Ein störrischer Agnostiker

Franzobel erzählt in „Einsteins Hirn“ die Lebensgeschichte von Thomas Hardy, dem Pathologen Einsteins.

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Albert Einstein, das Genie des Jahrhunderts, stirbt am 18. April 1955 im Regionalspital von Princeton (New Jersey). Fachgerecht nimmt der Pathologe Thomas Harvey eine Obduktion vor, um die exakte Todesursache zu bestimmen. Er kommt schnell zum Befund: Riss in der Aorta – eine alte Geschichte, die vor neun Jahren geflickt wurde, so gut wie es damals eben möglich war. Doch nicht deshalb ist Thomas Harvey „mein Mann“, wie Franzobels Erzähler eingangs bemerkt. Er, mit Namen Sam Shepherd, ist als Agent des FBI auf Harvey angesetzt, weil dieser Einsteins Hirn gestohlen hat. Wobei gestohlen vielleicht etwas übertrieben klingt. Gegen Einsteins ausdrücklichen Willen hat Harvey bloß der Leiche das Hirn entnommen, um es aufzubewahren, zu sezieren, zu untersuchen oder weiß der Kuckuck wozu, denn er kennt sich weder in Physik noch in Hirnforschung besonders aus. Der einfache Schnitt mit dem Skalpell sollte sich aber gerade auch deshalb als Einschnitt im übertragenen Sinn erweisen. Thomas Harvey, der unauffällige Pathologe und harmlose Familienvater, der Quäker mit der Waage im Sternzeichen, wird bald erfahren, „dass dieses Hirn von ihm Besitz ergreifen, ihn durchdringen und in die Tiefe reißen“ wird. Davon erzählt Einsteins Hirn.

Franzobels Bücher sind immer wieder von neuem eine Gratwanderung zwischen, frei nach Grabbes Theaterstück, Scherz, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung. Das gilt auch für dieses Buch. Wie schon in den letzten zwei Romanen Das Floß der Medusa und Die Eroberung Amerikas greift er abermals eine wirkliche Begebenheit auf, um ihr auf für ihn typische Weise einen fantastischen Drall zu verleihen. Tatsächlich bestätigt ein kurzer Wikipedia-Eintrag die Existenz von Thomas Harvey (1912–2007). Demzufolge ist dessen Leben nach der besagten Obduktion ins Trudeln geraten. Er reiste jahrelang mit dem Hirn herum, bis er es 1997 wieder nach Princeton zurückbrachte. Doch ist diese Realität auch die Wahrheit? Franzobel interessiert sich weniger für diese groben Lebenslinien als für die skurrilen Anekdoten und die dunkeln Ecken der Historiographie, getreu dem vorangestellten Motto von Ken Kesey: „Es ist jedoch die Wahrheit, auch wenn es gar nicht passiert ist.“ Die Frage nach der Wahrheit ist seit je ein wunderbares Stimulans fürs literarische Schreiben, und zugleich für die Leserschaft. Kein Buch verblüfft mehr als jenes, das spannend, unterhaltend und dennoch „wirklich wahr“ ist.

Mit Hilfe des Beschatters Sam Shepherd, einem notabene notorisch unzuverlässigen Erzähler, der seinen Auftrag meist aus der Ferne als Engel erledigt, folgt der Roman den verflixten Windungen, die Harveys Leben in steter Begleitung von Einsteins Hirn nimmt. Jobverlust, Scheidung, Liebschaften, neue Ehe, Wohnortswechsel, neue schäbige Jobs beschreiben den Weg, den Franzobel mit einer Mischung aus Burleske und Ernst, angerührt mit Metaphern und intertextuellen Verweisen, stimmig erzählt. Trotz präzisen Beschreibungen und vertieften Recherchen über die beiden Protagonisten, welche Franzobel unter anderem zu alten Freunden Harveys geführt haben, geht es ihm nicht um historische Exaktheit. Davon zeugen allein schon die Wortspiele, die trotz des amerikanischen Umfelds nur auf Deutsch funktionieren („Popelfex maximus“), oder die Unzuverlässigkeit des Erzählers, der nur als Engel, „allerdings ohne sichtbare Flügel“, anwesend ist.

Für die eigentliche fabulatorische Wende ist jedoch Einsteins Hirn selbst verantwortlich. Es sorgt in dem Moment für den erzählerischen „Urknall“, als es überraschend mit Harvey zu sprechen beginnt. „Isch da öpper“ spricht es ihn inmitten einer Besinnung in seiner Quäker-Gemeinde an, zu welcher Harvey die in Formaldehyd eingelegte „Schaltzentrale“ mitgenommen hat. Dieser erschrickt, glaubt an Einbildung, zugleich ist er sich sicher, dass er klar und deutlich die Stimme des Hirns vernommen hat: „Isch scho nüni? Cha ni scho a Kafi bsteuwe?“, fährt es in breitem Berner Dialekt fort.

