Wir lieben Gewalt

In seinem Essayband „Helden und andere Probleme“ untersucht Jan Philipp Reemtsma unsere Faszination für Helden und Gewalt

Von Erkan OsmanovićRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erkan Osmanović

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es wird eine Saite in uns zum Klingen gebracht, wenn wir im Kinosaal sitzen und die Geschichte von Bruce Wayne oder Clark Kent verfolgen. Sie nehmen das Gesetz in die eigene Hand, töten Kriminelle, zerstören dabei Straßen, Gebäude oder Züge und werden dafür auch noch gefeiert, ja, sogar bewundert. Ihre Gewalt löst aber auch Unbehagen in uns aus. Doch woher kommt dieser Zwiespalt? Woher die Diskrepanz zwischen der Ablehnung von Gewalt in unserer Gesellschaft und der Faszination für Heldentaten? Werden nicht bloß unsere niederen Instinkte angesprochen?

Nachdem er eine Verbrecherbande ins Gefängnis gebracht hatte, heiratete Will Kane Amy Fowler. Nun ist Kanes Zeit als Sheriff vorbei. Die Hochzeitreise soll der erste Schritt ins neue Leben sein. Kaum sind die Eheringe ausgetauscht, erreicht Kane ein Telegramm: Frank Miller und seine Männer kommen zurück nach Hadleyville – die Bande will Rache. Was soll Kane nun machen? Gehen oder bleiben? Die Stadt im Stich lassen? Doch er hat keine Zeit für Bedenken. Die Hochzeitsgäste drängen ihn zu gehen. Sein Nachfolger werde sich der Sache annehmen. Schließlich gibt Kane nach. Amy und er steigen in ihre Kutsche und machen sich auf Richtung Privatleben. Mitten im Niemandsland bringt Kane die Pferde zum Stehen. „It’s no good. I’ve got to go back, Amy“, sagt er und kehrt um. Zurück in Hadleyville will Kane Helfer rekrutieren. Zusammen wäre es ein Leichtes, die Ganoven zu besiegen. Doch die Stadtbewohner weigern sich, dem Sheriff zu helfen. Schließlich stellt er sich den Verbrechern allein. Und er ist – vor allem durch die Hilfe seiner Frau, die den letzten Schuss abgibt – erfolgreich. Nach dieser Tat brechen Kane und Amy erneut zur Hochzeitsreise auf. Doch bevor sie die Stadt verlassen, wirft Kane den Stadtbewohnern seinen Sheriff-Stern vor die Füße. Niemand hatte ihm geholfen. Er alleine musste die Stadt beschützen.

Sind die Stadtbewohner in dem bekannten Western High Noon (1952) also nichts weiter als Feiglinge? Kane, gespielt von Gary Cooper, also zu Recht angewidert? Nein, erklärt Jan Philipp Reemtsma: „Der Bürger hat das Recht und Privileg, kein Held zu sein. Er darf auch ein Feigling sein.“ Doch der Held handele, so Reemtsma in seinem Essay Dietrichs mißlungene Brautwerbung. Über Heldengeschichten, aus eigener Verantwortung und eigenem Antrieb.

Denn ein Held kämpft keinesfalls für eine gute Sache, „sondern nur für sich und allenfalls seinen Ruhm“, attestiert Reemtsma in seinem neuesten Buch Helden und andere Probleme. In dreizehn Essays betrachtet der Philologe und Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung neben Heldengeschichten und -schicksalen – sei es der Western Der Mann, der Liberty Valance erschoß (1962) oder Achill in der Ilias –auch unser modernes Unbehagen mit dem Phänomen Gewalt.

Während wir Brad Pitt, der im Film Troja (2004) Achill spielt, voller Begeisterung dabei zu sehen, wie er Körper durchbohrt, Gliedmaßen abtrennt und Köpfe einschlägt, sind wir abgestoßen, wenn wir lesen, dass ein Mann im vergangenen Jahr einen anderen auf offener Straße mit einem Messer attackiert hat. Der Held ist brutal. Und doch ist da etwas, das uns beim Lesen antiker Heldensagen befällt. Abscheu? Vielleicht. Verständnis? Eher nicht. Und doch lässt dieses Bild vom alles ignorierenden Helden, der allein für sich selbst bestimmt, wer sterben muss und wer weiterleben darf, uns nicht kalt. Er müsse gewalttätig sein, so Reemtsma in dem Text »Mother don’t go!« Der Held, das Ich und das Wir, ansonsten würde ihm unsere Begeisterung nicht zuteil. Helden leben aus, was wir verdrängen würden:

Der Held ist jemand, der seinen Narzißmus in einem Maße lebt, das der Alltag normalerweise nicht zuläßt (und vor allem: uns nicht gestattet, und das von uns im Alltag selten anderen gestattet wird.) Der Held ist jemand, der dennoch Anerkennung, Bewunderung, Liebe erhält, ja zum Übermenschen (»Heros«) verklärt wird. Nicht trotz, sondern wegen seines Narzißmus, dessen Ausleben wir in unschuldiger Bewunderung ansehen können und der in uns die […] Saite zum Klingen bringt, weil er einen a-sozialen Trieb als Antrieb für Handlungen nützt, die sozialen Tugenden entsprechen.

Den „a-sozialen Trieb“, diese Attraktivität des Auslebens von Gewalt, wollen unsere modernen Gesellschaften nicht wahrhaben. In dem Essay Gewalt – der blinde Fleck der Moderne konfrontiert uns Reemtsma mit einem Trugschluss und frommen Wunsch: Die Menschheitsgeschichte bewege sich keinesfalls hin zu einem friedlicheren Zusammenleben ohne Gewalt. Denken wir nur an die jüngste Vergangenheit, so Reemtsma, würde uns bewusst, wie viele Gewalttäter mit Genuss andere Menschen verletzen oder gar töten.

Bei seinen Ausführungen hat Reemtsma kein Interesse an soziologischen oder psychologischen Erklärungsmustern für Gewalttaten. Er wolle sich der gewalttätigen Lebensform und ihrer Attraktivität banal nähern. Neben moralischen Motiven (mit Blick auf eine „gute Sache“) oder ästhetischen Gründen sei Gewalt immer noch ein Weg, die eigenen Ziele zu erreichen – sei es um fremdes Eigentum in Besitz zu nehmen, Nebenbuhler zu beseitigen oder eine neue Staatsordnung zu etablieren. 

Die Essays sind klug und präzise. Reemtsma gelingt es, seine kulturwissenschaftlichen Überlegungen anschaulich zu präsentieren. All die Bezüge zu Film, Musik und Literatur tun ihr Übriges, um Helden und andere Probleme zu einer lohnenswerten Lektüre zu machen.

Titelbild

Jan Philipp Reemtsma: Helden und andere Probleme. Essays.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020.
300 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783835338326

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