Zeitgemäßes Porträt einer Schwierigen

Karen Duves Biografieroman über Annette von Droste-Hülshoff

Von Karin S. WozonigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karin S. Wozonig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gescheite Frauen sind manchmal ganz schön mühsam. Sie haben Fragen, achten zu wenig auf Form und Anstand, lachen an der falschen Stelle und sind ganz allgemein schlecht für Ruhe und Ordnung, zumal die der Männer in ihrer Umgebung. Annette von Droste-Hülshoff, die bedeutendste deutsche Dichterin des 19. Jahrhunderts, war diesbezüglich keine Ausnahme. Dass uns dieser Umstand deutlich vor Augen geführt wird und das Bild von der Klassikerin, der sakrosankten, kanonisierten Schriftstellerin, eine Korrektur und Erweiterung erfährt, ist ein besonderes Verdienst von Karen Duves Roman mit biografischem Fundament.

Fräulein Nettes kurzer Sommer ist der Sommer des Jahres 1820, in dem sich Droste-Hülshoff unpassenderweise in den bürgerlichen Heinrich Straube verliebt, nicht gerade Hals über Kopf oder gar kopflos – Kopflosigkeit war des Freifräuleins Sache nicht –, aber doch involviert genug, um eine veritable Krise in Familien- und Freundeskreisen auszulösen. In den Familien Droste-Hülshoff und Haxthausen (dem mütterlichen Zweig) ist der Bettelstudent und arme Poet mit dem müffelnden Überrock als Protegé eines männlichen Familienmitglieds, konkret eines Onkels der Schriftstellerin, gerade noch akzeptabel; im altdeutsch-romantisierenden oder jungdeutsch-demokratischen Freundeskreis, zu dem unter anderem die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm gehören, erweckt die sich anbahnende Beziehung Misstrauen und Eifersucht. Auch ohne den Ärger mit ihren Verehrern (Straube ist nicht der einzige) ist Droste-Hülshoff wie zum schwarzen Schaf der Familie geschaffen. Sie ist nicht nur neugierig, gescheit und überdurchschnittlich gebildet – eine Unbedachtheit ihres Vaters –, sondern sie klopft und sammelt auch Steine, komponiert und – nicht zu vergessen: dichtet. Nichts davon entspricht dem geforderten weiblichen Wohlverhalten.

Duve lässt eine Erzählinstanz aus heutiger Perspektive auf die erschwerten Umstände schauen, unter denen sich Droste-Hülshoff einen Platz in der Gesellschaft suchen muss, und zeigt in ihrem Roman, dass es in der Umgebung der Dichterin Menschen gab, die ihr literarisches Talent erkannten und es zu fördern versuchten. Aber auch die Gutgesinnten waren früher oder später nicht mehr hilfreich, sondern hinderlich, stießen an die Grenzen, die ihnen ihre Eitelkeit setzte, oder auf die Barrieren, die das zeitgenössische Rollenbild und der Standesdünkel errichteten.

Die anderen weiblichen Familienmitglieder im heiratsfähigen Alter – Schwester Jenny und mehrere jugendliche Tanten – wundern sich mehr oder weniger gehässig darüber, dass Annette mit ihren kurzsichtigen Glupschaugen, ihren hängenden Schultern und der zu lauten Stimme, mit der sie sich in Gespräche einmischt, die sie als Frau nichts angehen, überhaupt das Interesse der Männer wecken kann. Diese wiederum sind allesamt Akademiker und vielfach politisch für die deutsche Sache so engagiert, dass sie wahlweise Volkslied- und Märchensammlungen anlegen, selbst in pseudomittelalterlicher Manier dichten oder politisch anecken, auf jeden Fall aber die deutsche Identität, die im Vormärz noch an Kleinstaaterei und Provinzialität krankt, durch ihren kulturellen Beitrag zu stärken versuchen. Ungewöhnlich genug, dass eine Frau, schon aufgrund ihres Geschlechts ohne formale Bildung und mit Informationsrückstand, versucht, sich zu beteiligen, und dabei eine eigenständige Position vertritt. Betty Paoli, eine der ersten Fürsprecherinnen der Lyrik Droste-Hülshoffs, schreibt 1855, aus ihren Versen spreche „nicht die weichliche Klage um versunkene, unmöglich gewordene Zustände, sondern die brennende Sehnsucht nach dem Wiedererwachen jener ewigen Ideen des Rechts und der Wahrheit, ohne welche noch keine Zeit und kein Volk Großes zustande zu bringen vermochte.“ Das behagt den männlichen Verwandten der Dichterin und deren Freunden nicht. Trotz aller Aufgeklärtheit bleiben die Standesschranken bestehen. Der Wilhelm Grimm des Romans beobachtet: „Wie viele Adelige verhielt sich Freund August demokratisch und gesellig, als gebe es keine Standesunterschiede, erwartete aber auch, dass die Bürgerlichen sich ihrerseits bemühten, diese Unterschiede niemals zu vergessen.“

