten Prosaband "Die gleitenden Plätze" veröffentlicht. Nach seinem Rom-Aufenthalt 1960 geht der promovierte Kunsthistoriker nach Zürich, wo er eine Stelle als Leiter der Kunstkritik-Redaktion der NZZ antritt. Bereits nach acht Monaten gibt er diese Stelle auf und beginnt mit der Niederschrift des Romans "Canto", der 1963 erscheint und in dem er seine Rom-Erfahrungen verarbeitet. Danach widmet er sich, neben regelmäßig Kunstkritiken, die er für "Die Weltwoche" und die "Zürcher Woche" schreibt, ausschließlich dem Erzählen. Er beginnt die Arbeit an dem Band "Im Hause enden die Geschichten", der 1971 erscheint und dem 1972 "Untertauchen" folgt, dessen Titel symptomatisch auf Nizons Ausstieg aus seiner beruflichen Existenz sowie auf das Ende seiner Ehe und seines Familienlebens verweist, die er als "eherne Zellen der Unterdrückung und Überwachung" empfindet.

Seine Auslandsaufenthalte sind zum einen eine Befreiung aus der eidgenössischen Enge und behalten zugleich immer auch etwas von dem Akt des Untertauchens. Sie werden zum Terrain der bewusst gewählten Isolation. So wird die Stadt einerseits zum Ort der Lebendigkeit und Freiheit und zugleich durchzieht etwa das Motiv der Billig-Absteigen, des "Schachtelzimmers" als Ort des kreativen und zugleich sinistren Rückzugs noch die späteren Paris-Texte. Mitte September 1967 geht Nizon nach London, wo er ein "Souterrainloch" bezieht, "mit den im Köfferchen eingepackten Schreibmaterialien (Notizen, Entwürfen, durchgeschriebenen Passagen, Plänen - Materialien eben...) weg von der Zürcher Verstrickung und ins Fremde, Neue, ins Ausland. In eine andere Stadt." Erst in der Fremde, im Unterwegssein vermag er um so prägnanter auch auf die Gefilde seiner Schweizer Heimat, auf seine Kindheit und Jugend zurückzublicken.

Zu den künstlerischen Vorbildern gehören Robert Walser und Vinzent van Gogh, über den Nizon dissertierte. Zu seinen Weggefährten gehören neben Max Frisch, zu dem er trotz oder gerade wegen der Unterstützung, die er von dessen Seite erhielt, zeitlebens ein ambivalentes Verhältnis hatte, vor allem Elias Canetti, den er regelmäßig trifft und der ihm mit seismographischem Spürsinn die in ihm verborgenen Möglichkeiten der Schriftstellerei vergegenwärtigt. Von diesen Begegnungen ist auch im Tagebuch in eindringlicher Weise die Rede. Es ist Canetti, der deutlich das besondere Erzähltalent Nizons erkennt. Er sei ein episch-lyrisches Temperament, auch elegisch.

Die Aufzeichnungen offenbaren vor allem auch Rückblicke auf den anfangs von der Kritik skeptisch aufgenommenen Gesang "Canto" - später ändern sich dann die Stimmen -, dessen ekstatisch-abgründige Besessenheit, dessen "wilde rhythmische sinnliche Passion", so Nizon selbst in einer Notiz, er offenbar verloren habe. "Ein sehr merkwürdiger Roman, mit fast nichts an die Wirklichkeit geheftet, mit fast nichts ausgekommen und drogensicher vorwärtsgeschritten mit Sätzen." So ist das Journal auch ein Dokument der unentwegten Suche nach einer angemessenen Erzählweise, des Schwankens zwischen linearer Geschichte oder einem monomanisch ich-bezogenen Schreibstil, schließlich das Dokument einer Suche, die aus einer Kränkung hervorging, und aus der heraus sich der Autor neu entwirft. Das Tagebuchschreiben, die Tagebücherei auch im Sinne des tagtäglichen ich-bezogenen Schreibens, wird zur leidenschaftlichen und zukunftsverheißenden Form erklärt. Die Ahnen, auf die sich der Autor beinahe unbescheiden bezieht, können sich sehen lassen: "Ein neues Gelände betreten also. Ich möchte jetzt schreiben können wie ein (besserer) Saul Bellow. Ich meine: eine grandios-rigorose Tagebücherei, frei, wild, zart, in eigener Sache, aber zeitdurchtränkt. Das heißt doch wohl Ich-Erzählerei, fabellos, in der Familie der Céline, Miller, Wolfe, aber auch Svevo und Walser?"

So endet dieses Tagebuch, dessen elegische und zugleich vehemente Tonlage nur gelegentlich durch einige klischeebehaftete und zu pathetisch vorgetragene Seinsfragen getrübt sein mag, mit einer vielversprechenden Aufbruchstimmung, die die vergangenen Verletzungen zu überwinden versucht. Es erweist sich schließlich als Dokument einer mäandernden Form- und Ichfindung: "Jetzt geht's in die Gegenwart, geht's ins Erzählen, in die Fiction." Hatte Nizon noch im Verlauf des Journals die Vergeblichkeit verdeutlicht, sich vor der Außenwelt zu behaupten, sich vor dem Nachbarn, dem Funktionär, den Redakteuren seiner Redaktion nicht "wie ein Würstchen" zu fühlen, so hat er im Laufe dieses Textes das Gegenteil seiner leicht bitteren Selbsteinschätzung unter Beweis gestellt. "Man kann gar nicht recht in den eigenen Umriß steigen", heißt es da einmal. Genau dieses Dilemma wird im weiteren Schaffen des Autors zu einer ins Produktive gewendeten und dem Wagnis des Erzählens zunutze gemachten Maxime. Zunehmend steigt der Autor - wie auch sein Erzählen - gerade durch seinen rastlos-suchenden Gestus in seinen ganz eigenen Umriss.

Titelbild

Paul Nizon: Die Erstausgaben der Gefühle. Journal 1961-1972.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
250 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3518413600

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