Annäherungen an einen "verklumpenden" Begriff

Peter Burke fragt "Was ist Kulturgeschichte?"

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von einer Kulturgeschichte des Döner Kebab darf man heute ebenso sprechen wie von einer Kulturgeschichte des Mittelalters oder einer Kulturgeschichte der Langlebigkeit usw. Diese Aufzählung von Ungleichartigem lässt sich beliebig fortsetzen. Rechenschaft darüber, was mit Kulturgeschichte jeweils gemeint ist, wird selten erwartet. Die Flexibilität des Begriffs lädt zu vielfältigem Gebrauch ein. Schon seine beiden Bestandteile sind kaum verbindlich zu definieren. Jede Diskussion darüber, was Geschichte eigentlich ist, führt ins Uferlose, und kaum anders verhält es sich mit Kultur, obwohl es nicht an Definitionsangeboten fehlt. Bei dem Versuch, sein Fach vorzustellen, lässt der renommierte englische Kulturhistoriker Peter Burke einige Revue passieren.

Sehr allgemein ist die Definition, der zufolge Kultur alle überkommenen Artefakte, Güter, technischen Prozesse, Ideen, Bräuche und Werte umfasst. Das läuft darauf hinaus, dass zur Kultur alles gehört, was nicht Natur ist, und die Kulturwissenschaft sich allen Phänomenen widmet, die nicht in den Bereich der Naturwissenschaft fallen. Deswegen ist es möglich, dass Disziplinen, die sich früher als Geisteswissenschaften begriffen, heute als Kulturwissenschaften firmieren, eine Möglichkeit, von welcher u. a. viele Literaturwissenschaftler gerne Gebrauch machen. Aber trotz ihrer Weite ist die Definition unzureichend, weil sie die Aspekte von Praxis und Kommunikation vernachlässigt. Ihnen versucht eine subtilere, in weiterem Sinne soziologische Definition gerecht zu werden, die Kultur als ein geordnetes System von Bedeutungen und Symbolen versteht, vermittels dessen gesellschaftliche Aktion stattfindet. Der Blick wird weggelenkt von der eigentlichen Beschaffenheit des Gegenstandsbereichs hin zu dessen sozialer Funktion, was aber wenig daran ändert, dass vielerlei Dinge zusammengeworfen werden und wir es mit einem "verklumpenden Ausdruck" zu tun haben.

Zwar referiert Burke solche und andere Definitionen, vermeidet jedoch eine Festlegung und begnügt sich in der Hauptsache mit der Vorstellung dessen, was in den vergangenen anderthalb Jahrhunderten der Kulturgeschichte, und mithin der Kultur, subsumiert wurde. Am Anfang stand die Beschäftigung mit der hohen Kultur, und als Begründer des Fachs darf Jacob Burckhardt mit seiner "Kultur der Renaissance in Italien" und seiner "Griechischen Kulturgeschichte" gelten. Sein Bemühen, den Geist einer Epoche und einer Nation zu ergründen, bietet neuerdings wieder Anknüpfungspunkte, wie Burke in dem Abschnitt "Burckhardts Rückkehr" andeutet. Diese Rückkehr zur Hochkultur ist vielleicht zu begrüßen als ein Korrektiv zu den ausufernden so genannten "Cultural Studies", die sich bewusst gerade nicht der einen geistbetonten Kultur der Eliten widmen, sondern den verschiedenen Alltagskulturen der Gesamtbevölkerung. Heute läuft in der Kulturgeschichte vieles nebeneinander her, und die Spannweite zwischen elitärer und populärer Kultur ist noch vergleichsweise gering angesichts der Spannweite zwischen einer Kulturgeschichte, die beim Konkreten bleibt, und kulturgeschichtlichen Arbeiten über abstrakte Themen wie z. B. Angst, Armut und Gewalt. Die Vielfalt ist auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen, und man kann Burke nur zustimmen, wenn er Fragmentierung beklagt und befindet: "Die Definition von Kultur, die einst zu eng war, muss inzwischen als zu weit angesehen werden."