Ausführlich stellt Duve nicht nur die sozialen, kulturellen und politischen Konfliktfelder dar, sie dröselt auch die komplizierte Verwandtschaft des Freifräuleins auf und schildert die logistischen Probleme, die sich daraus ergeben, dass der Provinzadel in einem niemals endenden Reigen von Besuchen und Gegenbesuchen auf Schlössern und Schlösschen, Burgen und Gutshöfen sein Netzwerk knüpft und pflegt. Ihre Protagonistin rumpelt seitenlang in der Kutsche über die schlechten Straßen von Westfalen, reisekrank und immer mit der Aussicht, dass die familiären Verpflichtungen sie von anderen Dingen, neben dem Schreiben vor allem vom Komponieren, abhalten würden. Was hätte diese Frau noch alles leisten können, wäre das Telefon früher erfunden worden. So wichtig sind die Verwandtenbesuche, dass dem Roman eine Landkarte der Umgebung des Schauplatzes Bökerhof beigegeben ist, wie auch ein Stammbaum der Familien Droste-Hülshoff und Haxthausen. Duve gelingt es, mit vielen Details aus dem Alltagsleben das Dilemma „Nettes“ anschaulich darzustellen. Der Romanplot konzentriert sich auf die Beziehung zwischen Droste-Hülshoff und Straube, auf ihre kurze Vorgeschichte seit 1817 und auf das mysteriöse Ende, herbeigeführt durch die Intrige des „schönen Arnswaldt“, der seinerseits Interesse an ihr entwickelt und von der offenkundigen Zuneigung zu Straube persönlich gekränkt ist. Der Roman macht viel aus den Freundschaftsbünden der Göttinger Studenten, zu denen Onkel August (August von Haxthausen) und Straube gehören, und deckt, immer in Anlehnung an die reale private Korrespondenz, die Gefühlsverwirrungen auf, die sich aus den strikten Regeln für den geselligen Umgang zwischen Männern und Frauen ergeben – und die Droste-Hülshoff eindeutig mehr schlecht als recht befolgt.

Duve legt ihre Quellen offen, sie bedient sich der Briefe und Tagebücher der handelnden Personen, der literaturgeschichtlichen Erkenntnisse und sozialhistorischen Befunde, alles aufgelistet in einem siebeneinhalbseitigen Literaturverzeichnis. Auch wenn der Umgangston der Figuren gelegentlich zu flapsig ist und zu sehr nach 21. Jahrhundert klingt, auch wenn so manches ausführliche Gespräch bei einem Schoppen Wein eine kaum literarisch verkleidete Einführung in die politischen Fragen des Vormärz ist: Duve steht über dem Stoff. Sie schafft es, die Zeit lebendig werden zu lassen und eine überzeugende Frauenfigur in den Mittelpunkt ihres Romans zu stellen, die ein reales Vorbild in mehrfacher Wortbedeutung hat. Und Duve erfüllt den Anspruch des aufklärerischen „prodesse et delectare“; die Fabel ist die von den Hindernissen im Leben einer gescheiten Frau.

Titelbild

Karen Duve: Fräulein Nettes kurzer Sommer. Roman.
Galiani Verlag, Berlin 2018.
584 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783869711386

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