Der Nabel der Welt

Eines der komischsten Bücher der neueren deutschen Literatur - Georg Groddecks Roman "Der Seelensucher"

Von Ludger LütkehausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ludger Lütkehaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Selten so gelacht bei einem deutschen Buch - erstaunlich genug, weil doch die deutsche Literatur bekanntlich allenfalls das Reich des metaphysisch grundierten Humors, weniger des Witzes und schon gar nicht zwerchfellerschütternder Komik ist. Und dann kommt ein nach eigenem Bekenntnis "wilder Analytiker", schreibt einen psychoanalytischen Roman und mit ihm eines der komischsten Bücher der neueren deutschen Literatur. Kein Geringerer als Alfred Polgar wollte denn auch mit seiner großen Rezension im Berliner Tageblatt vom 20.12.1921 "einem Buch Leser gewinnen, das kaum seinesgleichen hat unter deutschen Büchern". Zu den "Patronen" des Romans zählte er Cervantes, Swift, Rabelais.

Nun, das ist sehr hoch gegriffen, auch wenn Italo Svevo, W. H. Auden, Lawrence Durrell, Henry Miller ebenfalls applaudierten. Aber man schicke die Figur eines unverwechselbaren Sonderlings, der es vom Wanzenjäger zum genialen Narren und närrischen Genie bringt, durch alle Sphären der Wilhelminischen Vorkriegsgesellschaft, lasse ihn vierter Klasse reisen, konfrontiere ihn mit Zoo- und Gefängnisbewohnern, mit Krankensälen und Kegelclubs, veranlasse ihn, den Nabel der Welt im Nabel der Frau zu suchen, und nenne das Ganze den "Seelensucher" - und schon hat man den neuen "Simplicissimus und Subtilissimus teutsch".

Sein Autor ist Georg Groddeck (1866 bis 1934), "Vater" der psychoanalytisch orientierten Psychosomatik, närrischgenial begabter Arzt, Vortragender, Erzähler, Freud hat von Groddeck nach der üblichen, nicht ganz stichhaltigen genealogischen Lesart den Terminus des "Es" als Bezeichnung für die unbewußten Triebprovinzen des Seelenlebens, für das "Unpersönliche und sozusagen Naturnotwendige darin" geerbt, und zwar aus dem "Buch vom Es", das demnächst im Rahmen der Groddeck-Werkausgabe ebenfalls neu erscheinen wird.

Neben dem "Seelensucher" und der Erzählung "Der Pfarrer von Langewiesche", einem an Kleists Michael Kohlhaas erinnernden und Kleists tragischen Lakonismus erreichenden frühen Text, liegen schon fünf weitere Bände vor. Die Georg-Groddeck-Gesellschaft firmiert als Herausgeber. Otto Jägersberg hat in der ungewohnten Rolle des Präsidenten ein brillantes Nachwort zum "Seelensucher" beigesteuert.

Nicht wir leben - wir werden laut Groddeck gelebt. "Es" lebt uns. Die neufranzösische Dekonstruktion des Subjekts hätte auch bei Groddeck ansetzen können. Allerdings liegt schon vor Groddeck und Freud eine weit zurückreichende "Es"-Tradition, die von dem Leibnizianer Georg Ernst Stahl über Karl Philipp Moritz und Lichtenberg, Sulzer und Lessing, Herder und Goethe, Mesmer und Carus, Jean Paul und Büchner, Schopenhauer und Eduard von Hartmann bis zu dem bei Groddeck allgegenwärtigem Nietzsche reicht.

Außerdem hat das "Es" bei Groddeck eine sehr viel weitere Bedeutung als bei Freud. Es reicht über das unbewußte Psychische ins Somatische: Es ist der Einheitspunkt, auf den Groddeck seine neue Wissenschaft gründet. Dahinter steht ein monistisches Weltbild, das sich besser mit Goethes Natur- und Nietzsches dionysischem Pantheismus als mit Freuds atheistisch-nüchternem Positivismus verträgt.

"Letzten Endes ist alles Gott", "Gottnatur", wie sie sich auch im menschlich-tierischen Trieb findet. "Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch" - Groddeck sagt es vor Benn, nur anerkennend. Ein psychoanalytischer Mystiker, wahrhaftig eine Rarität. Freud hat sich für die "Es"-Gabe mit der Gattungsbezeichnung des Untertitels "Ein psychoanalytischer Roman" revanchiert, Otto Rank, der Traumatiker der Geburt, den "Seelensucher" beigetragen. Ursprünglich trug das Buch den pseudonymen Namen des Helden: Thomas Weltlein alias August Müller. Wir befinden uns im Land der sprechenden Namen, der Müller Rosés wie bei Thomas Mann, der Anselm Kristleins wie bei Martin Walser.

