Freudvoll und leidvoll

Liebe in literarischen, literaturwissenschaftlichen und interdisziplinären Perspektiven

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Freudvoll / Und leidvoll“ – so beginnen jene Verse, die nicht zuletzt durch die Vertonung durch Beethoven berühmt wurden und die vor einigen Jahrzehnten, 1981, der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, der im Juni dieses Jahres 99 Jahre alt geworden wäre, als „das schönste, das vollkommenste erotische Gedicht in deutscher Sprache“ pries. Es sind Verse aus Goethes Tragödie Egmont. Klärchen, die Geliebte der Titelfigur, verklärt hier das Glücksgefühl der Liebe so:

Freudvoll
Und leidvoll,
Gedankenvoll sein,
Langen
Und bangen
In schwebender Pein,
Himmelhoch jauchzend,
Zum Tode betrübt –
Glücklich allein
Ist die Seele, die liebt

Seelenverwandt mit Klärchen ist eine noch prominentere Figur Goethes aus einer anderen Tragödie: Gretchen im Faust. Am Spinnrad singt die in Faust Verliebte:

   Meine Ruh‘ ist hin,
Mein Herz ist schwer,
Ich finde sie nimmer
Und nimmermehr.

   Wo ich ihn nicht hab‘
Ist mir das Grab,
Die ganze Welt
Ist mir vergällt.

   Mein armer Kopf
Ist mir verrückt,
Mein armer Sinn
Ist mir zerstückt.

Das Lied endet mit den Versen:

   Meine Ruh‘ ist hin,
Mein Herz ist schwer,
Ich finde sie nimmer
Und nimmermehr.

   Mein Busen drängt
Sich nach ihm hin,
Ach dürft‘ ich fassen
Und halten ihn!
Und küssen ihn
So wie ich wollt‘,
An seinen Küssen
Vergehen sollt‘!

Und noch ein weiteres berühmtes Vers-Kunstwerk Goethes sei zitiert, in dem das liebende Herz, hier sogar in einem Reim, an Schmerz gebunden ist. Sein Gedicht Willkommen und Abschied (letzte Fassung von 1827) endet nach dem nächtlichen Zusammensein der Liebenden mit einem der Szenarien, die für den Liebesschmerz besonders typisch sind: mit dem Abschied als einer von vielen Formen der Trennung:

Doch ach schon mit der Morgensonne
Verengt der Abschied mir das Herz:
In deinen Küssen, welche Wonne!
In deinem Auge, welcher Schmerz!
Ich ging, du standst und sahst zur Erden,
Und sahst mir nach mit nassem Blick:
Und doch, welch Glück geliebt zu werden!
Und lieben, Götter, welch ein Glück!

Dass Liebe auf vielfältige Weise mit Leid verbunden ist und vielfach doch als Glück empfunden wird, ist gewiss nicht nur ein literarisches Phänomen und, wenn man es wissenschaftlich untersucht, nicht nur eine Herausforderung für die Literaturwissenschaft. Vor etlichen Jahren eröffnete die Süddeutsche Zeitung eine Artikelserie über die krisenhaften Beziehungen zwischen Männern und Frauen mit einem gewitzten Hinweis der Redakteurin Sonja Zekri auf das beneidenswerte Glück der Präriewühlmäuse. Der Hinweis spielte auf biologische Forschungen über Liebesbeziehungen zwischen Tieren an:

Man müsste eine Präriewühlmaus sein, dann wäre alles leichter. Folgendes geschieht, wenn in den waldmeistergrünen Hügeln Nordamerikas der Präriewühlmaus-Boy das Präriewühlmaus-Girl trifft: Nachdem beide ein Eis essen oder im Kino waren und er ihr seine Gefühle gestanden hat, kommen sie zügig zur Sache. Einen Tag und eine Nacht lang paart sich das Mäusepaar, schätzungsweise zwei Dutzend mal. Danach ist beiden klar: sie bleiben ein Leben lang zusammen. Im Liebesrausch haben die Maus-Gehirne zwei jeweils unterschiedliche Stoffe ausgeschüttet, die das Paar auf ewig gegen alle Versuchungen immunisieren. Die Natur hat dem Kleinsäuger geschenkt, was der Mensch seit der Erfindung des Faustkeils bis zum Streit um die Vaterschaftstests fordert: die Monogamie. Keine Untreue, keine Eifersucht, keine Zweifel, ob der Richtige wirklich der Richtige ist – nur Glück. (SZ, 22. Januar 2005)

