Nationale Umbrüche und globale Kontexte
Kristina Spohr schreibt eine Diplomatie-, Politik- und Ideengeschichte der „Wendezeit“ zwischen 1988 und 1993
Von Jens Flemming
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWem mag heute noch der Begriff „Wintex“ geläufig sein? Hinter diesem Codenamen verbarg sich eine Stabsrahmenübung der NATO, die seit 1968 alle zwei Jahre veranstaltet wurde. Im Februar 1989 ging das Szenario davon aus, dass Tausende von Panzern des Warschauer Pakts auf breiter Front über die Grenzen der Bundesrepublik rollten. Da die unterlegenen westlichen Streitkräfte, zusätzlich bedrängt durch den Abwurf von Giftgas, nicht lange standzuhalten vermochten, beschloss das alliierte Hauptquartier den Einsatz von Atomwaffen: zunächst von taktischen Gefechtsfeldwaffen, dann – als dies nicht den gewünschten Erfolg brachte – in massiver Form von gut zwei Dutzend Atombomben und Atomraketen. Die Sowjetunion antwortete mit gleicher Münze. Deutschland drohte zur Arena eines „begrenzten Atomkrieges“ zu werden. Da die Presse davon Wind bekam und die Öffentlichkeit in Besorgnis stürzte, weigerte sich Waldemar Schreckenberger, der Staatssekretär im Kanzleramt und für das Manöver der politisch Verantwortliche, die angedachte zweite Stufe der atomaren Eskalation zu zünden. Denn dies hätte bedeutet – wenngleich nur fiktiv –, Hunderttausende von Toten und verstrahlte Landschaften in Kauf zu nehmen. Die Übung wurde daraufhin abgebrochen. Die Episode zeigt, dass damals in den Köpfen der militärischen Eliten nach wie vor der große atomare, und wie sich unschwer erraten ließ: der für die europäischen Völker finale Showdown herumspukte. Wenige Monate später allerdings waren derartige Planspiele Geschichte.
Es begann die „Wendezeit“, der die Historikerin Kristina Spohr eine detaillierte, kenntnisreiche und gehaltvolle Studie widmet. Der Anfang vom Ende des „Kalten Krieges“ zeichnete sich ab, in dessen Verlauf die Welt der Bipolarität, eingebettet in das globale, atomar gestützte Gleichgewicht der Kräfte in Ost und West, aufgelöst und durch neue, allmählich sich kristallisierende Ordnungen ersetzt wurde. In einer unglaublich kurzen Spanne von nur drei Jahren vollzogen sich fundamentale Veränderungen der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Das galt für die nationale wie für die internationale Ebene. In das Gefüge der zwischenstaatlichen Beziehungen zog ein neuer Geist ein, lange genährtes Misstrauen verschwand zwar nicht völlig, wurde aber überlagert von der Bereitschaft, alternative Pfade des Denkens und Handelns zu betreten.
Gleichsam von heute auf morgen büßten überkommene Antagonismen ihre Wirkungsmacht ein, aus Konfrontation wuchsen Ansätze einer Kooperation hervor, die im Zeichen der Systemkonkurrenz und argwöhnisch sich belauernden Blöcke kaum jemand für möglich gehalten hatte. Der Wettlauf zwischen bürokratisch administriertem Sozialismus und liberaler Marktwirtschaft schien endgültig entschieden, manch einer fühlte sich bemüßigt, das „Ende der Geschichte“ auszurufen. Die Demokratie und die kapitalistischen Ordnungen westlichen Zuschnitts durften sich als Sieger fühlen, allen voran die Vereinigten Staaten, die nun vor der Aufgabe standen, sich in die Rolle als alleinige Supermacht hineinzufinden und diese mit Augenmaß und pragmatischer Vernunft, vor allem ohne jedes Triumphgeheul auszufüllen. Lange währte das Frühlingserwachen allerdings nicht. Wir wissen heute, dass die Erwartungen, die an diese Entwicklungen geknüpft waren, sich nicht oder nur partiell erfüllten. Die Welt der Gegenwart ist unübersichtlicher denn je, übersät von zahlreichen Konflikten und schier endlosen regionalen Kriegen, und keine Macht oder Mächtekonstellation hat die Kraft und die Autorität, sie zu bändigen.
