Existenz(en) auf Widerruf?

Michael Wolffsohns „andere Jüdische Weltgeschichte“ warnt vor Geschichtsblindheit

Von Franz Sz. HorváthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Sz. Horváth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Michael Wolffsohn unterrichtete bis zu seiner 2012 erfolgten Emeritierung „Neuere Geschichte“ an der Universität der Bundeswehr in München. Zu seinen Forschungsgebieten gehören die deutsch-jüdische und die deutsch-israelitische Geschichte, die internationalen Beziehungen und demoskopische Fragestellungen. Bereits seit Jahrzehnten bezieht Wolffsohn Stellung zu tagesaktuellen Themen und schreckt dabei weder vor deutlichen Aussagen noch vor heiklen Publikationsorganen zurück, wenn es darum geht, „Tacheles“ zu reden. Seit seiner Emeritierung verging mittlerweile kaum ein Jahr ohne eine Buchpublikation von ihm. In diesen sowie in vielen Artikeln bezog er durchaus kontroverse Positionen, so etwa hinsichtlich der Terrorbekämfung durch die USA, des israelisch-palästinensischen Konflikts oder in der Frage der Integrationsbereitschaft von Muslimen in Westeuropa. In seiner Aufsatzsammlung „Tacheles“ (Freiburg u.a. 2020) setzte er sich u.a. mit dem Zustand der heutigen SPD und dem muslimischen Antisemitismus auseinander. Für seine Ansichten wurde Wolffsohn von Politikern wie von Journalisten oft kritisiert.

In seiner vor Kurzem vorgelegten Darstellung Eine andere Jüdische Weltgeschichte geht es Wolffsohn selbstredend um mehr als nur um eine weitere Erzählung der jüdischen Geschichte. An solchen Büchern mangelt es in Deutschland und auch generell nicht. Die Tradition der größten jüdischen Historiker (Heinrich Graetz, Simon Dubnow, Salo W. Baron) fortsetzend, liefert der Autor vielmehr ein eigenes Narrativ jüdischer Diasporaexistenz und -geschichte. Hierzu deutet er die jüdische Geschichte bereits im Land Israel als eine „Existenz auf Widerruf“, welchen Ausdruck er auch auf die jüdischen Diasporagemeinden anwendet. Die Geschichte der Juden habe sich demnach stets und überall unter dem Damoklesschwert ihrer Vernichtung vollzogen, so dass Bedrohung, das Wissen um die Zerbrechlichkeit der eigenen Existenz, die Gefährdung und das Bewusstsein, jederzeit und urplötzlich vor den Trümmern der eigenen Existenz stehen zu können, zu den Grunderfahrungen jüdischen Seins gehören. Beinahe bis in die Gene hinein sei diese Urerfahrung transportiert worden, so Wolffsohn.

Um die jüdische Geschichte und Kultur dem Leser nahezubringen, teilt der Verfasser sein Buch in neun Kapitel. Die ersten drei stellen eine Hinführung zum Thema dar, dabei geht er auf die Namen für und die Benennungen von Juden ein und erörtert (für den Rezensenten eher oberflächlich) die alte Frage, ob das Judentum als Volk, Religion, Nation oder Schicksalsgemeinschaft zu verstehen sei. Im vierten Kapitel, das das ausführlichste und wichtigste ist, behandelt Wolffsohn die jüdische Geschichte in ihrer Vielfalt. Die vielen Schauplätze und Zeitpunkte auf dem gesamten Globus sollen die Berechtigung des Titels Eine andere Jüdische Weltgeschichte erweisen. Dabei geht der Autor von zwei Grundfakten aus, nämlich dass es sich bei den Juden tendenziell schon immer um eine städtische Gesellschaft handelte, die aber stets in engem Kontakt mit einer nichtjüdischen Umwelt stand, und dass jüdische Geschichte auf den zwei Säulen „Israel“ (Land und Leute) und „Diaspora“ aufbaue – seit der Antike. Unabhängiges jüdisches Leben war im antiken Israel nur möglich, wenn die Nachbarn (Ägypten, Mesopotamien) schwach waren. Erfahrungen des Exils und der Diaspora gehörten daher damals schon zur jüdischen Existenz. Seit der Zerstörung des Zweiten Jerusalemer Tempels durch römische Soldaten (70 n. Chr.) und der danach erfolgten Zerstreuung der Juden im Römischen Reich prägte bis 1948 das Leben in der Diaspora die jüdische Existenz.