Dem Glück der Wühlmäuse steht demnach das Unglück der Menschen gegenüber, wenn sie lieben. Doch das ist in mancher Hinsicht gut so. Zumindest für die Literatur und wohl auch für die Wissenschaft. Die Literatur wäre sonst langweilig und verlöre eines ihrer spannendsten Themen. Und die Wissenschaft eines ihrer wichtigsten Problemfelder.

Was die Literaturwissenschaft der letzten Jahrzehnte dazu beigetragen hat, ist geprägt von einem hohen Maß an Interdisziplinarität. 2016 erschien ein Handbuch Literatur & Emotionen. Der Mitherausgeber Martin von Koppenfels konstatiert dort in einem Beitrag zum Stichwort „Liebe“: „Der Begriff Liebe stellt die größte Herausforderung sowohl für die natur- als auch für die sozial- und kulturwissenschaftliche Emotionsforschung dar: Kein anderer Emotionsbegriff bezeichnet das Aufeinandertreffen einer derart starken Batterie biologischer Programme (Sexualität, Eltern-Kind-Bindung, Gruppenzusammenhalt) mit einem derart dichten Geflecht kultureller Konstruktionen.“ Soziologen etwa und Psychologen oder auch Historiker greifen häufig auf Literatur zurück, auf die primären Untersuchungsgegenstände also der Literaturwissenschaft. Und die Literaturwissenschaft wie auch die Literatur selbst bedienen sich vieler Anregungen aus der Soziologie, Psychologie, Biologie, Ethnologie, Neurologie und anderen Wissenschaften.

Literatur bildet reale soziale Beziehungen, auch Liebesbeziehungen, Familien- und Geschlechterordnungen oft modellhaft ab, bestätigt sie, stellt sie in Frage, reflektiert sie, wirkt mit an ihrer Fixierung oder Veränderung, spielt neue Entwürfe durch. Und Literatur ist nicht zuletzt selbst in soziales und kommunikatives Handeln eingebunden – indem etwa Tochter oder Sohn aus dem Mund der Eltern oder Großeltern jene Geschichten erzählt, vorgesungen oder vorgelesen bekommen, die von guten oder schlechten Töchtern, Söhnen, Müttern oder Vätern handeln. Tragödien und die Komödien standen einmal im erotisch lustvollen Kontext dionysischer Feste. Dichtung und Gesang waren mit ihren erotisierenden Potenzen früher generell stärker als heute eingebettet in diverse Künste des „Liebesspiels“. Dass der Begriff „Spiel“ in vielen Sprachen etymologisch nachweisbare erotische Konnotationen hat, dafür gibt es etliche Belege. Und wie „Spiel“ ist auch „Spannung“ eng mit erotischen Bedeutungsaspekten assoziiert. Manche Beschreibungen eines Dramenaufbaus und der Leistungen seiner einzelnen „Akte“ nehmen sich wie Schilderungen eines Sexualaktes in seinen verschiedenen Phasen aus. In Beschreibungen der klassischen „Technik des Dramas“, wie sie zum Beispiel Gustav Freytag im 19. Jahrhundert vorgelegt hat, ist alles auf den „Höhepunkt“ konzentriert, dem diverse „Leidenschaften“ des begehrenden Helden und „erregende Momente“ vorangehen. Der Beginn des Dramas führt nach Freytag die Helden „grade in dem Augenblick“ vor, „wo durch eine äußere Anregung oder eine innere Gedankenverbindung der Anfang von einem großen Gefühl oder Wollen sich in ihnen ausdrückt. Dies ist die Einleitung eines jeden Dramas, in der Regel der erste Akt. Die beiden folgenden Akte zeigen, wie in den Helden des Stückes nach und nach die Leidenschaft immer heftiger aufgeht, wie ihr Verlangen durch „äußere Umstände begünstigt oder durchkreuzt wird, bis endlich, in der Regel im dritten Akt, die volle Gluth ihres Gefühls und Willens sich in einer That concentrirt. Dieser Moment ist der Höhepunkt des Dramas“. Bertolt Brecht verglich in seinem „Kleinen Organon für das Theater“ das Drama unverblümt mit dem „Beischlaf“. Die Unterscheidung „von einer hohen und einer niedrigen Art von Vergnügungen“ sei der Kunst nicht angemessen. Es gebe nur „schwache“ und „starke“ Vergnügungen. „Die letzteren, mit denen wir es bei der großen Dramatik zu tun haben, erreichen ihre Steigerungen, etwa wie der Beischlaf sie in der Liebe erreicht; sie sind verzweigter, reicher an Vermittlungen, widersprüchlicher und folgenreicher.“

