Unkindliche Kinder, kindliche Erwachsene

In „Poetik der Kindheit“ untersucht Mareike Schildmann den Zusammenhang von Kindheitskonzepten im Werk Robert Walsers und dem zeitgenössischen Diskurs um Kind und Kindheit um 1900

Von Rafael Arto-HaumacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rafael Arto-Haumacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Robert Walser: der Tagträumer, der Spaziergänger, der Beobachter, der Opponent, der Servile, der Fabulierer, das Kind – die vielfältigen Rollen, die der Autor, vermittelt durch seine Figuren, in seinem Werk einnimmt, bestimmen die Erzählhaltung, die Struktur des jeweiligen Textes und seinen Ausdruck. Sie sind gewissermaßen Prinzipien für die Textentstehung und -gestaltung. Demzufolge spricht man in der Walser-Forschung von der „Poetik des Winzigen“ (Marianne Schuller), der „Poetik der Bescheidenheit“ (Dieter Borchmeyer), der „Poetik der Umschreibung“ (Jens Hobus), der „Poetik der Revision und Revolte“ (Marc Caduff) oder, wie in der vorliegenden Studie von Mareike Schildmann, der „Poetik der Kindheit“.

Schildmann nimmt die Figuren der frühen Texte und der Romane Robert Walsers in den Blick. Der Schüler Fritz Kocher (Fritz Kochers Aufsätze), Silvi (Der Gehülfe), Felix (Felix) oder die kleine Berlinerin (Die kleine Berlinerin) sind Kinder, die frühreif, altklug, ältlich und somit disparat wirken. Schildmann bezeichnet sie folgerichtig als „unkindliche Kinder“. Diese inkongruente Form der Kindheit findet seine spiegelbildliche Entsprechung in den „großen Kindern“ oder „kindlichen Erwachsenen“, zu denen etwa die Protagonisten aus Walsers Romanen gehören: Simon Tanner aus Geschwister Tanner, Joseph Marti aus Der Gehülfe, Jakob von Gunten aus dem gleichnamigen Werk oder der Räuber aus dem postum erschienenen gleichnamigen Text. Diese Figuren widersetzen sich einer intellektuellen Entwicklung, kokettieren mit Unwissenheit, sind sozial desintegriert und wirken wir verschrobene Spätzünder, die in einer unendlichen Kindheit gefangen und im Leben zurückgeblieben sind. Diese zwei Varianten der Darstellung von Kindheit, in der die Unterscheidung von Erwachsenem und Kind verschwimmt, begegnen uns im Walser‘schen Werk immer wieder und konstituieren einen Protagonistentypus, dessen Züge Walser selbst zeitlebens trug: den des kauzigen Außenseiters, der zwischen infantil-adoleszentem und erwachsenem Verhalten changiert und auf den das bürgerliche Lebensmodell nicht passen will.

Schildmann interpretiert das Kindheitskonzept Walsers, das die Ästhetik viele seiner Texte bestimmt, vor dem Hintergrund eines Kindheitsdiskurses um 1900, welcher wiederum im Rahmen der Reformpädagogik zu jenem Zeitpunkt auflebt, die sich gegen den gefügig machenden Drill in Schulen und gegen Wissensvermittlung durch stures, unselbständiges Pauken wendet. In den Blickpunkt gerät in diesem Zusammenhang das Kind als individuelles Wesen, dessen charakterlichen wie intellektuellen Eigenschaften als rein, unverbildet und ‚natürlich‘ gelten und somit ideale Voraussetzungen für geistige, sinnliche, emotionale und körperliche Bildung schaffen.

Auf breiter Quellenbasis zeigt Schildmann unter Zuhilfenahme zeitgenössischer kinderpsychologischer, reformpädagogischer und literarischer Texte, dass sich Walser erzählerisch durchaus im Kontext dieses Kindheitsdiskurses bewegt, dessen zentrale, ideengebende Abhandlungen unter anderen von Friedrich Nietzsche, Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten (1872), und von Ellen Key, Jahrhundert des Kindes (1900), stammen. Beide Texte hat Walser gekannt, Ellen Key ist er sogar persönlich begegnet.

