Zu viel Spaß am Morden

Kôtarô Isaka fragt in seinem temporeichen Thriller „Bullet Train“ nach der Professionalität von Berufskillern und der Bedeutung guter Beziehungen

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der aus der Präfektur Chiba stammende Kôtarô Isaka hatte sein literarisches Debüt zu Beginn der 2000er als Autor von japanischer Unterhaltungsliteratur. Bei Bullet Train (im jap. Original Maria biitoru; „Marienkäfer“) handelt es sich um einen komödiantisch unterlegten Killer-Thriller aus dem Jahr 2010, der im Shinkansen-Schnellzug nach Nordostjapan spielt. Es geht um eine Reihe von Auftragsmördern, die im Zug scheinbar mehr oder weniger zufällig aufeinandertreffen. Anfangs stellt sich die Lage verwirrend dar. Während die Dinge ihren überraschenden, oft letalen Lauf nehmen und sich die Zahl der Akteure sukzessive reduziert, erfährt man nähere Hintergründe zu den Kombattanten. Unter ihnen sind der ärgste Pechvogel im Geschäft, Nanao (der von der Vermittlerin „Maria“ entsandte „Marienkäfer“), die beiden berühmten Assassinen Lemon und Tangerine, der etwas aus der Übung gekommene Kimura sowie der junge Satoshi Oji, ein Schüler mit sadistischen Neigungen. Dem Autor gelingt es, das Szenario auf einem hohen Spannungslevel zu halten. Am Ende wird klar, dass der meist in groteske Szenen mündende Gewalteinsatz und das mit ihm gezeichnete dunkle Bild einer japanischen Gesellschaft dazu dienen, die Frage nach einem ethischen Mindeststandard im frühen 21. Jahrhundert aufzuwerfen.

In Gang gesetzt wird die Erzählung durch die Bedrohung zweier Söhne: Zum einen bezieht sich dies auf den entführten Sohn des Mafia-Bosses Minegishi (Lemon und Tangerine sollten ihn befreien), zum anderen auf den sechsjährigen Wataru. Minegishis missratener Sprössling fährt bald nur noch als Leiche im Zug mit. Das Kind des ehemaligen Profikillers Kimura liegt dagegen bewusstlos im Krankenhaus, bedroht von einem Handlanger des grausamen Satoshi Oji, der seinerseits – mit dem ihm ausgelieferten Vater Kimura im Schlepptau – dem Geschehen beiwohnt, um die menschliche Natur und die Möglichkeiten ihrer Manipulation zu studieren. Die Figur des Satoshi führt eine, in der japanischen Unterhaltungsliteratur vor allem durch Texte von Ryû Murakami (aber auch von Natsuo Kirino, Akira Kuroda, Kanae Minato) vertretene Linie der „Mörderkinder“ fort, deren Destruktivität den Zerfall des sozialen Zusammenhalts in Japan repräsentiert. Der feminine, gutaussehende Junge stellt als vollkommener Psychopath den Gipfel der Fehlentwicklung von Sozialisierung in einem Land dar, dessen traditionelles, politisch oft genug instrumentalisiertes Ideal die familiäre Gemeinschaft ist. Insgesamt kann Bullet Train als Allegorie auf ein – im Text durch die Jagd nach dem Geldkoffer verdeutlichtes – konsequent kapitalistisch ausgerichtetes, immer schneller auf der Bahn seiner High End-Technoinfrastrukturen dahinrasendes Japan gelesen werden: Die normalen Passagiere in diesem Schnellzug in die Zukunft sind nur noch ahnungslose Zuschauer, während die Mächtigen und ihre Handlanger die Kämpfe um Positionen und Ressourcen im Geheimen austragen.

Satoshi, genannt „der Prinz“, ist ein von Isaka in seiner Arroganz überzeugend gestalteter devianter Charakter, gekennzeichnet durch das Fehlen jeglicher Empathie. Seine Menschenverachtung und der darauf fußende Ehrgeiz, herauszufinden, was den Homo sapiens bewegt – zum Zwecke völliger Unterjochung – offenbart sich in zahlreichen Momenten. Dass die Lehrer seiner Klasse aufgrund eines Infektionsgeschehens protokollgemäß für mehrere Tage den Unterricht absagen, nutzt der Schüler für ein Abenteuer im Shinkansen: Er will sehen, wieweit er mit dem durch steten Alkoholgenuss lädierten ehemaligen Profi Kimura, über dessen kleinen Sohn Wataru er als Geisel verfügt, gehen kann. Der Zeitgeist, der zunehmende Entsolidarisierung und eine fortschreitende Zerrüttung menschlicher Beziehungen mit sich brachte, spielt ihm augenscheinlich in die Hände. Er belehrt Kimura: „Auf alte Bekannte darf man sich nicht verlassen. Selbst wenn sie einem etwas schuldig sind. Schulden vergisst man. Die Zeiten, in denen der eine sich auf den anderen verlassen kann, sind längst vorbei. Womöglich hat es sie nie gegeben.“

Die Machtstrategien, die Regierungen oder mächtige Institutionen wie die UNO gerne gegenüber ihren Schutzbefohlenen anwenden, sind Vorbild für den begabten Schüler. Die ultimative Regel der Manipulation lautet: „Der Mensch folgt der Herde“. Generell müsse man nur die Mechanismen, die die Menschen gefügig machten, aktivieren: Minderwertigkeitsgefühle, Schuld und Scham. Der Angriffspunkt liege bei der Selbstachtung, die man, wurde der wunde Punkt erst gefunden, leicht untergraben könne. Allerdings täuscht sich der „Prinz“, wenn er meint, er sei den erfahrenen Auftragsmördern ebenbürtig. Mehr als die mit Nihilismus durchtränkte intellektuelle Kartierung der menschlichen Psychologie zählen in Isakas Gangsterkosmos Erfahrung und Einsicht in die Unberechenbarkeiten des Lebens. Die größten Vorteile im Kampf haben daher diejenigen, die schon lange in diese Schule des Kontingenten und Absurden gegangen sind. So bekommt der bereits schwer in Mitleidenschaft gezogene Kimura am Ende Hilfe von unerwarteter Seite, und Satoshi ereilt wohl ein (verdient) schlimmes Schicksal.

Isakas Thriller greift viele Themen und Motive bekannter Hitmen-Repräsentationen auf. Seine Killer sind absolut professionell, hängen aber auch dem üblichen, im Genre geltenden Ehrenkodex an: Schwächere sind zu schonen, man tötet nicht um des Tötens willen, und für die Familie tut man alles. Diese Minimalethik eines zu verhindernden Tabubruchs im Hinblick auf den Mord aus Langeweile bewährt sich im Bullet Train. Zudem wird der sympathische Antiheld Kimura gerettet und der vom Unglück verfolgte Nanao erfährt nachhaltige Unterstützung durch seine Vermittlerin „Maria“. Dass der japanische Autor der Killerthematik noch etwas hinzuzufügen hatte, beweist nicht zuletzt die Verfilmung seines in Japan äußerst erfolgreichen Buchs durch Sony Pictures Entertainment, die im Juli 2022 in Paris Premiere feierte. In der Hauptrolle ist Brad Pitt („Marienkäfer“) zu sehen, neben ihm u.a. Hiroyuki Sanada, Hiroaki Kôji und Sandra Bullock („Maria“). Insider hätten sich vielleicht eine originalgetreuere Umsetzung gewünscht – eventuell sogar mit Kimura Takuya als Vater von Wataru.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Kotaro Isaka: Bullet Train. Thriller.
Aus dem Japanischen von Katja Busson.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2022.
384 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783455013221

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