Lern- und Erfolgsgeschichten

Die Historikerin Hedwig Richter beschreibt „Demokratie“ als „deutsche Affäre“

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über Demokratie nachzudenken, gibt es viele und gute Gründe. In Zeiten wie diesen zumal, in denen ein anschwellendes Gerede zu vernehmen ist über die Krise und den Bedeutungsverlust des Westens, der transatlantischen Beziehungen und multilateralen Regelwerke, der demokratischen Ordnungen und Regularien. Über Jahrzehnte hinweg gehörte die Synchronisierung von Marktwirtschaft und Demokratie zu den unzweifelhaften Glaubenssätzen, bis sich nicht mehr leugnen ließ, dass auch repressive Diktaturen, die sich keinen Deut um individuelle Freiheiten und Menschenrechte scheren, sich ökonomischer Prosperität erfreuen und technologische Innovationsdynamik entwickeln können. Ein Blick nach China liefert dafür das nötige Anschauungsmaterial. 

Allenthalben in den Nationen der westlichen Hemisphäre regt sich Protest, und zwar nicht nur punktuell gegen einzelne Missstände und Unzulänglichkeiten, sondern prinzipiell gegen das politische System als solches. Die Fliehkräfte an den linken und rechten Rändern sind stärker geworden, ein zur Selbstermächtigung neigendes Wutbürgertum, eine neue fluide Sozialformation, erhält hier und da mächtigen Zulauf, glaubt sich nicht mehr an Spielregeln halten zu müssen und berauscht sich an wohlfeilen Parolen. Nicht nur dies steht für einen gewissen, bisweilen dramatischen Verlust an Legitimation. Überlieferte, von der Verfassung gestützte Verfahrensweisen, Institutionen und deren Vertreter werden in Misskredit gezogen. Ihnen schlagen Skepsis und Vorbehalt entgegen. Unübersehbar sind Risse, Spaltungen und Antagonismen; der Kompromiss, das Lebenselixier der Demokratie, ist unter Verdacht geraten. Der in die Welt hinausgeschriene Satz: „Wir sind das Volk“ zeugt von tiefem Unverständnis dessen, was Demokratie ausmacht und wie sie funktioniert. Forderungen nach direkter Partizipation, ohne den Umweg über die Parlamente, treten in Konkurrenz zum Modell der Repräsentation in Form gewählter Körperschaften. Kurzum, so mag es unbefangener Beobachtung scheinen, die Demokratie westlichen Zuschnitts bewegt sich in stürmischen Gewässern und muss aufpassen, nicht über Bord gespült zu werden.

In einer solchen Lage kann der Versuch, sich der eigenen Traditionen und Werte zu vergewissern, nicht schaden. Ein Buch, das Aufschluss über die „Demokratie“ verspricht und diese medienwirksam als „Affäre“ ausruft, darf daher von vornherein mit Aufmerksamkeit rechnen. Hedwig Richter, Professorin an der Bundeswehrhochschule in München, erläutert Genealogie, Gefährdungen und Potentiale am Beispiel Deutschland. Dazu greift sie tief in die Vergangenheit. Ihre Geschichte lässt sie beginnen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, fast möchte man sagen: so wie sich das gehört mit Frankreich, mit der Überwindung des Absolutismus durch die Revolution von 1789, mit dem Ideal des mündigen Bürgers, von dem die Philosophen, Schriftsteller und Publizisten träumten. Allmählich sickerte dies in die bürgerlichen Schichten ein. „Politische und bürgerliche Freiheit bleibt immer und ewig das heiligste aller Güter“, gab im Juli 1793, kurz bevor in Paris der jakobinische Gleichheits- und Erlösungsfuror seinen Lauf nahm, Friedrich Schiller dem Herzog von Augustenburg zu bedenken. 

Ehe das in Deutschland praktisch werden konnte, bedurfte es der hegemonialen Ambitionen Napoleons. Die Reformen in Preußen waren, was die Autorin ruhig deutlicher hätte markieren sollen, ein Kind der militärischen Niederlage, dargebracht von oben, von den Eliten, nicht jedoch erkämpft von unten, vom Volk. Umstritten waren sie ohnehin, stießen auf den erbitterten Widerstand der Aristokratie, und bis zu einer Verfassung, welche die monarchische Herrschaft wirksam eingehegt hätte, drang man gar nicht erst vor. Immerhin, den Städten wurde Selbstverwaltung gewährt, die Gutsuntertänigkeit der Bauern (nicht die „Leibeigenschaft“, wie Richter schreibt) wurde beseitigt, den Juden wurde, wenngleich eingeschränkt, die bürgerliche Gleichstellung gewährt. Aber Demokratie im heutigen Sinne wuchs daraus nicht hervor, war auch nicht im Horizont der damaligen Akteure. Denn deren Streben war darauf gerichtet, einige Elemente der Französischen Revolution zu adoptieren, um die Monarchie zu stärken, zu revitalisieren, den unvermeidlichen Wandel einzuhegen und zu steuern. Wenn schon Revolution sein solle, ließ Jahrzehnte später Otto von Bismarck wissen, wolle er sie lieber machen als erleiden. Das war das Konzept einer Revolution von oben, das in bemerkenswerter Kontinuität die deutschen Dinge bis ins 20. Jahrhundert hinein bestimmte.