Dieser Existenz beziehungsweise diesen Existenzen in allen Erdteilen spürt Wolffsohn im größten Teil dieses Kapitels nach. Er beginnt zuerst mit Deutschland, wendet sich anschließend dem Orient (Ägypten, Arabische Halbinsel usw.) und dem Okzident zu, lässt aber auch Amerika, Südafrika und Asien nicht aus. „Existenz auf Widerruf“ als Grundmuster jüdischen Lebens und jüdischer Welterfahrung bedeutet für ihn die historische Erfahrung, dass jüdisches Leben stets am seidenen Faden hing, den der jeweilige Herrscher (ob in einem der deutschen Lande, oder in Spanien, England, Nordafrika usw.) stets durchschneiden konnte, je nach dem Grad seines religiösen oder anders motivierten (nationalen, ethnischen, ökonomischen) Fanatismus sowie dem seiner machtpolitischen Basis. Denn wann auch immer die Unter- oder Mittelschichten einer Gesellschaft rebellierten, drohte der jeweiligen jüdischen Gemeinde bestenfalls die Vertreibung, schlimmstenfalls die blutige „Liquidierung“. Warum gerade die Juden? Seit der Zerstörung des Zweiten Tempels sei im Judentum die vorherige „Tempelaristokratie“ entmachtet worden und eine „Leistungsgesellschaft“ entstanden. Bedingt durch ihre traditionellen Handelstätigkeiten, ihre Betonung der Alphabetisierung und das Abdrängen in bestimmte Finanzbereiche seien die jüdischen Gemeinden im Vergleich mit ihrem Umfeld wirtschaftlich überdurchschnittlich erfolgreich gewesen, so dass sie nur allzu häufig ein lohnendes Angriffsziel der Herrscher und der unteren Schichten waren. Daher widerriefen viele Herrscher eben nur allzu oft jene Rechte und Möglichkeiten, die sie den Juden gewährten, was in vielen Ländern wiederholt zur Vernichtung jüdischen Lebens geführt habe. Zwar hätten die Herrscher vielfach rasch erkannt, dass sich Antisemitismus nicht lohne, denn Länder mit einer blühenden jüdischen Gemeinde seien wirtschaftlich stets erfolgreicher gewesen als jene, aus welchen die Juden vertrieben wurden. Doch in Krisenzeiten sei es offenbar stets am einfachsten (gewesen), gegen Juden vorzugehen.

Nach diesem Panoramablick über die Entwicklung der jüdischen Gemeinden in einer Reihe von Ländern, weitet der Autor seine Darstellung aus und widmet sich in den nächsten Kapiteln der jüdischen Religion (Tora, Talmud, Gottesvorstellungen), jüdischer Kultur- und Rechtsgeschichte sowie selbst solchen auf den ersten Blick überraschend anmutenden Themen wie Körperlichkeit und Sex. Das vorletzte Kapitel ist den Formen und Ausprägungen jüdischen Identitätsbewusstseins gewidmet. Dabei werden die Rolle des Antisemitismus für dieses Bewusstsein, Namensgebungen als Indizien jüdischer Identität oder die unterschiedlichen Deutungen des Holocaust im Gesamtgefüge der jüdischen Heilsgeschichte thematisiert. Im letzten Kapitel „Bedeutsame Juden – eine subjektive Skizze“ stellt der emeritierte Geschichtsprofessor schließlich knapp 100 jüdische Personen vor, die er aus unterschiedlichen Gründen als wichtig erachtet.

Große Historiographie entsteht dann, wenn ein historisches Werk vom Vergangenen ausgeht, aber zur Gegenwart spricht. Der Autor unterbricht sein Narrativ mehrfach und lässt kursiv gesetzt allgemeine Betrachtungen einfließen, die sich zweifellos an das Heute wenden:

Wo und wenn es zu Judenverfolgungen und -ermordungen kommt, kann […] man vermuten, dass dieser besondere Sachverhalt auf ein allgemeines Krisenproblem hinweist. Judenhass, Judenverfolgung und Judenvernichtung wären […] ein allgemeiner Krisenindikator. (111)

