Intermediale und internationale Erkundungen dunkler Kontinente und fantastischer Welten

Die Mysterien von Traum und Schlaf als Themen einiger aktueller Bücher

Von Iris SchäferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Iris Schäfer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht nur im Umfeld des DFG-Graduiertenkollegs Europäische Traumkulturen entstehen in jüngster Zeit umfassende und umfangreiche Analysen und Studien zu den Phänomenen Schlaf und Traum. Ungeachtet der divergierenden Schwerpunkte eröffnen die jeweiligen Projekte grundlegende Gemeinsamkeiten. Beispielsweise hinsichtlich der Erfordernis eines inter- beziehungsweise transdisziplinären Zugangs. Darüber hinaus ranken sich trotz des wissenschaftlichen Bemühens nach wie vor zahlreiche Mysterien um Schlaf und Traum. Diesem Umstand scheint auch die anhaltende Faszination an diesen Gegenständen geschuldet. Eine grundlegende Gemeinsamkeit der Phänomene besteht darin, dass sich der Schlaf und der Traum auf nahezu sämtliche Lebens- und Erfahrensbereiche des Menschen erstrecken und sich für unterschiedlichste wissenschaftliche Disziplinen als lohnenswerte Forschungsgebiete erweisen. Sie sind eng mit gesellschaftlichen und kulturellen Praktiken verbunden, sodass der kulturhistorische Fokus, den Hannah Ahlheim in ihrer Monografie Der Traum vom Schlaf im 20. Jahrhundert. Wissen, Optimierungsphantasien und Widerständigkeit wählt, unter anderem einen Eindruck von variantenreichen Vorstellungen des Subjekts und seiner Erfahrenswelt ermöglicht.

Der Sammelband (Traum und Inspiration. Transformationen eines Topos in Literatur, Kunst und Musik) resultiert aus einer Tagung, die im Oktober 2016 an der Universität des Saarlandes im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs Europäische Traumkulturen stattfand. Er enthält 16 Beiträge in deutscher, englischer und französischer Sprache, die jeweils das Verhältnis von Traum und Kreativität fokussieren. Dieser multiperspektivische und internationale Zugang zeugt von der Komplexität des Gegenstandes und vermittelt einen Eindruck von den vielfältigen Möglichkeiten, die Mysterien des Traumes wie auch der Kreativität aus literatur-, kultur- und medienwissenschaftlicher, kunst- und musikgeschichtlicher, aber auch philosophischer und theologischer Sicht zu perspektivieren.