Diese Art der Kontinuitätshistorie ist die Sache der Autorin nicht. Sie bevorzugt eine andere, gegenläufige, sucht nach Wurzeln demokratischer Traditionen, wie das weiland bereits von Bundespräsident Gustav Heinemann angeregt worden war. Das Interesse richtet sich auf die Kontinuität demokratischer Ideen, Konstellationen und Entwicklungen. Daraus destilliert Hedwig Richter – aufs Ganze gesehen – eine Geschichte in aufsteigender Linie. Das nimmt seinen Anfang mit der von Reinhart Koselleck so genannten „Sattelzeit“ zwischen dem letzten Drittel des 18. und dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, mit jenen Jahrzehnten des Wandels, der teils als länger währender Prozess, teils in Gestalt abrupter Um- und Abbrüche daherkam. 

Viel Wert legt Hedwig Richter dabei auf die Rolle der Emotionen, hier vor allem des Mitleids mit den Armen, auch auf die Integrität des Körpers, auf die Verpflichtung des Staates zu seinem Schutz und die Garantie seiner Unverletzlichkeit. Das wurde zwar vielfach missachtet, Gewalt in den politischen Auseinandersetzungen verflüchtigte sich nicht, weder damals noch heute, aber die Geschichte der Körper und der Emotionen mit der der Demokratie zu synchronisieren, weitet den Blick, ist zudem ein ausgesprochen moderner, ambitionierter Ansatz. Man wolle „Eifer und Liebe für die öffentlichen Angelegenheiten“ wecken, hieß es im Kreis der preußischen Reformer. Die Bürger sollten sich die Angelegenheiten des Staates anverwandeln, waren aufgefordert, daran mit Herz und Seele zu partizipieren, ihr Schicksal mit dem Wohlergehen des Gemeinwesens zu verschmelzen. Voraussetzung dafür waren Bildung, Urteilsfähigkeit und wirtschaftliche Unabhängigkeit. Insofern war das Projekt der Reformer zugleich ein Erziehungsprojekt. Der Staat, zitiert die Autorin Wilhelm von Humboldt, müsse mit Hilfe zweckdienlicher Einrichtungen „die Bürger in Stand setzen, sich selbst zu erziehen.“

Für die Zirkulation demokratischer Ideen, die sich im Vormärz beschleunigte, sorgten Journalisten und Journale, freischwebende Intellektuelle, Professoren an den Universitäten und Beamte in der Administration. Das erlebte seinen ersten Höhepunkt im Vormärz. Davon zeugten von den Monarchen gewährte Verfassungen in Baden, Württemberg und Bayern ebenso wie die beiden in Freiburg lehrenden Juristen und Staatswissenschaftler Carl von Rotteck und Carl Theodor Welcker. Das von ihnen besorgte Staats-Lexikon wurde zum Kompendium des vormärzlichen Liberalismus. Der sich hier ankündigende Aufschwung brach allerdings mit dem Scheitern der Revolution von 1848 wieder zusammen. Zwar wurde nun auch in Preußen die zweite Kammer des Landtags, das Abgeordnetenhaus, gewählt, die Wähler wurden jedoch nach ihrer Steuerleistung klassifiziert: je höher die Einkünfte, desto mehr wog die Stimme. Immerhin, damit war das Wahlrecht in der Welt, für den Reichstag des 1866 gegründeten Norddeutschen Bundes und des 1871 installierten Deutschen Reichs wurde es ausgedehnt auf alle Männer. Frauen allerdings wurde die gleichberechtigte Teilhabe am Leben der politischen Nation bis zur Novemberrevolution von 1918 verwehrt.

Aufschwünge und Abschwünge lösten einander ab. Von der sich konstituierenden Öffentlichkeit profitierten nicht nur liberale, sondern zunehmend auch konservative Strömungen. Mit der Reichsgründung verlor der ältere, freiheitliche Liberalismus an Schwungkraft. An dessen Stelle trat in mancherlei Hinsicht die Sozialdemokratie; die jedoch galt den Obrigkeiten als Partei des Umsturzes und wurde rigoros bekämpft. Eine Demokratisierung des monarchischen Systems rückte in weite Ferne. Gewiss, das kaiserliche Deutschland war ein Rechtsstaat, auch eine Kulturnation, die mit Fortschritten in den Feldern der Wissenschaft von sich reden machte. Und die Künste glänzten mit Innovation und Experimentierfreude. Aber, und das wäre schärfer zu akzentuieren, die Kehrseite des Fortschrittsoptimismus war der Zweifel, war die Kritik an den Errungenschaften einer – westlich geprägten – Zivilisation. Die Stimmungen in der Epoche um 1900 waren ambivalenter als die Autorin einräumen mag. Von einer Blütezeit reformerischer Kräfte und Konstellationen zu sprechen, verzeichnet die Situation. Natürlich, es gab zahlreiche gesellschaftliche Initiativen, eine wie immer geartete Demokratisierung der monarchischen Ordnungen schlug jedoch keine Wurzeln. Tatsächlich mehrten sich die Anzeichen einer fortschreitenden Lähmung und Selbstblockade eines von tiefen Gräben durchzogenen Systems, begleitet von zunehmender Radikalisierung im Lager der politischen Rechten, die gegen jedwede Tendenz einer politischen Öffnung ihr Veto einlegte.

