Gegen die Dolchstoßlegende der Linken

Der Band „Kampf um feministische Geschichten“ versammelt Texte der 2013 verstorbenen Feministin und Wissenschaftlerin Annemarie Tröger

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1985 fand an der Freien Universität in Berlin ein Symposium zur Geschichte des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) statt, das von ehemaligen Angehörigen der 1970 aufgelösten Organisation veranstaltet wurde. Es handelte sich um eine umfangreiche Tagung, auf der nicht weniger als 22 Referate gehalten und diskutiert wurden. Nur ein einziges Mal betrat eine Frau das Pult. Seit der von Helke Sander auf der SDS-Delegiertenkonferenz in Hannover gehaltenen Rede und dem berühmten Tomatenwurf Sigrid Rügers 17 Jahre zuvor hatte sich also wenig geändert. 

Die Frau, die auf der Tagung von 1985 ein Referat hielt, war Annemarie Tröger und sie prangerte den Skandal, als einzige ihres Geschlechts sprechen zu können, auch gleich zu Beginn ihrer Rede an. Von den neun Panels des Symposiums trug eines den Titel Kulturrevolutionäre Vorstellungen im SDS und der Beginn der neuen Frauenbewegung. Wie selbstverständlich war ihr als Frau ein Vortrag innerhalb dieses Themenblocks zugedacht worden. Dies war ihr Anlass für zwei weitere kritische Anmerkungen. Zum einen, so monierte sie, habe es genügend andere Frauen wie Sigrid Rüger gegeben, die in verschiedenen politischen Bereichen „aktiv und wichtig“ waren, über die sie hätten referieren können. Und zum anderen kritisierte sie, dass die „Frauenbewegung unter der Kulturrevolution […] in einem Packen zusammengefasst“ wurde.

Zählte Annemarie Tröger in den 1970er Jahren zu den umtriebigsten Aktivistinnen nicht nur der Frauenbewegung, ist sie heute weitgehend vergessen. Darum ist es umso begrüßenswerter, dass Regina Othmer, Dagmar Reese und Carola Sachse einen Band mit vierzehn Texten der 2013 verstorbenen Feministin und Wissenschaftlerin herausgegeben haben, die sich keineswegs nur mit Frauenemanzipation und -bewegung befassen. Denn Tröger war auf verschiedenen Gebieten tätig, die von der Entwicklungspolitik über Faschismusforschung bis hin zu US-amerikanischen Gewerkschaften und der ‚Frauenfrage’ in der frühen Sowjetunion reichten. Und nicht zuletzt war sie eine der „Begründerinnen der Frauenforschung im deutschsprachigen Raum“, wie die Herausgeberinnen in der Einleitung bemerken. Als Vertreterin einer „nicht-disziplinären und anti-institutionellen Frauenforschung“, deren „akademische Biographie“ sich „zwischen Psychologie, Soziologie, politischer Ökonomie, Zeitgeschichte und Entwicklungspolitik“ und damit jenseits „jeder disziplinären Zuordnung und den damit verbundenen Zugangs-, Anerkennungs- und Karriereregeln“ bewegte, machte Tröger allerdings keine universitäre Karriere.

Zwar lässt der Band Trögers Vortrag auf dem SDS-Symposium vermissen, doch spiegelt er die Vielfalt ihrer Tätigkeitsgebiete und der Textsorten, deren sie sich bediente, wider. Letztere reichten von wissenschaftlichen Arbeiten und „minder formal gehaltenen Aufsätzen“ über Reden, Interviews, Hörfunkmanuskripten, Essays bis hin zu Manifesten und „pädagogischen Handreichungen“. Zudem sind den aufgenommenen Texten Kommentare von WeggefährtInnen Trögers beigefügt, welche ihre Ausführungen kontextualisieren. 

Die Herausgeberinnen haben Trögers teils deutsch- teils englischsprachige Schriften aus den Jahren 1970 bis 1990 nicht chronologisch angeordnet, sondern unter die vier Themen Revolutionäre Zeiten, Feministische Wissenschaft, Vorgeschichte der neuen Frauenbewegung und Rückblicke, Ausblicke rubriziert. Bei einem der Texte handelt es sich um ins Deutsche übertragene Auszüge des bis dahin unveröffentlichten Manuskriptes „The New Reich“, in dem sich die Autorin mit der BRD als „global player im Imperialismus“ befasst, wie Tilla Siegel in der vorangestellten „Einführung“ zu dem Text sagt. Allerdings wurden nicht, wie die Kommentatorin erklärt, der „Vorspann zu Annemaries Artikel sowie ihre ‚Schlussfolgerungen’“ aufgenommen, sondern nur letztere. 

Im ersten der vier Abschnitte sticht zunächst ein im zeittypischen Jargon der Linken gehaltenes Feature über Slums in Lateinamerika hervor, das 1970 im dritten Programm des WDR ausgestrahlt wurde. Nach wie vor aktuell sind einige ihrer damaligen Forderungen wie etwa diejenige nach „Ausbildungsmöglichkeiten für alle Frauen“.