Dabei beobachtet Schildmann zum einen eine Aneignung des Diskurses durch Walser, etwa wenn er in Jakob von Gunten mit dem Institut Benjamenta eine pädagogische Versuchsanstalt entwirft, in der auf den ersten Blick im reformpädagogischen Sinn Körper, Geist und ästhetisches Empfinden durch konsequente Übung als Ganzes geschult werden. Weiterhin lässt Walser viele seiner Figuren Aufsätze als zentrales Instrument freier sprachlicher und intellektueller Bildung schreiben, wobei in Fritz Kochers Aufsätze diese Textgattung sogar zum Stilprinzip eines ganzen Werkes wird. Zum anderen konterkariert Walser zugleich die reformpädagogischen Ideen: Das Institut Benjamenta löst mitnichten den Anspruch einer reformpädagogischen Erziehung ein, sondern ist auf die langweilige Reproduktion fragwürdigen schulischen Wissens durch seine Zöglinge ausgerichtet; die geschriebenen Aufsätze sind keinesfalls Ausdruck individueller sprachlicher und intellektueller Fähigkeiten oder subjektiver Innerlichkeit, sondern entstehen, indem ihre Schreiber „fortwährend fremde und eigene Sprachvorlagen institutioneller wie literarischer Art übernehmen und kopieren“.

Hier wird, so arbeitet Schildmann heraus, eine grundsätzliche Skepsis Walsers gegenüber erzieherischen Programmen deutlich: Bildung und Erziehung, selbst unter reformpädagogischen Prämissen, führen letztlich zu einer Entindividualisierung und Normierung des Subjekts; die propagierte Entwicklung vom Kind als einem natürlichen, unverstellten, einzigartigen Wesen hin zum Erwachsenen, der sich Natürlichkeit und Individualität bewahrt und dennoch zu einer angemessenen geistigen und sozialen Reife gelangt, muss sich in einer solch skeptischen Haltung als Theoriekonstrukt erweisen. Insofern entzieht Walser seinen Figuren eine geistig-intellektuellen Entwicklung, die immer auch eine durch Bildungs- und Sozialnormen erzwungene Entwicklung ist: Seine unkindlichen Kinder-Figuren scheinen die kindliche Entwicklungsphase, die in der Entwicklungspsychologie als bedeutend gilt, übersprungen zu haben, offensichtlich hatten sie weder Zeit noch Gelegenheit, einen Reifeprozess durchzumachen und Individualität auszubilden. Seine kindlichen Erwachsenen lassen demgegenüber keinen Zweifel daran, dass sie zwar die Physiognomie von Erwachsenen haben, jedoch den Schritt zu einem nach konventionellen Vorstellungen angemessenem erwachsenen Verhalten und Denken nicht vollziehen werden. Sie werden unterwürfig, machen sich klein und geraten konturlos.

Schildmanns profunde Arbeit überzeugt in zweierlei Hinsicht: Zum einen entwirft sie auf breiter Textbasis die Kindheitskonzepte in Walsers Werk und verdeutlicht die Gestaltungprinzipien beim Entwurf der Figuren vom Typus „unkindliche Kinder“ und „kindliche Erwachsene“; zum anderen leistet sie in einer stetigen Rückbindung ihrer Textanalysen an die zeitgenössischen Diskurse um Kind und Kindheit einen Beitrag zur Wissens- und Kulturgeschichte des Kindes allgemein. Walsers Poetik der Kindheit bemisst sich laut Schildmann dabei „sowohl an der diskursiven Nähe, die seine Figuren zu den zeitgenössischen Konzepten und Praktiken rund um das Kind aufweisen, als auch an der Art und Weise, in der dieses Verhältnis in die Ästhetik seines Schreibens eingeht“.

Wurde in der neueren Walser-Forschung bereits auf Walsers Auseinandersetzung mit literarischen Diskursen und Vorbildern hingewiesen, die sich erst in einer tieferen Textanalyse zeigen, so vermag Mareike Schildmann mit sicherem interpretatorischem Zugriff auf Walsers Texte und einer klugen Anordnung diskursbestimmender Quellen sowie schlüssiger Argumentation zu zeigen, dass Walser auch gesellschaftlich-kulturelle Diskurse aufnahm, literarisch verarbeitete und Stellung bezog  auch hier in der ihm eigenen subtilen Art, welche die Hinweise in einer Substruktur der Texte verbirgt.

Titelbild

Mareike Schildmann: Poetik der Kindheit. Literatur und Wissen bei Robert Walser.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019.
497 Seiten, 59,90 EUR.
ISBN-13: 9783835334878

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