Auch Liebende lesen sich zuweilen gegenseitig vor – mit Einflüssen auf ihre Liebesbeziehung. In Dantes zweitem Kreis der Hölle, in dem die Sünder der Fleischeslust rastlos durch die Lüfte getrieben werden, erzählt Francesca da Rimini über ihre verderbliche Liebe zu Paolo Malatesta. Ein Roman hatte die beiden verführt:

Wir lasen eines Tages, uns zur Lust,
Von Lanzelot, wie Liebe ihn durchdrungen;
Wir waren einsam, keines Args bewusst.

Eine besonders erotische Stelle des Romans entfaltet dann eine ungeahnte Wirkung, die dezent so beschrieben wird:

Verführer war das Buch, und der’s geschrieben:
Wir lasen weiter nicht in jener Stunde.

Literatur ist ein Medium sozialer Kommunikation und Selbstverständigung, im 18. und im 19. Jahrhundert gewiss weit stärker als in Zeiten der Medienkonkurrenz, doch noch heute ist ihre prägende, über die multimedialen Vermittlungsmöglichkeiten oft potenzierte Kraft nicht zu unterschätzen. Gerade auch dann, wenn es um Liebe geht.

Einer der von der Literaturwissenschaft im Blick auf das Thema Liebe intensiv rezipierten Soziologen, die diesem Stellenwert der Literatur Rechnung getragen haben, ist Niklas Luhmann mit seinem 1982 erschienenen Buch Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Es ging aus einer Lehrveranstaltung hervor, die er im Wintersemester 1968/69 bei einer Vertretung des Lehrstuhls von Theodor W. Adorno in Frankfurt gehalten hat. Alexander Kluge hat darüber mit einer Mixtur aus Fakten und Fiktionen erzählt – in einer seiner 166 Liebesgeschichten, die vor zehn Jahren unter dem Titel Das Labyrinth der zärtlichen Kraft erschienen sind. Wie Luhmann griff später auch der Frankfurter Soziologe Karl Otto Hondrich mit seinem 2004 erschienenen Buch Liebe in den Zeiten der Weltgesellschaft auf literarische Texte zurück, wenn auch nicht so häufig wie der von ihm verehrte Sigmund Freud. Doch schon der Titel war eine literarische Anspielung – auf den Roman Die Liebe in den Zeiten der Cholera, ein Bestseller der 1980er Jahre von Gabriel García Márquez mit etlichen unglücklichen Liebesgeschichten.

Das sind einige beiläufige Beispiele für Interdependenz zwischen Literatur und Wissenschaft in Liebesangelegenheiten. Hondrichs Buch hat dabei symptomatischen Anteil an der im 21. Jahrhundert stark expandierenden Emotionsforschung in ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, auch der Literaturwissenschaft. Doch zu den von der Literaturwissenschaft derzeit am meisten beachteten soziologischen Emotions- und Liebesforschern gehört die israelische Soziologin Eva Illouz, die unlängst ein neues Buch zu dem Thema veröffentlicht hat: Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Beziehungen. Das Unglück der Liebe stand schon im Zentrum ihrer früheren Bücher: Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung (2012) oder Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus (2007).