Kristina Spohrs glänzend präsentierte Forschungen zeigen, wie eng dies alles miteinander verflochten war, wie viele kaum kompatible Stränge parallel liefen und was die leitenden Staatsmänner alles zu beachten hatten, wollten sie nicht die Kontrolle über das Geschehen verlieren. Die Zahl der Akteure, welche die Autorin ins Blickfeld rückt, bleibt relativ überschaubar. Es beschränkt sich weitgehend auf den Kreis derer, die in der ersten Reihe rangierten, außerdem auf einige ihrer Berater. Die Hauptrollen in den regionalen und globalen Arenen der Politik spielen der amerikanische Präsident George H.W. Bush (der ältere) und dessen Gegenpart auf der sowjetischen Seite Michail Gorbatschow. Komplettiert wird das Tableau durch den deutschen Kanzler Helmut Kohl, die britische Premierministerin Margret Thatcher, den französischen Präsidenten François Mitterrand und den starken Mann im Führungskader der Volksrepublik China Deng Xiaoping; daneben noch durch den US-Außenminister James Baker sowie dessen sowjetischen und deutschen Kollegen Eduard Schewardnadse und Hans-Dietrich Genscher. Natürlich fallen auch noch andere Namen, aber die Genannten sind es, die den Gang der Dinge vorantreiben, sie zu beschleunigen, zu blockieren oder zu verlangsamen suchen.
Über interne Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse erfahren wir das, was für das Verständnis nötig ist, viel mehr jedoch nicht. Im Kern geht es um Vorgänge auf höchster Staatsebene, gesellschaftliche Bewegungen und Interessenlagen darunter bleiben vergleichsweise blass. Geboten wird Geschichte von oben, dies allerdings ohne Fehl und Tadel, beruhend auf einem breiten Studium eines verzweigten, teils veröffentlichten, teils unveröffentlichten Quellenmaterials.
Ihren – überbordenden – Stoff verteilt die Autorin auf neun Kapitel. Diese werden durchweg mit einem auf die folgenden Darlegungen einstimmenden Vorspann eingeleitet. Stets ein bestimmtes Datum als Aufhänger nutzend, schlagen sie Schneisen in die einander überlappenden, mannigfach verschachtelten Ereignisse in Europa, Asien und Amerika. Alles hängt mit allem zusammen, jede Aktion löst erwartete oder überraschende Reaktionen aus, die ihrerseits nicht ohne Konsequenzen bleiben. Das von Kristina Spohr gewählte Verfahren bündelt die Fülle der Fakten, der Verlautbarungen und Konferenzen, die multilateralen und bilateralen Gespräche und lässt das Ganze transparent werden. Der Scheinwerfer richtet sich auf jeweils dominante Linien und Konstellationen; man gewinnt den Eindruck paralleler Verläufe, tatsächlich jedoch überlagern sich diese auf vielfache Weise. Rückblenden und Wiederholungen in den einzelnen Abschnitten, hier und da auch Redundanzen sind konzeptionell bedingt, insofern unvermeidlich. Was einerseits an Klarheit gewonnen wird, nötigt andererseits dem Rezipienten ein hohes Maß an Konzentration ab. In einem Rutsch herunterlesen kann man das Buch nicht. Man muss häufiger innehalten, vor- und zurückblättern, muss die verschiedenen Ebenen der Darstellung und das dort Erzählte aufeinander beziehen, darf außerdem die Zeitleiste, auf der das Geschehen aufgereiht ist, nicht aus dem Auge verlieren.
