Elektrokröte
In Ulrike Sterblichs Roman „Drifter“ geht es um die langsame Verschiebung der Realität im Leben zweier Freunde
Von Sascha Seiler
Am 16. Oktober wurde der deutsche Buchpreis vergeben. Aus der Vorauswahl, der so genannten Shortlist, wurde Tonio Schachingers Echtzeitalter ausgewählt, ein Coming-Of-Age-Roman, also eine Gattung, die den deutschsprachigen Literaturmarkt derzeit regelrecht überflutet. Fast unbemerkt befand sich auf der Liste noch ein weiteres Buch, von einem Großverlag publiziert, ja, aber dennoch ein äußerst seltsames Werk, wie es immer wieder mal auftaucht, ähnlich wie das fiktive Buch, das es behandelt.
Es fiel dem Verlag sichtlich schwer, Ulrike Sterblichs zweiten Roman Drifter adäquat zu vermarkten. Mal las man etwas von einem Krimi, Schutzumschlag und Begleittext sprechen von der Geschichte einer Freundschaft. Das sind Kategorien, die bei einem Mainstream-Publikum ziehen, werden dem Buch aber auf keinerlei Weise gerecht. Die Politologin Sterblich hatte nach einem autobiographischen Berlin-Essay vor knapp drei Jahren ihren Debütroman The German Girl veröffentlicht, der von der New Yorker Künstlerszene in den 60er Jahren handelt und eine fiktive Figur in die bekannte Welt einbaut. Drifter jedoch ist etwas völlig anderes. Der Roman ist kaum greifbar, bewegt sich zwischen den Polen Jorge Luis Borges, Roberto Bolaño oder Mark Z. Danielewski, das ist erstaunlich in der deutschen Literatur und wahrscheinlich sind es auch die besten Vorbilder, die man haben kann.
Der Ich-Erzähler Wenzel arbeitet als Redakteur der Kommentarspalten eines fiktiven (sämtliche Institutionen in diesem Buch sind fiktiv, was ihm gleich einen surrealen Touch verleiht) deutschen Fernsehsenders und ist glühender Verehrer des enigmatischen Schriftstellers K:P Drifter (ja, der Doppelpunkt gehört zum Namen). Dieser ist eine Bolañoeske Figur, die an dessen großen, verschollenen Schriftsteller Benno von Archimboldi aus 2666 gemahnt, der wiederum dem Vorbild B. Travens oder Thomas Pynchons nachgebildet ist: Niemand weiß, wer dahinter steckt. In einem Insider-Forum tauscht sich Wenzel mit Gleichgesinnten über Drifter aus, wir Leser, auch dies erinnert an Bolano, erfahren zwar die skurrilen Buchtitel seiner Romane, bekommen aber, zumindest bis kurz vor Schluss, keine einzige Zeile zu lesen. Als Wenzels bester Freund seit Kindheitstagen, Killer, auf skurrile Weise von einem Blitz getroffen wird, ändert sich plötzlich scheinbar alles.
Eine seltsame Frau namens Vica, die eine exklusive Website betreibt, in der es eigentlich um nichts geht, taucht samt Gefolge immer wieder auf und nistet sich nach und nach in Wenzels Leben ein; sie kauft Wohnungen im Häuserblock, in dem die Freunde aufgewachsen sind, und verlegt ihre dubiose Zentrale, die mehr und mehr einer Großraum-Techno-Disco ähnelt, dorthin. Sie stellt Wenzel als Online-Berater ein. Dort veranstaltet sie mit den Hausbewohnern seltsame Karaoke-Parties. Das Komischste jedoch: Sie besitzt den neuesten Roman von Drifter namens „Elektrokröte“, der zwar lose angekündigt, aber nirgends erhältlich oder vorbestellbar ist.
Von hier aus entfaltet sich eine lose Handlung, die, dem Titel des Romans folgend, vor sich hin driftet. Immer wenn man mit einer Auflösung der surrealen Geschehnisse rechnet, folgt das nächste Rätsel. Alles ist im Fluss und löst sich auf, um sich in neuen Formen wieder zusammenzusetzen. Die künstlerischen Guerilla-Aktionen, die Vica und ihre Gefolgsleute (möglicherweise) begehen, tragen einen Teil zu dieser Verschiebung von Realitätsebenen bei: Objekte werden auf Flohmärkten platziert, auf alten Fotografien taucht plötzlich einer der Gehilfen Vicas auf. Am Ende erscheint, initiiert von Vica, sogar der Roman „Elektrokröte“, allerdings als Folge einer weiteren Guerilla-Aktion.
Auf intelligente Weise spielt Sterblich ständig mit dem Erwartungshorizont ihrer Leser*innen. Denn formal arbeitet sie auf die große Enthüllung hin, die in „Elektrokröte“ (so heißt dann auch das letzte Kapitel) stehen wird, die, so viel kann vielleicht verraten werden, ein weiteres Mal in sich zerfällt, so, wie die dann doch zitierten Zeilen Drifters. Zum Glück, denn diese Momente machen dieses mysteriöse, aber auch aufgrund des lakonischen Erzähltons durchweg lustige Buch, zu einem wahren Ereignis. Vor lauter Coming-of-Age, DDR und komplizierten Liebesgeschichten hat die deutsche Literatur vergessen, um was es zumindest auch gehen sollte: Um das Geheimnisvolle, Hermetische, Rätselhafte. Zum Glück wurde dieses Buch geschrieben.
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