Wie zahlreiche Literaturwissenschaftler und auch schon Luhmann befasst sie sich mit dem sozial einflussreichen Konzept „romantischer Liebe“. Die Fragen, denen sie dabei nachgeht, gehören auch zu den zentralen Problemfeldern, mit den sich Literatur und Literaturwissenschaft kontinuierlich auseinandersetzen: Fragen nach dem historischen und gegenwärtigen Zusammenhang von zwei zeitversetzt entstandenen, doch dann bis heute koexistierenden Phänomenen, die weithin als vollkommen gegensätzlich erscheinen: die emotionale Wärme „romantischer Liebe“ und die zweckrationale Kälte des Kapitalismus. Das Konzept der romantischen Liebe bekennt sich zum „Vorrang der Gefühle vor sozialen und ökonomischen Interessen, der Zuneigung vor dem Profit“. Es steht einer Vorstellung von Ehe entgegen, in der die Hochzeit, wie der Historiker Theodor Zeldin formulierte, „als die wichtigste Finanzoperation des gesamten Lebens galt“, in der Liebe eine potentielle Gefährdung nicht nur eines finanziellen Kalküls, sondern der ganzen Familien- und Sozialordnung war. Romantische Liebe eröffnet, so Illoux, die Möglichkeit einer anderen sozialen Ordnung, sie vermittelt damit „eine Aura der Transgression, sie verspricht und fordert eine bessere Welt.“

In Anlehnung an den Religionssoziologen Emile Durkheim weist Illoux der romantischen Liebe Merkmale des Sakralen zu. Sie avanciert zur Liebesreligion. Erfahrungen des Heiligen, so hatte Durkheim gezeigt, sind in säkularen Gesellschaften nicht einfach verschwunden, sondern haben sich aus der Sphäre der Religion auf andere Bereiche verlagert, so auch auf den der romantischen Liebe. Sie gehört zu Bestandteilen eines Rituals, in der die Hierarchien der sozialen wie ökonomischen Ordnung immer wieder aufgelöst und die Grenzen des Rechtes und der Moral ausgelotet werden.

Die kapitalistische Ordnung selbst enthält und aktiviert allerdings einen für sie zunehmend wichtigen Bereich, der etliche Affinitäten zur Sphäre romantischer Liebe aufweist und sich mit ihr eng verbindet: den Freizeitkonsum. Wie die Liebe bezieht er seine Anziehungskraft aus vielfältigen Verheißungen, den Routinen oder Zwängen der Alltags- und Arbeitsordnung zu entgehen. Ein historisches Eingangskapitel des Buches zeigt: Spätestens seit den Anfängen des 20. Jahrhunderts, als mit der erfolgreichen Erfindung des „Rendezvous“ die Räume zur Anbahnung und Realisierung von Liebesbeziehungen in die Öffentlichkeit verlagert werden – in Kinos, Restaurants, Cafés oder Orte touristisch organisierter Reisen – sind Liebe und Konsum eng aneinander gebunden, geht die Kommerzialisierung der Liebe mit der Romantisierung des Konsums einher, entstehen neue Arten sozialer Ungleichheit und symbolischer Distinktion.

Zu den von ihr gesammelten Materialien gehören nicht zuletzt Filme und Romane. Hier werden die Grenzen zwischen Literatur-, Medien- und Sozialwissenschaften fließend. Die Problemfelder, die Illouz untersucht, sind auch die der Literaturwissenschaft und der von ihr untersuchten Literatur. Es gibt aber Ansätze literaturwissenschaftlicher Emotionsforschungen, die mit dem Phänomen Liebe anders umgehen. Befassen sich Sozial- und auch Literaturwissenschaftler dominant mit Vorstellungen, Bewertungen oder auch Funktionen von Emotionen, so fordern literarische Texte noch zu anderen Fragestellungen heraus, deren Beachtung allerdings ebenfalls auf Interdisziplinarität angewiesen ist. Eine dieser Fragen ist: Mit welchen literarischen Techniken können welche Emotionen im Zusammenhang mit Liebesszenarien hervorgerufen werden?