Diese Zeilen stehen nicht zufällig im Kapitel über die jüdische Existenz in Marokko. Wolffsohn räumt in seiner Darstellung nämlich zum einen mit der verbreiteten „Schulweisheit“ (wie er sie nennt) von der islamischen Toleranz auf und unterstreicht wiederholt, dass jüdisches Leben auch in den islamischen Ländern stets eine „Existenz auf Widerruf“ war. Selbst im oft gerühmten Andalusien, das in Schulbüchern vielfach als Ort paradiesischer, interkultureller und interreligiöser Toleranz verklärt wird, ging es um die Interessen und Zwecksetzungen der Herrschenden, aber nicht um das bewusste Tolerieren Andersgläubiger.

Zum anderen begreift der Autor heutiges jüdisches Leben in Europa ebenfalls als stark gefährdet und verweist auf den zwanzigprozentigen Rückgang des Judentums in Frankreich seit 2000. Er betont hierbei, dass jüdisches Leben konkret auch vom linken Antisemitismus bedroht und vom islamistischen Antisemitismus (ganz stark etwa in Frankreich) bekämpft und ausgelöscht wird. Für den Münchener Historiker ist es also ausgemacht, dass derzeit eine europäische Krisenlage existiert, in der sich eine für Juden bedrohliche Gemengelage zusammenbraut. Die Juden sind aktuell erneut ins Zentrum des Interesses von Judenfeinden geraten und ihre Existenz steht kurz davor, widerrufen zu werden. Wer möchte ihm, angesichts des sich langfristig angebahnten und nicht verhinderten Antisemitismusskandals auf der „documenta15“, angesichts wiederholter, alljährlicher antisemitischer Demonstrationen in Berlin am „Al-Kuds-Tag“ und all der anderen Vorfälle der letzten Jahre (Attentate auf Synagogen, Märsche, antisemitische Songzeilen usw.) widersprechen? Michael Wolffsohn ist pessimistisch, was das Vorgehen der Politiker gegen diesen Trend anbelangt. Gerade wenn der Antisemitismus aus islamischen Kreisen komme, wagten sie es nicht, gegen ihn vorzugehen, denn es stünden zu viele Wählerstimmen auf dem Spiel, meint er. Obwohl dem Autor gewiss keine Sympathie für eine Person wie Viktor Orbán in Ungarn nachgesagt werden kann, verweist er auf die Tatsache, dass im Land des rechtsgerichteten ungarischen Premiers, der sich seit Jahren gegen die europäische Einwanderungspolitik wehrt, die Synagogen nicht beschützt werden müssen und jüdisches Leben anerkanntermaßen ungefährdet ist.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Wolffsohn eine hervorragende „jüdische Weltgeschichte“ gelungen ist. Sie ist zwar nicht fehlerfrei (das Opfer des ungarischen Stalinismus, László Rajk, war nicht, wie auf S. 193 suggeriert, jüdischer, sondern siebenbürgisch-sächsischer Herkunft) und die vom Autor benutzte Terminologie („judenfrei“ oder „liquidieren“), bezogen auf das Mittelalter, empfindet der Rezensent als unpassend und anachronistisch. Gerade diese Begriffe stören zudem den Lesefluss einer ansonsten wunderbar genussvollen Darstellung, die häufig erfrischend bissig und spöttisch ist. Das Narrativ von den „Existenz(en) auf Widerruf“ und insbesondere die pessimistische Diagnose unserer Gegenwart hinsichtlich einer vorstellbaren jüdischen Zukunft in Europa dürften bei Vielen auf Kritik stoßen. Trotz dieses negativen Narrativs unterstreicht der Verfasser aber auch die vielen friedlichen Zeiten jüdischen Lebens und sieht die jüdischen Gemeinden nicht ausschließlich als Opfer, sondern auch als handelnde, mit- und untereinander streitende Akteure. Da es der Autor geschafft hat, Geschichte nicht nur als Stoff einer Erzählung zu begreifen, sondern sie als eine Entität, als eine historische Wirklichkeit darzustellen, deren Folgen in unsere Gegenwart hineinreichen, ist ihm ein großes, empfehlenswertes Stück Geschichtsschreibung gelungen.

Titelbild

Michael Wolffsohn: Eine andere Jüdische Weltgeschichte.
Herder Verlag, Freiburg 2022.
368 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783451389788

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