Auch die Beiträge des Handbuchs (Traum und Schlaf. Ein interdisziplinäres Handbuch) von Alfred Krovoza und Christine Walde berücksichtigen – wie es der Untertitel bereits andeutet – zahlreiche künstlerische, literarische, juristische und philosophische Zugänge zum Schlaf und Traum. In ihrem Handbucheintrag zur Literaturwissenschaft spricht Isabel Maurer Queipo an, dass das Geheimnis des Schlafs im Gegensatz zum Traum innerhalb der Literaturwissenschaft ein kaum beachtetes Thema sei. Hanah Ahlheim, deren Beitrag zur Ökonomisierung des Schlafs auch im Handbuch enthalten ist, unternimmt mit ihrer umfangreichen Studie zum Traum vom Schlaf im 20. Jahrhundert einen beachtlichen Versuch, diese Forschungslücke zu schließen. Die auf ihrer Habilitationsschrift basierende Monografie ist sehr gut strukturiert und vermittelt einen Überblick über die vielfältigen kulturhistorischen Entwicklungen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bis zu gegenwärtigen Tendenzen in der Erforschung des „dunklen Kontinents“ Schlaf. Als Titel hätte sich ebenfalls die von ihr als Kolonialisierung dieses dunklen Kontinents benannte Praktik angeboten, fokussiert sie doch insbesondere die Bemühungen, seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, dieses Mysterium zu ergründen und gewissermaßen zu beherrschen. Im Vergleich zu den multiperspektivischen, thematisch viel- und reichhaltigen Beiträgen des Sammelbands sowie des Handbuchs mutet die Lektüre der Monografie bisweilen recht eindimensional an. Zwar wird der kulturgeschichtliche Fokus an einigen Stellen durch Erwähnungen des Schlafs im Film (zum Beispiel im Cabinet des Dr. Caligari), im Kinderreim, insbesondere im Schlafreim oder auch in künstlerischen Fotografien der 1970er Jahre aufgelockert, doch ergibt sich hier und da das Bild einer deskriptiven, wenngleich sehr unterhaltsamen und lehrreichen Wissenschafts-Schau. Philosophische Schlussfolgerungen sind spärlich gesät und werden weitestgehend der Leserschaft überlassen. Abgesehen davon zeugt die Studie von intensiver und fundierter Recherche. Entgegen dem Beitrag von Tuin und Krills zum Gestörten Schlaf und Schlaflosigkeit aus dem Handbuch nimmt Ahlheim nicht nur die Schlaflosigkeit in den Blick, die sie etwa durch Feldpost-Auszüge und Berichte von der Heimatfront die Zeitzeugen selbst bekunden beziehungsweise beklagen lässt, sondern auch gegenteilige Erscheinungen wie die Narkolepsie sowie deren Behandlung. Ahlheims Zugang erweist sich als fokussierter und ermöglicht es daher, einzelne Aspekte ausführlicher und in ihrer ganzen Breite und Komplexität auszuführen. Besonderes Augenmerk richtet sie in diesem Zusammenhang auf den Wissenstransfer zwischen Deutschland und den USA sowie die kulturellen Praktiken, etwa hinsichtlich der Ökonomisierung des Schlafs, die sich als überaus aufschlussreich in Bezug auf wandelbarer Vorstellungen des Menschen sowie der Auffassung von der Seele und dem Unbewussten erweisen. Die vier thematischen Abschnitte (1. die frühe Schlafforschung um 1900, 2. der gestörte Schlaf zwischen den beiden Weltkriegen, 3. die Entstehung der modernen Schlafforschung aus dem Krieg in der Zeit zwischen 1940 und 1960 sowie 4. der Schlaf in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts) vermitteln das Bild eines sich stetig steigernden Bemühens, den Schlaf und den schlafenden Menschen zu ergründen. Während die Schlaflosigkeit im nervösen Zeitalter um 1900 wie auch in Kriegszeiten, insbesondere mit Blick auf die Schlaflosigkeit der Soldaten als Massenphänomen, diagnostiziert und medikamentös behandelt wurde, hat sich aktuell der Fokus auf das Individuum verlagert, das es nun selbst in der Hand hat, seine individuellen Schlafgewohnheiten (etwa mittels Schlaf-Apps) zu optimieren. Ahlheims Blick auf die Entwicklungsgeschichte und die Erziehung zum Schlaf nach vorgegebenen Mustern macht deutlich, dass sich der Schlaf im modernen Zeitalter keineswegs als natürliche Ressource, sondern viel eher als erlernte Gewohnheit erweist, die weniger Privatsache, sondern – je nach gesellschaftlicher Situation – regelrechte Staatsangelegenheit ist.

Aufgrund des dezidierten Fokus auf den Schlaf eröffnet die Monografie kaum Anknüpfungspunkte an den auf den Traum fokussierten Sammelband. Zum Handbuch, das beide Phänomene (Traum und Schlaf) thematisiert, ergeben sich jedoch einige Parallelen, beispielswiese hinsichtlich der Geschichte der Schlafmittel oder der Ökonomisierung des Schlafs. Generell ist Alfred Krovoza und Christine Walde zuzustimmen, die in ihrem Vorwort darauf hinweisen, dass sich diese komplexen Phänomene schwerlich als „handbuchfähig“ erweisen. Das aus 31 Beiträgen bestehende Werk solle dementsprechend keineswegs als Nachschlagewerk sanktionierten Wissens verstanden werden, sondern die Vielfalt und Heterogenität der beiden komplexen Phänomene veranschaulichen sowie Anregungen für eine weiterführende Beschäftigung geben. In diesem Sinne formuliert es einen ähnlichen Anspruch wie der international und interdisziplinär orientierte Sammelband. Im Unterschied zu diesem sind die einzelnen Beiträge des Handbuchs (mit wenigen Ausnahmen) Gender-sensibel formuliert und durchgehend mit Querverweisen versehen, die thematische Überschneidungen mit anderen Beiträgen markieren, was sich insbesondere für die Konzentration auf einzelne Schwerpunkte und deren mögliche Vertiefung in anderen Kapiteln als hilfreich erweist. Der Blick ins Inhaltsverzeichnis offenbart, dass hier (im Unterschied zu Ahlheims Monografie) keine historische Chronologie beider Phänomene, sondern der Fokus auf verschiedene Wissenschaften dominiert. Der Einleitung folgen die thematischen Kategorien: „Traumdeutung und Traumaufzeichnungen“, „Ausdrucks-, Gedächtnis- und Kommunikationsmedien“, „Sozial- und Geisteswissenschaften“, „Lebenswissenschaften“ und abschließend: „Tendenzen der Gegenwart“. Der Anhang besteht aus dem Verzeichnis der Autor*innen, ausgewählten „Traumklassikern“ sowie der Auflistung von Gesellschaften und Sekundärliteratur zur Traum- und Schlafforschung.

