Nur keine Nostalgie

Tor Ulven erzählt im Roman „Ablösung“ von den Paradoxien des Lebens

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einem der sehr sehr seltenen Interviews bemerkte der norwegische Dichter Tor Ulven 1993, dass er lieber schreibe als rede, denn „jeder, der spricht, kann verletzt werden dadurch, dass er zu viel Unsinn spricht“. Zum Sprechen fehle ihm das Talent, dabei „kotzt du dich aus, ob du willst oder nicht. Aber sobald du schreibst, wirst du zu einer Art Außenseiter, der seine eigene Sprache beobachtet, und so beginnt die Literatur“.

Die permanente Reflexion dessen, was er niederschreibt, ist auch dem einzigen Roman Ablösung anzumerken, den Tor Ulven geschrieben hat. Das Erzählerische wird darin abgelöst von einer Prosa, die sich gewissermaßen in sich selbst verkeilt. Wie Fotografien zieht Ulven stillgestellte Szenen aus einem Lebenskontinuum heraus, hält sie beschreibend wie in Zeitlupe mit höchster Präzision fest, um sie durchscheinend zu machen für die darin verborgene menschheitsgeschichtliche Tragik – die Verheißungen des Glücks sind immer größer als dessen Vorhandensein. Atmosphärisch verblüffend dicht schildert Ulven etwa die im Luftzug sich leicht bauschenden Gardinen, einen langen Kuss oder die Berührung eines Ohrrings mit der Hand beim Anzünden einer Zigarette – der Erzähler erkennt darin, was Lust bereitet, ängstigt oder hilflos macht, das „wiederum in Zusammenhang stehen muss mit dieser ganzen, außerordentlich komplexen Konstellation sämtlicher Determinanten, diesem Moskitoschwarm größerer und kleinerer Schicksalsgöttinnen, die in ihrer Gesamtheit einen Menschen zu dem machen, was er ist“.

Ablösung ist ein Roman, in dem sich ein scheinbar unnahbarer Erzähler an ein „Du“ wendet und mit ihm in eine Zwiesprache tritt, die einer monologischen Selbstreflexion gleicht. „Peinlich berührt über dich selbst, brichst du die Fantasie ab.“

Der Roman erzählt von insgesamt 15 Figuren, die sich in unterschiedlichen Lebenssituationen befinden. Tor Ulven verzichtet dabei darauf, ihnen je eigene Kapitel zuzuweisen oder eine eigene Sprache zu verleihen, die Übergänge bleiben fließend und müssen bei der Lektüre erst markiert werden. Im besagten Interview bemerkte er dazu: „Es ist diese Möglichkeit, dass wir genauso einfach jemand anderes sein können. Wir könnten im Wesentlichen mit einer ganz anderen Subjektivität geboren werden. Wenn sich die Egos in Ablösung überschneiden, ist es, als würden sie wiedergeboren. Jedoch als das Gleiche. Neu geboren, aber im gleichen Elend, in der gleichen Monotonie.“

Es sind diskrete Merkzeichen, die die Zäsuren anzeigen: ein anderes Licht und wechselnde Jahreszeiten oder teils leicht camouflierte Altersangaben, die signalisieren, dass Ablösung im Kern eine chronologische Erzählung ist. Ausgehend von einem 80-jährigen Mann, der in seinem Zimmer gefangen liegt und hinter den leicht wehenden Gardinen das Nachtdunkel zu erkennen sucht (distanziert und noch ohne Du-Anrede geschildert), blendet die nächste Episode zurück zu einem Jungen von vielleicht sechs, sieben Jahren, der allein zu Hause die Schrecken der Nacht erlebt. Ihm folgt ein Jugendlicher, der von zu Hause abhaut; danach beendet ein Nachtwächter, der auf seinen Gängen im Schlepptau seines Taschenlampenlichts die unsichtbaren Riesen der Dunkelheit bezwingt, die Nacht. Die Figuren werden kontinuierlich älter und kehren am Ende zurück zum Greis im nächtlichen Zimmer.

Die Szenen wirken oft zufällig gewählt, kleinste Ausschnitte des Lebens, doch in ihnen spiegelt sich ein Ringen um Schönheit, Liebe und Zuversicht. Das Fazit des Greises am Schluss ist vernichtend. „Sein Leben war vergeudet“, denkt er, und: „Wer nie geboren wird, den vermisst niemand, und der Ungeborene vermisst nicht das Leben. Jetzt möchte er lesen“ – doch was könnte er lesen, wenn kein Geborener derlei schreiben würde wie Tor Ulven. Selbst der Greis hält sich eine Tür offen: Das Gewehr lehnt neben seinem Bett, er fühlt sich bereit, wofür auch immer – aber trotz allem.

Ablösung zeichnet sich durch seine Lichtstimmungen aus, von nachtdunkel bis sommerhell, und durch seine überwachen, feinnervigen Beschreibungen. Phänomenal, mit welcher sachlichen Exaktheit Tor Ulven den Kuss von zwei nicht mehr ganz jungen Menschen beschreibt und wie, als sich deren Lippen wieder trennen und sie einander betrachten, deren Gesichter im Auge des anderen förmlich zerknittern und zerfallen und ihr Alter preisgeben.

Das Ende wirft immer einen Schatten auf alles Frühere. In der Buchmitte sinniert der „halbjahrhundertjährige, dünnhaarige Mann“ über die Vergangenheit, vor der er sich fürchtet. Man kann nicht zurückblicken, bemerkt er, „denn dort liegt nichts als ein Kompost aus Tagen, Mist und Dreck, welcher nichts anderem dient als dem Düngen der Zukunft“. Einzig wenn er Stillschweigen mit sich selbst bewahre, könne er zurückdenken.

In diesem Alter von 50 Jahren hatte Tor Ulven sein Stillschweigen bereits endgültig vollzogen. 1953 geboren, beging er 1995, zwei Jahre nach Ablösung, Selbstmord. Neuere Entdeckungen im Archiv sollen zwar zeigen, dass Ulven durchaus auch ein umgänglicher Mensch war, dennoch färbt das frühe Lebensende auf seine Literatur ab. Ablösung ist ein finsteres und radikales Buch, das aus der Lebensskepsis keinen Hehl macht. Ulvens ebenfalls früh verstorbener Geistesverwandter Stig Saetterbakken, von dem in diesem Herbst auch ein dunkel eingefärbter Roman erscheint (Durch die Nacht), hat als letzten Text vor seinem Tod ein Nachwort zu Ablösung verfasst. Er lobt darin das scharfe, analytische Licht der Prosa Ulvens, seine „expansive, an Claude-Simon erinnernde, detailbeschreibende Syntax“ sowie die „Sprache, die glüht, aber vorgibt, unter hartem, feuerfestem Glas zu sein“. Ulven hat Texte von Claude Simon und Samuel Beckett übersetzt, was ein Licht auf die eigenen Texte wirft. Seine Prosa brennt gewissermaßen mit einer schonungslosen Kühle, wenn er die Selbstreflexionen und finstere Skepsis seiner Figuren auseinanderfaltet und ihre condition humaine enthüllt. Die nervös flackernde Glühbirne, die gleich auszubrennen droht, wird zum Leitmotiv. „Die Glühbirne kann er morgen wechseln“, sagt sich der 80-Jährige am Schluss. Tor Ulven hat sie mit 42 selbst ausgelöscht.

Titelbild

Tor Ulven: Ablösung. Roman.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Bernhard Strobel.
Literaturverlag Droschl, Graz 2019.
140 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783990590348

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