Die Kulturgeschichte partizipiert an vielen Nachbardisziplinen - die Bedeutung der Anthropologie muss besonders hervorgehoben werden - und lässt sich bereitwillig von den wechselnden wissenschaftstheoretischen Strömungen treiben. Entsprechend zahlreich sind die von Burke erwähnten Namen und Buchtitel. Von Jan Huizinga über Aby Warburg, Norbert Elias, Michail Bachtin, Thomas S. Kuhn, Jürgen Habermas, Clifford Geertz, Carl E. Schorske bis hin zu Pierre Bourdieu und Michel Foucault ist so ziemlich alles vertreten, was Rang und Namen hat. Da so viele genannt werden, fällt es besonders auf, wenn jemand ungenannt bleibt: Obwohl sich ein Abschnitt mit der "Geschichte des Gedächtnisses" befasst, fehlt ein Hinweis auf Jan Assmann. Burke legt den Schwerpunkt auf die angelsächsische Forschung und scheint mit der neueren deutschen Kulturwissenschaft weniger vertraut zu sein.

Geringfügige Lücken ändern nichts daran, dass nicht ein Zuwenig, sondern ein Zuviel zu beklagen ist und der Darstellung eine klare Linie fehlt. Sie scheitert an der verklumpten Masse des Gegenstands und wirkt selbst unstrukturiert. Obwohl in Details informativ und anregend, ist das Buch als Ganzes wegen seiner Konturlosigkeit schwer genießbar. Das ist die negative Kehrseite einer an und für sich sympathischen Selbstbescheidung des Autors, der auf eigene strukturierende Akzente weitgehend verzichtet und eher einen Forschungsbericht in Stichworten bietet als eine die Fülle komprimierende Einführung.

Burke regt eine Kulturgeschichte der Kulturgeschichte an. Eine solche Selbstreflexion könnte mehr sein als ein modisches Liebäugeln mit der Metaebene; sie könnte klären helfen, wie es zu der Überdehnung des Fachs gekommen ist und ob man ihr entgegentreten oder sie im Interesse größtmöglicher Offenheit in Kauf nehmen sollte. Sobald das Fach mehr bieten will als eine Beschäftigung mit der Hochkultur, wie sie das Bildungsbürgertum begriff, ist es starken politischen und sozialen Einflüssen ausgesetzt, auf die es reagieren muss. So sind z.B. die "Social Studies" eine Reaktion auf die politische Entwicklung in England nach dem Zweiten Weltkrieg, und die Etablierung der "Postcolonial Studies" ist ein Versuch, mit der unbewältigten Hinterlassenschaft des Imperialismus fertig zu werden. Die Globalisierung und die weltweite Migration bescheren nicht nur das Konzept der Multikulturalität, sondern bergen daneben die unkalkulierbaren Gefahren des "Clash of Culture" und verschaffen der Kulturgeschichte brisante Aktualität. Selbst Politikwissenschaftler werden von Burke als Zeugen dafür aufgerufen, dass die kulturellen Unterschiede in der heutigen Welt wichtiger seien als die politischen und ökonomischen. Träfe das zu, würde das einseitige marxistische Modell von Basis und Überbau noch fragwürdiger als es heute ohnehin ist, und die Wirtschaftsgeschichte träte einen Teil ihrer Relevanz an die Kulturgeschichte ab.

Doch nicht allein von außen herangetragene Fragestellungen machen das Gebiet der Kulturgeschichte buntscheckig, sondern auch ein im Wissenschaftsbetrieb zu beobachtender Konkurrenzmechanismus: Ein neuer Gegenstand oder eine neue Methode sind für eine jüngere Generation oft nur der Vorwand, um sich gegenüber einer älteren abzugrenzen und deren Platz an der Sonne zu beanspruchen. Manches Feld, das langfristig zu beackern lohnend gewesen wäre, wird vorschnell verlassen, und es herrscht die Neigung, das Vorausgegangene abzuwerten. Burke konstatiert ironisch: "Diese Konkurrenten oder 'Kinder', wie wir sie nennen könnten, übertreiben gern den Unterschied zwischen ihren eigenem Ansatz und dem ihrer Väter und Mütter, so dass oft erst die nachfolgende Generation erkennt, dass ihre intellektuellen Großeltern letztlich doch zu gewissen Erkenntnissen fähig waren." Eine wissenschaftliche Publikation ist natürlich nicht der Ort, auf diesen Konkurrenzkampf und seine Netzwerke näher einzugehen; sie könnten den Stoff abgeben für einen von einem Insider wie Burke geschriebenen satirischen Campus-Roman.


Titelbild

Peter Burke: Was ist Kulturgeschichte?
Übersetzt aus dem Englischen von Michael Bischoff.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
203 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3518584421

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