Ebenfalls bemerkenswert ist ihr erstaunlich kritisches Nachwort von 1975 für die Neuausgabe einer Vorlesungsreihe, welche die russischen Revolutionärin Alexandra Kollontai Anfang der 1920er Jahre über Die Situation der Frau in der gesellschaftlichen Entwicklung gehalten hatte. So kritisiert Tröger etwa die „bewusste Geschichtsklitterung“, deren sich Kollontai bei ihren „polemische[n] Angriffe[n] […] gegen die bürgerlichen Feministinnen des 19. und 20. Jahrhunderts“ bediente. Zugleich erklärt Tröger Kollontais „Ungerechtigkeit, ja de[n] persönliche[n] Hass in der Darstellung der bürgerlichen Frauenbewegung“ damit, dass Kollontai in der kommunistischen „Parteipresse“ des Landes vehement attackiert und als „Kommunistin mit einer soliden Dosis feministischen Mülls“ diffamiert wurde. Heftig fällt auch Trögers Kritik an Kollontais „Behandlung des Themas Frauenarbeit in der Periode der Diktatur des Proletariats“ aus, die sie als „schlechte[.] Agitationsrede“ abkanzelt. Heute, hundert Jahre nach Kollontais Ausführung, dürfte wohl niemand mehr diesem Befund widersprechen. Allerdings erscheint Trögers Vorstellung inzwischen abwegig, dass „sich jede revolutionäre Frauenbewegung mit den konkreten Erfahrungen der Sowjetunion […] auseinandersetzen“ müsse.

Einen frühen „Versuch, Forschung feministisch zu betreiben“ dokumentiert ein in den zweiten Teil aufgenommener Text aus dem Jahr 1981, der es unternahm, Tröger als Forschende und die von ihr interviewte Probandin eines soziologischen Forschungsprojektes auf Augenhöhe an der Erarbeitung der Ergebnisse teilhaben zu lassen. Ein letztlich misslungener Versuch, der allerdings dazu beitrug, den Weg erfolgreicherer feministischer Forschungen auf diesem Gebiet zu bereiten.

Tröger zählte auch zu den ersten, die es hierzulande unternahmen, die „Methode der ‚Oral History’“ zu erproben, indem sie gemeinsam mit Lore Kleiber und Ingrid Wittmann ZeitzeugInnen eines Charlottenburger Kiezes über die Zeit der Weimarer Republik und des Naziregimes befragten.

Ein weiterer Text zum Nationalsozialismus macht sich im dritten Teil unter dem Titel Die Dolchstoßlegende der Linken gegen die damals virulente „Behauptung“ stark, „die Frauen hätten Hitler an die Macht gebracht“. Eine „böswillige Verleumdung“, die von prominenten WissenschaftlerInnen der DDR und konservativen JournalistInnen in der BRD geteilt wurde. So etwa von Jürgen Kuczynski und Joachim Fest. Weit davon entfernt, Frauen „nachträglich einen Persilschein der Entnazifizierung aus[…]stellen“ zu wollen, betont Tröger 1977 zwar, dass die „aktive Komplizenschaft einiger Frauen und das passive Sichwegducken der Majorität der Frauen […] diskutiert“ und „die subjektiven und objektiven Beweggründe für ein solches Verhalten aufgedeckt werden“ müssen. „Wenn man [jedoch] die Legende akzeptiert, dass Frauen die Nazis an die Macht gebracht haben“, werde „der in allen Schichten Deutschlands verwurzelte Männlichkeitswahn zur unpolitischen Folklore verniedlicht“.

Im letzten Teil analysiert Tröger 1988 die bundesdeutsche Studentenbewegung dem Titel eines Aufsatzes zufolge als Avantgarde der Angestelltenklasse und erörtert in einem Brief an eine französische Freundin aus dem Jahr 1990, was der „Zusammenbruch der sozialistischen Systeme – so wenig sie je ein Modell für uns waren – für die Linke und die Frauenbewegungen in Westeuropa auf lange Sicht bedeuten werden“. Beschlossen wird der Band mit einer von Regine Othmer verfassten Skizze einer Biographie Annemarie Trögers.

Die Politologin Ingrid Kurz-Scherf bemerkte 2014 in einem Nachruf auf Annemarie Tröger, die Verstorbene habe „keine Karriere gemacht, sondern – pathetisch formuliert – Geschichte“. Nicht nur, aber insbesondere Frauenbewegungsgeschichte, ließe sich anfügen. So hat sie Anfang der 1970er Jahre etwa am damals überaus wichtigen Frauenhandbuch Nr. 1 der Berliner Brot & Rosen-Gruppe mitgearbeitet und war anderthalb Jahrzehnte später Mitbegründerin der Feministischen Studien.

Regina Othmer kündigte in einem 2013 für die Zeitschrift verfassten Nachruf auf Annemarie Tröger für den Dezember des folgenden Jahres „[e]inen Band mit den gesammelten Schriften von Annemarie Tröger“ an. Nun endlich liegt er vor.

Titelbild

Annemarie Tröger: Kampf um feministische Geschichten. Texte und Kontexte 1970–1990.
Herausgegeben von Regine Othmer, Dagmar Reese, Carola Sachse.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021.
480 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783835337886

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