Das weite Feld des Schlafs und Traums in Kategorien zu unterteilen, erweist sich zur Eingrenzung als durchaus sinnvoll, der nähere Blick offenbart allerdings, dass die interessierte Leserschaft es sich schwerlich erlauben kann, einzelne Beiträge zu übergehen, da sich immer wieder Anknüpfungspunkte und Querverweise ergeben. Eine weitere Problematik wird in den beiden unter der Einleitung zusammengefassten Beiträgen deutlich, nämlich dass der Traum zunächst in eine semantische Struktur überführt werden muss, um lesbar und zum Gegenstand der Betrachtung zu werden. Alfred Krovoza und Gunthard Müller gehen zwar nicht explizit darauf ein, dass der imaginäre Charakter des Traums durch Sprache beziehungsweise Schrift modelliert und in ein darstellendes Medium überführt wird – dies hat Peter-André Alt in seiner wegweisenden Studie Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit bereits im Jahr 2002 ausformuliert – sie vermitteln in ihren einleitenden, essayistischen Beiträgen jedoch einen Eindruck von der Kultur- und Sprachgeschichte der Begrifflichkeiten (Traum und Schlaf), wodurch bisher kaum reflektierte Eigenheiten des Phänomens veranschaulicht werden. Krovoza zeichnet die horizontale und vertikale Kulturarbeit am Traum nach und überführt den Begriff in eine zeitliche und räumliche Ordnung, während Müller in seiner sprachwissenschaftlichen Analyse sprachgeschichtliche und semantische Charakteristiken der Phänomene beleuchtet. Die beiden Beiträge ergänzen sich hervorragend, da sich der kulturelle Wandel im Sprachgebrauch spiegelt. Die Ausführungen darüber, auf welche Weise sich diese lexikalische Charakteristik der Begriffe in der Literatur des Mittelalters, aber auch in der Religion niederschlägt, wie sich das Private zum Allgemeinen verhält und welche Bedeutung der psychoanalytischen und wissenschaftlichen Traum- und Schlafforschung mit Blick auf die erst seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zu beobachtenden Wort-Neuschöpfung hat, erweist sich als ideale thematische Einführung. Zudem wird hier bereits ein Aspekt deutlich, der sich durch das gesamte Handbuch zieht: Die Thematik lässt sich schwerlich aus der Perspektive nur einer Wissenschaft betrachten. Sie ist universell und daher erstaunt es auch nicht, dass in der folgenden Rubrik „Traumdeutung und Traumaufzeichnungen“, der die Beiträge von Christine Walde und Hans-Walter Schmidt-Hannisa subsumiert sind, keineswegs ausschließlich historische und psychoanalytische Perspektiven Berücksichtigung finden. Waldes Beitrag zur Geschichte der Traumdeutung und -nutzung ist dementsprechend nicht nur hinsichtlich der historischen Entwicklung beider Praktiken erhellend, sondern auch mit Blick auf die Religions-, Medizin- und Kulturgeschichte. Auch literaturtheoretische Überlegungen, wie etwa die Nähe der Traumdeutung zur Hermeneutik sowie die Traumdeutung als kommunikatives Phänomen, deren Bildsprache es zu übersetzen und zu dekodieren gilt, werden angesprochen. Diese Analogie findet sich auch in Schmidt-Hannisas Beitrag zu Traumprotokollen und Traumtagebüchern, der einen Überblick über die Eigenheiten dieser literarischen Prägung, die schwerlich als eigene Gattung aufgefasst werden kann, gibt.