„Politik“, hat Helmut Kohl 2009 gemeint, brauche das „Gespür für das Machbare, auch für das dem Anderen Zumutbare“. Man kann diesen gleichsam in Stein gemeißelten Satz, den die Autorin ihren Studien als eines von fünf Mottos voranstellt, als Interpretation seines eigenen Tuns in jenen Jahren der Umbrüche nehmen, darüber hinaus aber als Maxime, an dem sich damals wie heute Politiker (und nicht nur sie) orientieren sollten. Am 9. November 1989, an jenem Tag, als sich durch die Unbedachtheit eines SED-Funktionärs vor der internationalen Presse das Tempo der Entwicklung enorm beschleunigte, saß der Kanzler etliche hundert Kilometer entfernt in Warschau, wo von der neuen polnischen Führung ihm zu Ehren ein festliches Bankett gegeben wurde.
Noch während des Essens wurden Meldungen hereingereicht, die vom Fall der Berliner Mauer kündeten. Wie darauf reagieren? Die Gastgeber vor den Kopf stoßen und abreisen, damit die gerade angebahnte, jedoch fragilen Bande einer deutsch-polnischen Verständigung gefährden? Kohl, der instinktiv spürte, dass nun „Weltgeschichte geschrieben“ werde, entschied sich, den Staatsbesuch für einen Tag zu unterbrechen, begleitet von Außenminister Genscher nach Berlin zu fliegen, dort eine Rede zu halten und mit den wichtigsten Verbündeten, mit Thatcher, Bush und Mitterand, außerdem mit Gorbatschow zu telefonieren. Der Amerikaner signalisierte Unterstützung, der Russe sicherte zu, sich nicht in die inneren Angelegenheiten der DDR einzumischen, die Britin und der Franzose äußerten sich zurückhaltend, wenig geneigt, sich auf eine Perspektive einzulassen, an deren Ende ein größeres und – wie sie fürchteten – schwer einzuhegendes, womöglich revanchistisches Deutschland stehen könnte. Aber genau die staatliche Einheit war es, die Kohl und seiner Entourage vorschwebte, einstweilen in vagen Umrissen, ein Projekt zudem, das „nur zwei Tage zuvor noch unvorstellbar gewesen war“. Der Kanzler wurde, so Kristina Spohr, zum „Impressario der deutschen Wiedervereinigung“, der Koalitionspartner wie Genscher oder parteipolitische Rivalen wie den Sozialdemokraten Oskar Lafontaine an die Wand spielte.
Der Fall der Mauer und der rasch bewerkstelligte Anschluss der DDR an die Bundesrepublik waren wichtige, indes nicht die einzigen Mosaiksteine, die dazu beitrugen, das Gefüge Mittel- und Osteuropas tiefgreifend zu verändern. Vorausgegangen und ursächlich damit verknüpft waren die Öffnung und der proklamierte Umbau der Sowjetunion (Perestroika und Glasnost), was wiederum in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei jene Tendenzen begünstigte, die jahrzehntelange russische Bevormundung abzuschütteln und echte staatliche Souveränität anzustreben.
Diese Entwicklungen und die damit verbundenen Implikationen werden detailliert geschildert; sie sind in gewisser Weise das Herzstück des Buches, werden aber sorgsam eingebettet in Zusammenhänge, die sich jenseits des europäischen Kontinents herausbildeten. Die eigentlichen „Helden“ sind zwei Männer, nämlich Gorbatschow und Bush. Ersterer hatte nichts Geringeres als die „Neuerfindung des Kommunismus“ vor Augen, Letzterer, von den Ereignissen stimuliert und vorsichtig mit den Mitteln kluger Diplomatie agierend, sah sich konfrontiert mit der ungeahnten Chance, die Ressourcen und die machtpolitische Überlegenheit der USA zu einer gründlichen Umgestaltung der globalen Verhältnisse zu nutzen, gar zu einer „neuen Weltordnung“ vorzustoßen. „Wenn 1989 das Jahr des Wegfegens war“, zitiert Spohr die von James Baker formulierte Maxime, „so muss 1990 das Jahr des Neuaufbaus werden.“
