Zusammenbruch und Neuanfang?

Ein Sammelband über Sachsen zwischen NS-Diktatur und Gründung der DDR

Von Martin MunkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Munke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie gehörte lange zu den Kernbeständen der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Diktatur im Nachkriegsdeutschland, die viel bemühte „Stunde Null“. In der öffentlichen Meinung dürfte das damit verbundene Bild eines bedingungslosen Neuanfangs nach Krieg und Verbrechen noch immer so manchen Anhänger haben. Tatsächlich war die Entwicklung in den Besatzungszonen auf deutschem Boden nach 1945 auf politischer und wirtschaftlicher Ebene von vielen Brüchen gekennzeichnet. Und doch finden sich bei genauerem Hinsehen viele Zusammenhänge und Kontinuitäten, die die gesellschaftliche Realität in der Nachkriegszeit prägten. Bei allen offiziellen Distanzierungen und späteren Behauptungen, das „bessere Deutschland“ aufzubauen, gilt dies auch für die Sowjetische Besatzungszone im vormaligen Mittel- und nunmehrigen Ostdeutschland, aus der 1949 die selbsternannte Deutsche Demokratische Republik werden sollte. Selbst wenn manche hier eine „Dämonisierung durch Vergleich“ (Wolfgang Wippermann) vermuten – die Geschichte der nationalsozialistischen Herrschaft und die Etablierung der kommunistischen Diktatur sind nicht getrennt voneinander erzählbar.

Näher betrachten lässt sich diese These am Beispiel Sachsen, das unter den sogenannten neuen Bundesländern – angesichts der jahrhundertelangen staatlichen Kontinuität (sieht man einmal vom in dieser Form erst 1947 gegründeten Sachsen-Anhalt ab) eine unpassende Wortschöpfung – die vergleichsweise am stärksten ausgeprägte landesgeschichtlich orientierte Forschungslandschaft aufweist. Zu den maßgeblichen Protagonisten dieser Forschung zählt das an der Technischen Universität Dresden angesiedelte Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (HAIT), das neben politikwissenschaftlich geprägten Arbeiten eben auch historische Fragen bedient. Nicht umsonst sind hier einige der zentralen Bände für die Geschichte des Nationalsozialismus in der Region – Sachsen und der Nationalsozialismus (2014), herausgegeben unter anderem vom damaligen Institutsdirektor Günther Heydemann, und Sachsen in der NS-Zeit (2002), herausgegeben vom stellvertretenden Direktor Clemens Vollnhals – und zur Nachkriegszeit –Diktaturdurchsetzung in Sachsen. Studien zur Genese der kommunistischen Herrschaft 1945–1952 (2003), verantwortet von den Institutsmitarbeiten Rainer Behring (mittlerweile als Lehrbeauftragter an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf tätig) und Mike Schmeitzner – entstanden. Die Übergangsphase wurde dabei noch weitgehend isoliert betrachtet, sieht man von einigen zeitlich übergreifenden Beiträgen ab. In den letzten Jahren sind zudem einige wichtige Lokalstudien erschienen, etwa zu Leipzig – Leipzig im Nationalsozialismus. Beiträge zu Zwangsarbeit, Verfolgung und Widerstand (2016) – und zu Dresden – Braune Karrieren. Dresdner Täter und Akteure im Nationalsozialismus (2012). Eine Gesamtdarstellung „Sachsen im Zweiten Weltkrieg“ fehlt hingegen noch. Auch wenn es neben den genannten für den großstädtischen Bereich viele weitere regionale und lokale Studien gibt, wurden gerade die letzten beiden Jahre der NS-Herrschaft noch nicht zusammenhängend dargestellt.

Ansatzpunkte zu einer solchen integrierten Geschichte liefert der wiederum am HAIT konzipierte vorliegende Sammelband Von Stalingrad zur SBZ, der die Entwicklungen in Sachsen zwischen 1943 (Kriegswende nach der Niederlage von Stalingrad) und 1949 (Gründung der DDR) in den Blick nimmt und sich in der Anlage hauptsächlich an ein wissenschaftliches Publikum richtet. Seine Nutzbarkeit als Zwischenbilanz und Ausgangspunkt für weitere Forschungen erhöhen eine mehrseitige Auswahlbibliografie, die den Zeitraum auf 1933 und 1952 (Auflösung der Länder in der DDR) als Anfangs- beziehungsweise Endpunkt erweitert, und ein Personenregister. Ein Teil der Beiträge wurde im April 2015 auf einer gemeinsam mit der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung in Dresden durchgeführten Tagung vorgestellt. Die einzelnen Studien, verfasst von einschlägig ausgewiesenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, sind paritätisch auf die Themenfelder „Die nationalsozialistische Kriegsgesellschaft“ (neun Aufsätze), „Besatzungsmacht und neue Herrschaft“ (zehn) und „Gesellschaft im Umbruch“ (neun) verteilt. Die Titel der einzelnen Sektionen spiegeln den struktur- und sozialgeschichtlichen Ansatz wider, von dem der Großteil der Aufsätze geprägt ist. Beiträge, die den gesamten Untersuchungszeitraum in den Blick nehmen, liefert vor allem die dritte Sektion. Neben lokalen Spezialstudien finden sich im Band landesweit argumentierende Untersuchungen und biografische Beiträge, die ein facettenreiches Bild einer Gesellschaft liefern, die den untersuchten Zeitraum vielfach als ein Leben in der „Ausnahmesituation“ wahrnahm – war Sachsen doch das Gebiet im „Altreich“, in dem sich die NS-Herrschaft in Teilen mit am längsten hielt, und das 1945 von einer Dreiteilung in von der US-Army und der Roten Armee besetzte sowie noch von Wehrmachts-/SS-Einheiten gehaltene beziehungsweise gar unbesetzte Gebiete geprägt war. Die Tatsache, dass das Land lange von direkten Kampfhandlungen vorschont blieb (sieht man von einem Luftangriff auf Leipzig im Dezember 1943 ab), hatte zu einer wachsenden Bedeutung seiner wirtschaftlichen Strukturen geführt. Betriebe aus anderen Teilen des Reiches waren hierher verlagert worden, was mit einem starken Ausbau des existierenden Lagersystems einherging. Ab Ende 1944 war Sachsen dann stärker von den Kriegseinwirkungen betroffen, die in den massiven Bombardements unter anderem von Chemnitz, Dresden und Plauen gipfelten.