Wenn alles, was wahrscheinlich ist, wahrscheinlich falsch ist, so Franzobel frei nach Descartes, so könnte ja auch das Gegenteil stimmen und das Unwahrscheinliche seine Richtigkeit beweisen. Einstein selbst feuerte die menschliche Imagination mit seiner Relativitätstheorie an, die kaum jemand für möglich hält, also versteht. Sein Hirn mit der unterdurchschnittlichen Masse von 2,711 Pfund entdeckte eine neue universelle Wahrheit. Harvey ist davon fasziniert und vernimmt nun auf einmal sogar dessen Stimme. Und er antwortet ihr. So entwickelt sich zwischen ihnen zaghaft ein Zwiegespräch, das abbricht, wenn das Hirn nicht mehr will, sich gleichwohl immer wieder fortsetzt. Zuerst äußert das Hirn bloß einen weiteren, eher seltsamen Wunsch in Berner Dialekt: „I wot e Frou“. Darin klingt noch der notorische Schwerenöter nach, als der sich Einstein hier erweist. Doch bald schon geht es in gepflegter Hochsprache ums kosmische Ganze, um das letztgültig Wahre und Wirkliche. Das ist die Drehtür ihrer Diskussionen. Gegenüber dem gläubigen Quäker Harvey gibt sich Einsteins Hirn als „störrischer, agnostischer Geist“ zu erkennen: „Die Frage ist, ob Gott an mich glaubt. Ich verehre die Schönheit der Naturgesetze und die Harmonien in Mozarts Streichquartetten.“ Aus dem selbstbewusst vorgetragenen Bekenntnis glaubt Harvey trotz allem etwas Unerlöstes herauszuhören, weshalb er immer wieder Gott ins Spiel bringt. Doch alle Versuche, das Hirn zu erlösen, fruchten nichts, ja mehr noch verspottet dieses den Gottesglauben als „Weg des geringsten Widerstands“. Harvey aber bewahrt sein Vertrauen in die höhere Macht, auch wenn ihm das Schicksal mit zunehmendem Alter immer miesere Jobs und größere Plagen auferlegt.

„Wenn man etwas untersucht, verändert die Beobachtung den Gegenstand. Das Unschärfeprinzip“, beschreibt Franzobel in Einsteins Hirn mit Hinweis auf Heisenberg das literarische Prinzip, das den Wahrheitscharakter seiner Erzählung tangiert. Unter seinem Blick verwandelt sich die reale Biografie von Thomas Harvey und erhält im Licht der literarischen Beobachtung eine tragikomische Färbung. Alles mag wahr und gleichwohl erfunden sein. Je mehr sich Harvey räumlich von der Provinzstadt Princeton wegbegibt, umso schneller bewegt sich die Erzählzeit mit ihm. Harvey beginnt immer hektischer durch die Zeit seiner späten Lebensjahre und den geografischen Raum zwischen New York und Kansas zu hetzen, das Hirn stets mit dabei. Die Diskussionen dringen immer tiefer ins Universelle oder Göttliche vor. Wo exakt beginnt die Schöpfung und wer oder was hält sie zusammen. Würfelt Gott gar? In den Gesprächen mit dem Hirn wird die Theodizee-Frage ebenso aufgeworfen wie das Problem des allerallerersten Ursprungs im raumzeitlichen Nirgendwo und Nichts. Harvey kann sich darunter bestenfalls die Erlösung aus einem winzig kleinen Stecknadelkopf oder eine dichtgedrängte Sardinenbüchse vorstellen, aus der mit dem Urknall die gesamte Schöpfung herausgeschleudert wird.

Hinter jeder Wendung lauern viele überraschende Geschichten. Dafür umgibt Franzobel seinen Helden mit schillernden Figuren, die teils mehrfach, teils einmalig seine Wege kreuzen. In den späten Jahren ist sogar William Burroughs für kurze Zeit sein Nachbar, wie Harvey ein schrulliger vergessener Alter, bevor ihn die Verfilmung von Naked Lunch neuerlich ins Rampenlicht katapultiert. Auch das ist vielleicht wahr. Auf jeden Fall passt die Anekdote bestens in dieses Porträt all der Moden, Musiken und Geschmäcker, die Franzobels Buch mit flamboyantem Esprit und mitunter karikierend Revue passieren lässt. Zwar benötigt sein Roman etwas Anlaufzeit – ein paar Längen in Harveys Familienleben zu Beginn seien verziehen –, um nach und nach eine menschliche Wahrheit zu enthüllen: Das Undenkbare kann nur ausgehalten werden. Im Glauben findet der Mensch vielleicht Trost, aber nicht Erfüllung. In diesem Sinn ist Thomas Harveys Schicksal so komisch wie traurig, so verworren wie gradlinig, so überspannt wie demütig. Harvey ist ein moderner Hiob, der sein Schicksal klaglos erduldet, ohne von Gott belohnt zu werden. Nachdem er das Hirn mehr und mehr zerstückelt und in Scheiben zerschnitten hat, bringt er es schließlich wieder nach Princeton zurück, von wo es später nach Chicago gelangt, wo es heute noch aufbewahrt wird. Diese späten Jahre interessieren Franzobel freilich nicht mehr, es gibt darüber bereits einige Bücher. Er entlässt seinen Helden Thomas Harvey 1996 aus seiner Geschichte: in einem Moment des guten Glaubens und der Überzeugung, dass Rettung möglich ist, „solange es Leute wie mich gibt, Quäker, die ihre Nächsten lieben und an den Frieden glauben“. Auf der letzten Fahrt nach Hause singt Johnny Cash im Radio seinen Abzählsong 25 Minutes to Go, als aus dem Glas auf dem Nebensitz noch einmal die bekannte Stimme ertönt: „Du glaubst also, du kannst mich einfach loswerden?“ Eine feine Melancholie klingt nach.

Titelbild

Franzobel: Einsteins Hirn. Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2023.
544 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783552073340

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