Die Rubrik „Ausdrucks-, Gedächtnis- und Kommunikationsmedien“ beginnt mit einem überblickshaften Beitrag von Andreas Lenz zu Mythen, Legenden und Märchen, der am ehesten einem „typischen“ Handbucheintrag gleicht. Querverweise zu kultur-, literatur-, oder religionsgeschichtlichen Aspekten sucht man hier vergebens. Etwas ausführlicher ist hingegen der Beitrag von Isabel Maurer Queipo geraten, der immerhin einen gut sortierten Einblick in einige Tendenzen der erzählenden Literatur zum Schlaf und Traum bietet, wobei das Literaturverzeichnis zu diesem Beitrag leider unvollständig ist. Hannah Fitsch nimmt im Anschluss technische Dystopien und Utopien in der Science-Fiction in den Blick und geht zum Beispiel auf die Abwertung des Unbewussten im Zusammenhang mit dystopischen Traumdarstellungen der Science Fiction ein – ein Ansatz, der erneut die transdisziplinäre Perspektive auf die Phänomene veranschaulicht. Auch in den auf das Theater (Achim Lenz), die Bildenden Künste (Ulrich Pfarr), die Film- (Ingo Stelte) und Musikgeschichte (Arne Stolberg) fokussierten Beiträgen wird diese Notwendigkeit deutlich. Aus der vergleichenden Lektüre ergibt sich der Eindruck, dass sich hier und da Vertiefungs- und Ergänzungsmöglichkeiten ergäben, die jedoch in einem Handbuch aufgrund der überblickshaften Funktion schwerlich zu leisten sind.

Einige aufschlussreiche Erkenntnisse bietet der Beitrag von Uta Brandes und Michael Erlhoff zum Design beziehungsweise der gestalteten Verbindung von Schlaf und Traum. Die Schlagworte des Entwerfens und Gestaltens finden im aktuellen wissenschaftlichen Schlaf- und Traumdiskurs tatsächlich kaum Beachtung, sodass dieser Beitrag als wertvolle Innovation erscheint. Der Fokus verlagert sich schließlich von den Künsten auf die „Sozial- und Geisteswissenschaften“. Eingeleitet wird diese Kategorie durch Petra Gehrings philosophischen Beitrag, der sich nicht annähernd als so komplex erweist wie der Eintrag zum Traum im Historischen Wörterbuch der Philosophie; die philosophischen Erwägungen, die sie aus den fokussierten Tendenzen ableitet, sind jedoch überaus lesenswert. Die besondere Relevanz der Geschichte der Philosophie wie auch der Geschichte der Psychoanalyse wird in Christoph Türckes (Freud-zentriertem) sowie Guido Sprengers Beitrag  zur Ethnologie deutlich. Die Beiträge zur Geschichts- (Gregor Weber), Literatur- (Isabel Maurer Queipo) und zur Kunstgeschichte und Kunstwissenschaft (Gerlinde Gehrig/Ulrich Pfarr) eröffnen wiederum Anknüpfungspunkte und Querverweise zu einigen der im vorigen Abschnitt enthaltenen Beiträge. Deutlich werden allerdings auch Verbindungslinien zu benachbarten Disziplinen. So gleicht die kunstwissenschaftliche Hermeneutik der Freud’schen Traumdeutung und dementsprechend psychoanalytischer Methodik; gestreift werden auch die Felder der Religions-, Literatur- und Kulturgeschichte. Diese Ausführungen erweisen sich insbesondere hinsichtlich eines Überblicks über die aktuelle Forschungslage als überaus erhellend.

Unter der Kategorie „Lebenswissenschaften“versammelt sind Beiträge von Michael H. Wiegand zur „Neurobiologie von Schlaf und Traum“, Jennifer M. Windt zu den „Kognitionswissenschaften und Philosophie des Geistes“ und Michael Schredl zur „aktuellen empirischen Traumforschung“. Darüber hinaus Heinrich Desernos und Stephan Haus ausführlicher Beitrag zur „Psychoanaylse“, der einige zuvor angesprochene Aspekte von Freuds Traumdeutung ergänzt und irritierenderweise einige Aspekte späterer Beiträge, etwa Leuschners Ausführungen zur Relation von Körper und Geist im Traum bzw. der Körperwahrnehmung, weitaus ausführlicher vorwegnimmt.