Ähnlich wie die Reformen in Preußen am Beginn des 19. Jahrhunderts war auch die Errichtung der Weimarer Republik eine Frucht der Niederlage. Der Krieg erwies sich, wie Hedwig Richter zu Recht hervorhebt, als der eigentliche „Motor der Demokratisierung“. Die im August 1919 verabschiedete Verfassung war zweifellos ein Meilenstein der deutschen Demokratiegeschichte. Zu ihren Errungenschaften zählten die bürgerliche Gleichstellung der Frauen und das mit Verfassungsrang ausgestattete Bekenntnis zu sozialem Ausgleich und sozialer Gerechtigkeit. Der Ausbau des Sozialstaats war eine der großen Errungenschaften der zwanziger Jahre. Den Absturz in Diktatur und Barbarei verhinderte er freilich nicht. In der 1929/30 aufbrechenden Krise zeigte sich, auf welch schwachen Fundamenten er ruhte und wie umstritten er war. Im anschwellenden Zulauf für Hitler und die NSDAP offenbarte sich, wie die Autorin notiert, die „dunkle Seite der Demokratie“, die nicht nur das „Potential zur aufklärerischen Herrschaft der Freien und Gleichen“ in sich trägt, sondern auch die „Möglichkeit von Demagogie, Populismus und der Tyrannei der Mehrheit“.

Nach den Schrecknissen, den moralischen und materiellen Verwüstungen der NS-Diktatur hat vermutlich kaum jemand eine Wette abschließen mögen, dass es binnen weniger Jahre wieder aufwärts gehen würde. Dass sich die Bundesrepublik trotz der vielen fortgeschleppten Belastungen als demokratisches und prosperierendes Gemeinwesen binnen kurzem konsolidierte, mutet selbst im Abstand von siebeneinhalb Jahrzehnten mirakulös an. Geburtshelfer waren Faktoren wie der Kalte Krieg, der Marshall-Plan und das Wirtschaftswunder, wohl auch das von Hermann Lübbe so genannte „kommunikative Beschweigen“ der Vergangenheit ebenso wie der relativ breite antikommunistische bzw. antitotalitäre Konsens. Gleichwohl gab und gibt es auch hier Schattenseiten, Irritationen, Gefährdungen. 

Insgesamt jedoch ist die Bilanz positiv. Sie wird von der historischen Forschung gern als „Westernisierung“ beschrieben, gar als Ziel eines langen und erfolgreichen Weges nach Westen. Eine derart finalisierende Betrachtung weist Richter zurück, zu Recht. Gleiches bringt sie gegen die Metapher vom deutschen Sonderweg in Anschlag, auch dies zu Recht, aber über ihre These, das Deutschlands Platz seit jeher im Westen gewesen sei, ließe sich streiten. Denn die deutschen Eliten wähnten sich vor 1945 vielfach in einer „Mittellage“, unabhängig von Ost und West, und wenn, dann weniger orientiert nach Westen denn nach Osten und Südosten. Die Demokratie, sagt die Autorin, habe nur deshalb „Kraft entfalten“ können, „weil die Deutschen längst demokratische Verfahren geübt“ hätten. Gewiss, Ansätze dazu lassen sich in früheren Epochen immer wieder beobachten, in der Staatsgründung von 1949 wurde der Geist der Frankfurter Paulskirche beschworen und das Grundgesetz schöpfte tatsächlich auch aus genuin „deutschen historischen Erfahrungen“. Allein, ob und inwieweit das wirklich so eindeutig und so nachhaltig geholfen hat, über die Katastrophen des Nationalsozialismus hinwegzuhelfen, wäre genauer, im Zweifelsfall kontrovers zu diskutieren.

Zum Schluss lässt Hedwig Richter ihrer Begeisterung freien Lauf. Europa sei „etwas Neues und Großartiges“, sei „das schönste Kind der neuen Zeit“. Mit ähnlichen Wendungen wird die Demokratie besungen, jene Liebesgeschichte, in der es – wie im richtigen Leben – über Höhen und durch Täler geht. „Demokratie hat eine wunderbare und wunderliche Geschichte“, lesen wir im letzten Absatz ihres Buches: „Sie ist eine Affäre voller Krisen, aber auch voller Glück und Neuanfang, gerade für die Deutschen.“ Vor allem aber: „Die Affäre geht weiter. Die Zukunft ist offen, und vermutlich ist sie hell.“

Titelbild

Hedwig Richter: Demokratie. Eine deutsche Affäre.
Verlag C.H.Beck, München 2020.
400 Seiten , 26,95 EUR.
ISBN-13: 9783406754791

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