Diesem verstärkten Druck von außen entsprach eine Intensivierung des inneren Drucks, den das Regime in seinen verschiedenen Instanzen auf- und ausbaute, wie die Beiträge in der ersten Sektion des Bandes verdeutlichen: „Eine Ablösung von nennenswerten Teilen der Gesellschaft vom Nationalsozialismus lässt sich für diese Jahre nicht erkennen.“ Mike Schmeitzner nähert sich diesen Befund mit einer Untersuchung der Rolle des „Gauleiters“ Martin Mutschmann. In seiner Umformung der Landes- in eine „Gauregierung“ im Frühjahr 1943, in der Abteilungen statt Ministerien die einzelnen Geschäftsbereiche abbildeten, gelang Mutschmann eine noch stärkere Verschränkung von Partei, Regierung und Verwaltung. Die starke Betonung „sächsischer“ Traditionen trug – im Zusammenspiel mit immer stärkeren Repressionsmaßnahmen – dazu bei, dass sowohl die Beamtenschaft als sicher auch weite Teile der Bevölkerung das Regime weiter unterstützen. Die verstärkte Nutzung von Repressionsinstrumenten zeigt Gerald Hacke am Beispiel der sächsischen Justiz unter den Stichworten „Radikalisierung“ und „Eskalation“. Gestützt auf die Vorgaben der Reichsebene wurde auch in Sachsen „die Rechtssprechung einer vielfältigen Steuerung und Lenkung unterworfen sowie alle hemmenden vor, während und nach der Vollstreckung von Todesurteilen beseitigt“. Bis in die letzten Kriegswochen hinein wurden Todesurteile verhängt und vollstreckt, etwa Mitte April in Leipzig an über 50 Insassen von Polizeigefängnissen, die durch Gestapo-Einheiten ermordet wurden. Ein ähnliches Schicksal erlitten tausende – die genaue Zahl ist bis heute ungeklärt – der Anfang 1945 insgesamt mehr als 30.000 Häftlinge, die in Konzentrationslagern Zwangsarbeiten leisten mussten, und von denen viele gegen Kriegsende auf sogenannte Todesmärsche geschickt wurden. Martin Clemens Winter zeigt hier, wie „viele Zivilisten nicht nur zu Augenzeugen wurden, sondern direkt in das Geschehen involviert waren“.

Nach Kriegsende und dem Rückzug der US-amerikanischen Truppen Anfang Juli 1945 gelangte ganz Sachsen in den Machtbereich der Sowjetunion. Dies betraf auch die im April zunächst unbesetzt gebliebenen Regionen im Westerzgebirge mit ihren etwa 500.000 Einwohnern und Flüchtlingen. Im Vergleich zu den Besatzungszonen der Westalliierten führte der Systemwechsel hier „zu weitaus stärkeren Brüchen: So etwa hinsichtlich des politischen Systems, bei der Säuberung von Verwaltung und Wirtschaft von Nationalsozialisten und mit Blick auf die Schaffung erster wichtiger Elemente eines neuen planwirtschaftlichen Systems“, wie die Beiträge der zweiten Sektion zeigen. Die „Entnazifizierung“ wurde dabei als ein doppeltes Instrument genutzt, so Clemens Vollnhals: „Sie diente einerseits der politisch wie moralisch gebotenen Abrechnung mit dem Nationalsozialismus und war zugleich ein Instrument für die Durchsetzung des kommunistischen Machtanspruchs in Staat und Gesellschaft.“ Ein übergreifendes Konzept fehlte dabei allerdings, sodass es regional zu großen Unterschieden kam. Auch beendete die Sowjetische Militäradministration die Säuberungsverfahren bereits im März 1948 relativ abrupt, wenngleich zu diesem Zeitpunkt der Anteil von Angehörigen der SED (zuvor KPD und SPD) in Verwaltung und Wirtschaft bereits entsprechend stark angestiegen war. Zum Führungspersonal auf Ebene der Kreise gehörten dabei neben „altbewährten kommunistischen Kadern“, die zunächst noch den Hauptanteil etwa der 1. Kreissekretäre ausmachten, zunehmend auch eine Reihe von „jungen, anpassungsbereiten und machtbewussten Neumitgliedern der vor allem im Nationalsozialismus sozialisierten jungen Generation“, wie Tilman Pohlmann schreibt. Auch ehemalige Angehörige von NS-Organisationen wie der Hitler-Jugend wurden so in den neuen Staat integriert.