Stephan Haus weitere Beiträge zur „Experimentellen Schlaf- und Traumforschung“ sowie zur„Erinnerung“ und „Gedächtnis in der Schlaf- und Traumforschung“ eröffnen zahlreiche Anknüpfungspunkte und Querverweise zu Ahlheims Monografie. Nicht nur an diesem Beispiel macht sich die Bereicherung einer ergänzenden Lektüre der ausgewählten Texte deutlich. Die besondere Attraktivität des Handbuchs besteht allerdings im multiperspektivischen Zugriff auf die beiden Phänomene, der die interessierte Leserschaft zu zahlreichen Erweiterungen des eigenen (wissenschaftlichen beziehungsweise disziplinären) Fokus anregt. So erweisen sich die finalen Beiträge zu Alpträumen (Reinhard Pietrowsky), die überaus reflektierten und philosophisch orientierten Überlegungen zum Onirischen (Hans Ulrich Reck), wie auch die religions- und medizinhistorischen Ausführungen zum nervösen Zeitalter (Inka Tuin / Manfred Krills) und die rechtsgeschichtlichen Erörterungen zu „Nächtlicher Ruhestörung“ (Dieter Dörr / Daniela Tröppner), die unter anderem auf E.T.A. Hoffmanns literarische und berufliche Tätigkeit Bezug nehmen, auch für Literaturwissenschaftler*innen als aufschlussreich. Auch der aus dem Amerikanischen übersetzte Beitrag von Daniel Oldis zu aktuellen Experimenten in der amerikanischen Schlaf- und Traumforschung, mit dem das Handbuch endet, erweist sich mit Blick auf die neuere Fantasy als wertvoll – schließlich zeigen sich hier zahlreiche Referenzen auf die aktuelle Forschung, die ihrerseits fantastisch anmutet und den Bogen zu den einleitenden philosophischen Überlegungen schlägt und zu Reflexionen darüber anregt, ob die antike Vorstellung davon, über Träume mit jenseitigen oder göttlichen Instanzen zu kommunizieren, weniger befremdlich erscheint als die Kommunikation zwischen zwei Schlafenden, die experimentell im Schlaflabor erprobt wird – ein Aspekt, der auch in Ahlheims Monografie thematisiert wird.

Ungeachtet der Tatsache, dass sich die Themen des Schlafs und Traums schwerlich als „handbuchfähig“ erweisen, veranschaulichen die Beiträge des Handbuchs einen sehr guten Eindruck von der Komplexität der beiden Phänomene und regen zu weiterführenden Überlegungen an. Als überaus genussvoll erweist sich die Lektüre auch aufgrund des tadellosen Lektorats sowie der hervorragenden Herausgeber*innen-Leistung hinsichtlich der zahlreichen markierten Querverweise. Thematische Überschneidungen und Verbindungslinien aufzuspüren, ist im Fall des von Marlen Schneider und Christiane Solte-Gresser herausgegebenen Sammelbandes (Traum und Inspiration. Transformationen eines Topos in Literatur, Kunst und Musik) hingegen der Leserschaft überlassen. Wie im Handbuch dienen hier zwei einleitende Beiträge der thematischen Hinführung. Marlen Schneiders Einleitung folgt Andrea Allerkamps Aufsatz zur physiologischen Traumästhetik von Paul Valéry, der Wissensordnungen aus den Bereichen der Medizin, Philosophie, Psychologie, Mathematik, Physiologie, Physik und Anthropologie kombiniert, weshalb sich dieses literaturwissenschaftliche Beispiel als besonders geeignet für die Einleitung in einen Gegenstand erweist, der einer multi- bzw. transdisziplinären Perspektive bedarf. Auch David Zagourys Beitrag zu Giorgio Vasaris hieroglyphischem Traumgemälde: Allegory of a Dream (um 1541), wird diesem Anspruch gerecht: Ausgehend von Freuds Ausführungen zur Bilderschrift der Träume und Baudelaires Ansichten zur hieroglyphischen Sprache des Traumes fokussiert er die kulturhistorische Einbettung wie auch die künstlerischen Aspekte von Vasaris Gemälde, das aufgrund der abgebildeten Hieroglyphen sowohl als Text als auch als Bild gelesen werden kann. Die Anknüpfungspunkte an Freud, Jung und Baudelaire sind augenscheinlich, ebenso wie seine Schlussfolgerung, dass nicht nur die Prinzipien des Traumes, sondern auch die unüberwindliche Komplexität des Träumens auf künstlerische Weise zum Ausdruck gebracht wird.