Anders als der heutige Präsident Donald Trump war der ältere Bush ein Mann, der internationale Bindungen nicht zurückwies, sondern im eigenen Interesse herbeizuführen und zu stabilisieren suchte. Gewiss, er war der Meinung, dass die USA zur globalen Führerschaft berufen seien, und vom Vorrang Amerikas war auch er überzeugt, aber zur Realisierung seiner Pläne bevorzugte er ein System multilateraler Verflechtung. Dabei behandelte er seinen Partner Gorbatschow, der im Innern zunehmend in Schwierigkeiten versank, mit „Feingefühl“ und Respekt. China, das er als ehemaliger Botschafter relativ gut kannte, war damals kein ernsthafter Gegner. Unter Deng schwenkte es zwar auf einen Kurs wirtschaftlicher Öffnung und Kooperation mit dem kapitalistischen Westen ein, aber eine friedliche Transformation wie in der zerfallenden Einflusssphäre der Sowjetunion gab es hier nicht, im Gegenteil, Massenproteste der Studenten wurden auf dem Pekinger Tiananmenplatz im Sommer 1989 brutal zusammengeschossen. Die Beziehungen vor allem zu den USA wurden dadurch beträchtlich verkompliziert, der Manövrierraum des Präsidenten in dieser Hinsicht jedenfalls verengte sich, aber die Gesprächskanäle zu den Pekinger Eliten rissen keineswegs ab. Im Blick auf den ökonomischen Aufstieg Japans waren in dieser Phase freilich auch Besorgnisse laut geworden. Das Nachrichtenmagazin Newsweek etwa hatte im Februar 1988 getitelt: „Das pazifische Jahrhundert“ und gefragt: „Amerika im Niedergang?“
In Europa wurde das wiedervereinigte Deutschland noch fester als ohnehin schon eingebunden in den Prozess der europäischen Integration, die 1992 mit dem Vertrag von Maastricht in Gestalt der EU in neue Dimensionen vorstieß. Auch blieb das Land weiterhin Mitglied der NATO, worauf die Verbündeten und die Deutschen selbst allergrößten Wert gelegt hatten. Einreden aus Moskau dagegen verpufften, ein unübersehbares Zeichen dafür, dass sich das Gewicht der Sowjetunion erheblich reduziert hatte. Vielleicht das eindrücklichste Indiz für das gewandelte Klima in der Weltpolitik war das breite, auf ein Votum der UNO gestützte, von knapp drei Dutzend Ländern getragene Bündnis gegen die Invasion irakischer Truppen in das benachbarte Kuwait. Die dort binnen kurzem im Januar und Februar 1991 erzielten Erfolge machten deutlich, welche Erträge sich mit dem beharrlichen Bohren dicker diplomatischer Bretter einfahren ließen.
Wenige Wochen vor seinem Abschied aus dem Weißen Haus schaute Bush, ernüchtert durch die gegen den Demokraten Bill Clinton erlittene Wahlniederlage, auf das Geschehen, das sich unter seiner Ägide vollzogen hatte. Dabei klang Skepsis durch, vielleicht ein Anflug von Ahnung auf das, was sich gut zwei Jahrzehnte später teils ankündigen, teils vollziehen sollte. In außenpolitischer Hinsicht war das, wofür er einstand, ein Kontrapunkt zum erratischen Aktionismus des gegenwärtigen Amtsinhabers. Kristina Spohr hält in diesem Punkt nicht hinterm Berg und findet starke, eindeutige Worte. Das „Feld der Außenpolitik“ sei „kein Pokerraum in einem Trump-Casino“, noch seien „Tweets und Wutanfälle ein gutes Rezept für dauerhafte Beziehungen mit Verbündeten oder Gegnern“, schreibt sie auch uns Lesern ins Stammbuch:
Nadelstiche gegen Partner und die Untergrabung von Allianzen ermutigen den Gegner nur dazu, ebenfalls Risiken einzugehen, und schwächen die regionale Stabilität in Europa und im asiatisch-pazifischen Raum, vom Nahen Osten ganz zu schweigen. Trump reduziert Diplomatie und Staatskunst generell auf eine chaotische Folge rein transaktionsorientierter Begegnungen: auf erfolgreich abgeschlossene oder gescheiterte Deals.
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