Diese Elemente der Kontinuität zwischen altem und neuem Regime wie zu vorgelagerten Epochen werden in den Beiträgen der dritten Sektion näher untersucht. Swen Steinberg zeigt in seiner Betrachtung der Transformation sächsischer Unternehmen in der Nachkriegszeit einige solcher Formen von „Langfristigkeit“ auf. Zwar ging die SED weitgehend scharf gegen die alten Wirtschaftseliten vor, um die Durchsetzung der Volks- und Planwirtschaft zu erreichen. Und doch existierten im Oktober 1948 gegenüber „etwa 1800 sächsischen VEB mit durchschnittlich 156 Arbeitern noch immer ca. 16000 Privatunternehmen mit durchschnittlich 23 Beschäftigten“. Und auch in staatlich gelenkten Betrieben diente die privatwirtschaftliche Vergangenheit vielfach noch lange der Traditionspflege und zur Binnenidentifikation der Belegschaft, die über die politischen Brüche hinweg bisweilen eine lange personelle Kontinuität aufwies. Als vergleichbares Problem für die Bevölkerung vor und nach 1945 stellten sich die Wohnraumnot und die Notwendigkeit, die eigene Versorgung auch durch Schwarzmarktgeschäfte sicherzustellen. Thomas Widera zeigt am Beispiel Dresdens, wie die jeweilige Knappheit und die Versuche um den Ausgleich derselben das Alltagsleben fortgesetzt prägten. Sowohl den NS-Behörden unter den Bedingungen des Krieges (und teilweise bereits zuvor) wie der Besatzungsmacht unter den Bedingungen des Wiederaufbaus bei gleichzeitiger Demontage und Requirierungen für Reparationsleistungen gelang es vielfach nicht, „die ausreichende Versorgung zu organisieren“. Für viele stand so „die Sorge um die eigene Existenz und die der nächsten Angehörigen“ im Mittelpunkt des täglichen Handelns – nicht der Aufbau eines neuen Systems, das wiederum vielfach von Fremdbestimmung geprägt war.

Die Übergangsphase zwischen 1943 und 1949 bleibt so ambivalent, wobei es hier häufig große lokale und regionale Differenzen zu beachten gilt: Sie steht für „de[n] Untergang der nationalsozialistischen Diktatur, d[ie] Durchsetzung einer neuen Diktatur unter Führung der KDP/SED, aber auch eröffnet[e] Chancen zur (kontingentierten) Entfaltung bisher unterdrückter ethnischer und religiöser Gemeinschaften“ und auch, so möchte man hinzufügen, zur neuen Entfaltung von seit den 1930ern marginalisierten und verfolgten gesellschaftlichen Gruppen – ein Möglichkeitsraum, der sich allerdings für viele bald wieder schließen sollte, wie nicht zuletzt der Aufstand im Juni 1953, nur vier Jahre nach Staatsgründung des „besseren Deutschland“, zeigen sollte. Gerade der Beitrag von Hendrick Niether zum Schicksal der jüdischen Bevölkerung auch nach 1945 zeigt dieses Spannungsfeld zwischen Hoffnung, Resignation und neuer Repression eindrücklich: antisemitische Einstellungen waren in der Bevölkerung weiter präsent, „verbal[e] und auch tätlich[e] Angriffe auf Juden, Schmierereien und Friedhofsschändungen“ fanden weiter statt. Und auch staatlicherseits wirkten alte Ressentiments weiter ­– „arisiertes“ Eigentum wurde kaum zurückerstattet, die Ende der 1940er Jahre im sowjetischen Machtbereich einsetzenden Schauprozesse gegen Funktionäre jüdischen Glaubens wirkten sich in ähnlichen Verfahren und öffentlichen Kampagnen auch auf die DDR aus. Zu Beginn der 1950er Jahre „verließen viele sächsische Juden […] das Land“, die verbliebenen zogen sich weitgehend ins Privatleben beziehungsweise passten sich in ihren Organisationen den staatlichen Vorgaben an. Eine freiere Entfaltung (nicht nur) jüdischen Lebens wurde so erst nach 1989/90 wieder möglich.

Titelbild

Mike Schmeitzner / Clemens Vollnhals / Francesca Weil (Hg.): Von Stalingrad zur SBZ. Sachsen 1943 bis 1949.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2016.
572 Seiten, 90,00 EUR.
ISBN-13: 9783525369722

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch