Vorbemerkungen zum Themenschwerpunkt „Krieg und Frieden“ in der April-Ausgabe

Der Themenschwerpunkt der April-Ausgabe setzt den der März-Ausgabe fort, befasst sich weiter mit dem Krieg in der Ukraine und beginnt mit dem Beitrag einer Autorin, die in der Ukraine geboren wurde, dort und in Mainz Germanistik, Pädagogik und Deutsch als Fremdsprache studierte und seit 2013 als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Mainz arbeitet. Der Krieg habe ihr die eigene Sprache verschlagen, bekennt Natalia Blum-Barth: „Mir fehlen Worte. Mir fehlen Worte dafür, dass in Europa im 21. Jahrhundert ein erbarmungsloser Vernichtungskrieg seit einem Monat dauert! In nur zwei Stunden Flugzeit, die Deutschland von der Ukraine und den Frieden vom Krieg trennen. / Mir fehlen eigene Worte, deshalb tue ich das, was ich seit zwei Wochen immer wieder tue: Ich übersetze. Es sind Notizen, die ein Sohn von seinen Eltern im belagerten Mariupol aus dem Keller bekam und veröffentlichte.“ Der erste Teil des Beitrags besteht aus diesen Übersetzungen, der zweite übermittelt Nachrichten von Freundinnen zur Geschichte eines Sohnes, der in der Ukraine seine Mutter verloren hat …

Der nächste Beitrag befasst sich mit einer im Januar erschienenen Studie zu Karl Jaspers als Arzt, Patient und Philosoph „unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine“. „Als Mohannad Abou Shoaks Buch in meinem Postfach lag“, erklärt die Rezensentin Katja Hachenberg, „war der Krieg in der Ukraine zum allgegenwärtigen Thema und Albtraum geworden; hatte sich der Schatten eines Despoten über Europa gelegt, dem Frühling die Farben und der Weltgemeinschaft den Atem geraubt. In diesen brutalen Zeiten mäandrierte die geplante Rezension formal wie inhaltlich zum Essay, bestrebt, in sich aufzunehmen und zum Ausdruck zu bringen, was zur neuen grausamen Realität geworden ist.“ Was Jaspers mit dem Begriff „Grenzsituation“ analysierte, spielt dabei eine zentrale Rolle.

Der Essay „Zwischen Ost und West“ eines inzwischen emeritierten wissenschaftlichen Mitarbeiters am Institut für Slawistik der Universität Leipzig über den Krieg ist ähnlich stark autobiographisch geprägt wie die beiden vorangehenden Beiträge. Erinnerungen an ukrainische Dichter vermischen sich mit Schilderungen persönlicher Erlebnisse. Es geht hier um Probleme, die der „wahrscheinlich renommierteste Vertreter der ukrainischen Literatur“ Juri Andruchowytsch u.a. in einem 2007 erschienenen Essayband mit der Frage nach dem Platz der Ukraine „zwischen Europa und irgendetwas anderem im Schatten Russlands“ reflektiert hatte. Durch die russische Invasion in der Ukraine sei „das Gefühl der Zwischenstellung zugunsten eines neuen, innigen Zugehörigkeitsgefühls zum Westen gewichen“, konstatiert Hans-Christian Trepte und fügt dem persönliche Erinnerungen hinzu:

Die Invasion Russlands in der Ukraine lässt mich aber auch an die Erzählungen meiner Eltern und Großeltern über die von Panzern überrollten Volksaufstände von 1953 in der DDR und 1956 in Ungarn denken; sie gehen des Weiteren zurück zum Schicksalsjahr 1968, das in Ostmitteleuropa mit anderen prägenden politischen Ereignissen und Erlebnissen verbunden ist. 1968 war ich als Schüler Zeuge der Studentenunruhen und antikommunistischen Widerstandsbewegung in Polen, im Sommer des gleichen Jahres sah ich mit eigenen Augen die mich bis heute zutiefst erschütternde Invasion der Sowjetunion und der Warschauer Vertragsstaaten in der Tschechoslowakei. Die tschechoslowakische Reformbewegung, verbunden mit Aleksander Dubček und dem frei gewählten Staatspräsidenten Ludvík Svoboda, dessen Name (svoboda = Freiheit!) symbolisch für den demokratischen Aufbruch stand, gab mir Hoffnung und Zuversicht. Umso tragischer empfand ich die gewaltsame militärische Zerschlagung des Prager Frühlings und damit eines hoffnungsvollen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“.

Die beiden letzten Beiträge im Themenschwerpunkt dieser Ausgabe haben Psychoanalytiker geschrieben: Bernd Nitzschke erinnert  an Hany Abu-Assads Film Paradise Now (2004), der 2005 mit dem Großen Preis der Europäischen Film- und Fernsehakademie und 2006 mit dem Golden Globe für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet wurde. Der Beitrag vergleicht die in dem Film dargestellten gewaltsamen Nahost-Konflikte zwischen Israelis und Palästinensern mit dem Krieg in der Ukraine und analysiert dabei den Umgang mit Rachephantasien und Racheakten von Selbstmordattentätern. Der Film handele vom „Wunsch nach Rache und den beiden Möglichkeiten, mit diesem Wunsch umzugehen – auf Rache zu verzichten oder Rache zu üben“. Der Beitrag verweist dabei auch auf den eines anderen Psychoanalytikers, und zwar mit den Worten: „Andreas Weber-Meewes hat die Bedeutung des Rachemotivs für den Krieg in der Ukraine vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte Wladimir Wladimirowitsch Putins überzeugend analysiert“. Dieser Betrag war vorher an anderer Stelle onlline erschienen. Wir haben ihn nachträglich mit Genehmigung des Autors in einer von ihm etwas modifizierten Fassung in unserem Schwerpunkt erneut veröffentlicht.

Der Themenschwerpunkt setzt am Ende die Erinnerungen an frühere Songs für den Frieden und das Ende der Kriege fort, mit denen der Schwerpunkt der vorigen Ausgabe begonnen hatte. Krieg und Frieden werden uns auch in den nächsten Ausgaben weiter beschäftigen.

Thomas Anz