"Der Seelensucher" - das ist ein angeblich von Goethe eigenhändig geschnittener Schattenriß. Er zeigt einen Mann, der auf der Weltkugel sitzt und ein "kleines nacktes Frauenzimmerchen" auf der Hand hält, dessen "Mittelstück" er forschend mit der Lupe betrachtet. Natürlich ist das obszön gemeint. Der auf den ersten Blick mit deutschestem Tiefsinn drohende "Seelensucher" färbt sich aus der Perspektive des "Mittelstücks" ironisch ein: Er ist erfüllt von der "heil´gen Gewißheit, daß die Menschen ihre Psyche zwischen den Beinen tragen und ihre Genitalien an jeder Stelle ihres Körpers und Geistes" (Alfred Polgar).

Seine Findigkeit im Deuten macht ihn zu einem wahren Trüffelschwein, durchaus mit dem Akzent auf "Schwein", obwohl er selber nie die praktische Probe auf seine Assoziationen macht. Die idealistische Variante der Psychosomatik, die sie - so Groddecks irreführende eigene Formulierung - als Lehre von der "psychischen Bedingtheit organischer Leiden" versteht, wird in Wahrheit verabschiedet. Alles wird aus dem einen sexuellen Punkt diagnostiziert. Das Leben ist eine somato-psychische "Parallelaktion", die Welt jedenfalls mit der seelensuchenden Lupe betrachtet, eine einzige gigantische Reiberei. Es wird der ewige Ruhm der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse bleiben, daß sie durch ihren Vorsitzenden Emile Oberholzer ernsteste moralische Bedenken gegen den "Seelensucher" anmeldete und auf Nichtauslieferung, gar ein Verbot drang. Die Psychoanalyse als moralische Anstalt betrachtet.

Indes würden die amoralischen Meriten noch nicht genügen, die umwerfende Komik dieses Buches zu erläutern, im Gegenteil: Was der "wilde Analytiker" Groddeck seinem manischen Helden an sexueller Idée fixe zuschreibt, könnte nach einem Jahrhundert trivialisierter Deutungsroutine auf die Dauer langweilen - und tut das gegen Ende des Romans auch. Da wird die Erotomanie zum Selbstläufer, vorhersehbar in den Pointen. Ein "jonglierendes Gehirn" erfreut sich einer "Geistesüberschwemmung", wie sie allenfalls für die Pionierjahre der Psychoanalyse verständlich ist. Eine gehörige Portion stramm-männlichen Casinowitzes mit den üblichen weiblichen Kostenträgern und ein gänzlich mißratener Ausflug ins literarische Preußentum zwischen Fontane und Courths-Mahler kommen störend hinzu. Eher durchsichtig auch die literarische Taktik des Autors: Er verschafft sich ein närrisch-geniales Sprachrohr, ohne den eigenen Kopf mitsamt "Mittelstück" hinhalten zu müssen.

Aber wie witzig, wie selbstironisch, wie souverän geht Groddeck mit dem neuen Stein des Weisen um! Er persifliert und parodiert zugleich, was bei aller Vorliebe für das penetrant hintersinnig Buchstäbliche nicht allzu wörtlich genommen werden will. Ein psychoanalytischer Roman, der zugleich schon die Psychoanalyse als Roman behandelt - so wie Freuds Krankengeschichten sich für ihn unverhofft als "Novellen" entpuppten. Das spricht weder gegen den Roman noch die Novellen. Es zeigt nur, daß die Psychoanalyse auch mit der Lust zu tun haben kann, indem man sich mit ihr über sie lustig macht.

Die Psychosomatische Parallelaktion, in der nach den Übertragungsregeln der Verdichtung und Verschiebung alles mit allem kopuliert, wird als Ansteckungsgeschichte glossiert: Anstecken können sich Körper und "Geist" nur als Nachbarn. Aber was sich dabei ergibt, geht weit über den eher bescheidenen Geistreichtum der Erotomanie hinaus. Schwarzgewandete Theologen infizieren sich berufsmäßig mit dem Demutsfieber. Bismarck ist so sehr von der Idee der Vasallentreue durchseucht, daß er das Aussehen einer preußischen Dogge bekommt. Nietzsches aggressiver Schnurrbart ist der haargewordene Wille zur Macht.

Wie weiland Don Quixote gegen Riesen und Windmühlen kämpft Thomas Weltlein am fulminanten Anfang des Romans, dessen surrealistische Färbung Kafkas "Verwandlung" ins hemmungslos Komische verwandelt, dank einer wohlausgebildeten Paranoia gegen alle Wanzen der Welt, um sie mit einem eingebildeten Scharlachfieber eigenhäutig zur Strecke zu bringen: "durch Nachtkampf zum Lichtsieg"!

So kann die Krankheit als Gewinn, die Welt von Weltlein wieder als die beste aller möglichen gefeiert werden. "Nur Narr, nur Dichter" - das ist die Maxime, nach der dieser edele Ritter von der heiteren Gestalt das weite Land der Seele mit der Lupe sucht.

Titelbild

Georg Groddeck: Der Seelensucher. Ein psychoanalytischer Roman.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M.und Basel 1998.
292 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3878774796

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