Im Folgenden wird die Perspektive von der italienischen Renaissance – und der Visualisierung onirischen Erlebens von Künstlern – zur französischen Aufklärung sowie der Frage nach dem Traum als Quell künstlerischer Kreativität verschoben. Florence Fesneau führt am Beispiel verschiedener Gemälde die Verbindung von Liebesträumen und Träumen als Quell künstlerischer Kreativität eng. Verbunden sind die Elemente des kreativen Schaffens und der Liebe auch im Pygmalion-Mythos, der auch in Christian Quintes’ Bietrag zu Novalis’ Traumtheorie und Traumpoetik thematisiert wird; versteht doch Novalis sowohl die Liebe wie auch den realen, das heißt den außerliterarischen Traum als Naturpoesie.

Quintes’ Aufsatz vorangestellt ist Marlen Schneiders englischsprachiger Beitrag über Antoine Watteaus Gemälde The artist’s dream (circa 1710–1720), das sie als piktorale Analyse künstlerischer Inspiration und Kreativität liest. Die fantastischen Elemente in Watteaus Gemälde verwiesen darauf, dass anthropologische Fragestellungen nicht ausschließlich mit einem wissenschaftlichen Zugang zu erschließen sind, was gewissermaßen als Legitimation für den gewählten Zugang des Sammelbandes verstanden werden kann.

Die Rubrik „Inspirationsquelle“ enthält Beiträge von Magdalena Zorn, die sich aus musikwissenschaftlicher Perspektive mit erträumten Klangszenarien im 19. und 20. Jahrhundert befasst; Janina Sara Klein, die Aspekte des Traums und der Inspiration im Werk Bernard Schultzes fokussiert, sowie einen Beitrag von Margot Dacheux und Giulio Boato, die sich mit der filmischen Repräsentation des schlafenden Körpers in Jan Fabres Mount Olympus (2015) befassen. Die Bereicherung einer transdisziplinären Perspektive macht sich insbesondere in Zorns Beitrag bemerkbar, die am Beispiel von Wagner und Stockhausen auf den Traum als kompositorische Inspirationsquelle im 19. und 20. Jahrhundert eingeht und zahlreiche überaus erhellende Beobachtungen veranschaulicht. Unter Bezugnahme auf Freuds Traum- und Bewusstseinstheorie erläutert sie, dass das unsichtbare Orchester in Bayreuth demonstriere, dass die wahrhafte Musik dem Unbewussten entstamme und wie im Traum erlebt werde. Auch geht sie auf die visuellen Aspekte der Musik ein, die mit dem „visuellen Primat […] des Traumes“ korrespondieren, was wiederum Verweise auf benachbarte Disziplinen wie die Literatur eröffnet.

Dem Abschnitt „Experimentierfeld“ zugeordnet sind Beiträge von Jennifer Owen, Linda Weiß, Anna Rick und Joachim Harst, der in einer vergleichenden Analyse von Borges’ Traum-Poetologie und Dantes Divina Comedia in den Blick nimmt. Hier wird insbesondere die komplexe Vernetzung von Autor und Text deutlich wie auch die Verknüpfung der Tätigkeiten des Lesens, Liebens und Schreibens (bei Dante). Während Dantes Divina Comedia (als Traumreise interpretiert) dem Prinzip des Schlafs der Vernunft beziehungsweise des durch den Schlaf stetig zunehmenden visionären Schauens entsprechen würde, betont Borges’ Traumverständnis eine „unendliche Spirale der Selbstimplikation“, die auf die Strukturen des Traums sowie die komplexe Vernetzung von Autor, Text und Traum verweist. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive erweisen sich die unter dieser Rubrik gefassten Beiträge als überaus erhellend und inspirierend für weiterführende Studien. Zudem gibt es immer wieder Anknüpfungspunkte zwischen den Beiträgen. Beispielsweise zwischen Weiß’ Analyse des lyrischen Werks sowie der therapeutischen Funktion der Traumprotokolle der tschechischen Autorin Ludmila Macešková alias Jan Kamenik und Anna Ricks Beitrag über Wolfgang Herrndorfs Blog Arbeit und Struktur machen sich doch auch mit Blick auf die hier veröffentlichten Traumerlebnisse die Angst vor dem Verlust des eigenen Schaffens, aber auch vor der Auflösung und Zerstückelung des Selbst bemerkbar. Auch im finalen Abschnitt: „Gegenwelten“ machen sich zahlreiche Querverweise bemerkbar, etwa wenn Tina Anderlini in ihrem französischen Beitrag zu einigen Gemälden des englischen Präraphaeliten Edward Burne-Jones von den gesellschaftskritischen Elementen seiner gemalten Traumwelten spricht, oder den Roman de la Rose als Inspirationsquelle nennt, der ebenfalls in Jennifer Owens Beitrag fokussiert wird.

Katina Baharovas Ausführungen zu drei russischen Dichter*innen (Ol’ga Sedakova, Elena Švarc und Gennadij Ajgi) eröffnen Anknüpfungspunkte zu den vorangegangenen Beiträgen. So erinnert Sedakovas Interesse an der Schwelle von wachem und Traumerleben an Dacheux’ und Boatos Ausführungen zu Fabres Mont Olympus, ebenso wie Švarcs und Ajgis Betonung der mystischen Vereinigung des lyrischen Ichs mit Gott innerhalb eines Traumes die Verbindung zu Joachim Harsts Analyse von Dantes Divina Comedia herstellt.Baharovas Ausführungen zum Akt des Dichtens, der „zum Akt der Vereinigung mit Gott“ werde, verweist auf die Verbindung vom Schöpfungsakt des Träumens mit jenem des Dichtens, womit ebenfalls an zahlreiche vorausgegangene Ausführungen angeschlossen wird. Womöglich ist es diesen durch die Beiträge deutlich werdenden, wenn auch nicht innerhalb der Beiträge markierten Verbindungslinien geschuldet, dass im finalen Beitrag von Yulia Mevissen zu Christa Wolfs Stadt der Engel (2010) die Leerstellen von möglichen Vertiefungsaspekten besonders augenfällig werden. Die intertextuellen Verweise auf Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland, die Engführung von Träumen und Schreiben wie auch die Interpretation von Freuds Mantel, welcher der Protagonistin aus Stadt der Engel bezeichnenderweise den Selbstschutz entzieht, hätten eine eingehendere Analyse verdient. Dass diese Leerstellen auffallen, kann allerdings als Resultat beziehungsweise Verdienst der Lektüre des Sammelbandes, aber auch des Handbuchs verstanden werden. Der von Mevissen verwendete Begriff der Traum-Montage erweist sich in diesem Zusammenhang als adäquat, da die jeweils in den Blick genommenen künstlerischen Ausdrucksformen von Verweisen auf kulturhistorische, künstlerische oder aber höchst persönliche Traumdiskurse zeugen und dementsprechend als Versatzstücke eines intermedialen Verweissystems gelesen werden können, das historische und kulturelle Grenzen überschreitet. Der besondere Reiz der Auseinandersetzung mit dem, abgesehen von wenigen Ausnahmen gut lektorierten Sammelband – aber auch mit dem Handbuch und der Monografie – liegt insbesondere im Aufspüren der spezifischen Eigen- und Gemeinsamkeiten, die sich über die disziplinären und historischen Grenzen hinweg immer wieder bemerkbar machen. Resümieren lässt sich, dass die in den Blick genommenen Texte einen eindrucksvollen Einblick in einige der vielfältigen Mysterien beider Phänomene eröffnen und die Leserschaft dennoch mit zahlreichen unbeantworteten Fragen zurücklässt, die es für weitere Studien fruchtbar zu machen gilt.

Titelbild

Hannah Ahlheim: Der Traum vom Schlaf im 20. Jahrhundert. Wissen, Optimierungsphantasien und Widerständigkeit.
Wallstein Verlag, Göttingen 2018.
695 Seiten, 44,90 EUR.
ISBN-13: 9783835332478

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Christine Walde / Alfred Krovoza (Hg.): Traum und Schlaf. Ein interdisziplinäres Handbuch.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2018.
378 Seiten, 79,99 EUR.
ISBN-13: 9783476024862

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Titelbild

Christiane Solte-Gresser / Marlen Schneider (Hg.): Traum und Inspiration. Transformationen eines Topos in Literatur, Kunst und Musik.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2018.
315 Seiten, 64,00 EUR.
ISBN-13: 9783770563296

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