Die Beschreibung literarische Techniken umfasst dabei unter anderem die literarischen Darstellungen sexueller Akte. Sie reichen von der Vermeidung oder bloßen Andeutung etwa durch einen Gedankenstrich, wie er durch Kleists Erzählung Die Marquise von O… berühmt geworden ist, über die verbrämte Darstellung einer Vergewaltigung wie in Goethes Sah ein Knab ein Röslein stehn bis zu pornographischen Details. Es geht dabei um literarische Entstellungs- und Verhüllungstechniken, mit denen die Peinlichkeit sexueller Phantasien gemildert wird, oder um ungehemmte Techniken der sexuellen Erregung.

Wichtig nicht nur für literaturwissenschaftliche Beschreibungen von Liebesgefühlen sind etliche grundlegende Unterscheidungen bei der Verwendung des Wortes „Liebe“, das ein breites Bedeutungsspektrum hat. Es gibt im Alltagsprachgebrauch diversen Arten der „Liebe“ mit Differenzierungsleistungen, hinter denen die wissenschaftliche Begrifflichkeit nicht zurückbleiben sollte: Geschwisterliebe, Kinderliebe, Mutterliebe (warum eigentlich ist vergleichsweise selten von „Vaterliebe“ die Rede?), Tierliebe, sexuelle und platonische, eheliche und außereheliche Liebe, gleichgeschlechtliche und gegengeschlechtliche Liebe, Nächstenliebe, Liebe und Verliebtsein usw. Und vor allem ist zu beachten, dass Liebe nicht ein Gefühl, sondern ein Konglomerat ganz unterschiedlicher Gefühle ist: Freude und Leid, also positiver und negativer Gefühle, wobei vor allem die negativen ihrerseits mit einer Fülle unterschiedlicher Bezeichnungen versehen werden: Angst-, Scham- oder Schuldgefühle, Eifersucht, Ärger, Wut, Traurigkeit, Schmerz oder Enttäuschung. Für die positiven Gefühle stehen weniger und undeutlicher abgegrenzte Bezeichnungen zur Verfügung: Glück, Freude, Lust, Zuneigung, Sympathie, Hoffnung…

Diese Gefühlsmischungen sind in der Realität wie in den mehr oder weniger fiktiven Welten, mit denen Literatur die Lesenden konfrontiert, nicht, wie es die experimentelle Emotionsforschung vielfach unterstellt, Reaktionen auf einzelne Reize, sondern auf komplexere Reizkonstellationen und auf Ereignisabfolgen in einem längeren Zeitraum. Diese lassen sich mit literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie analysieren und werden dabei oft typischen Mustern bzw. „Narrativen“ zugeordnet, die die Kognitionspsychologie auch als „Scripts“ bezeichnet. Die Anbahnung von Liebesbeziehungen, das Sich-Verlieben, das Zusammensein der Liebenden, Abschiede, Trennungen, Wiedersehen gehören zu solchen typischen Szenarien, die jeweils mit unterschiedlichen Emotionsmischungen einhergehen. Eine Untersuchung von Christiane Voss über Narrative Emotionen (2004) exemplifiziert diese an Eifersuchtsgefühlen, für die „der vermeintliche Verlust der exklusiven Zuwendung eines begehrten Menschen“ ein charakteristisches Szenario ist. Aufgrund ihrer narrativen Struktur sind Emotionen besonders ansprechbar durch narrative Medien wie Literatur und Film. Deren Narrationen fiktiver emotionstypischer Szenarios gehören wiederum, neben den Wahrnehmungen realer Szenarios, zu den Faktoren, die unsere eigene narrative Strukturierung von Emotionen im realen Leben prägen. Ein derartiges narratologisches Emotionskonzept, das auf Szenarien statt auf einzelne Reize zurückgreift, ist für literaturwissenschaftliche Emotionsforschungen schon deshalb attraktiv ist, weil narratologische Analysen zu den Kernkompetenzen der Literaturwissenschaft zählen.

Literarisch dargestellte Liebesszenarien schreiben den Liebenden diverse Emotionen zu und wecken bei den Lesern meist Sympathie mit diesen. Diese kann so weit gehen, dass sich die Leser mit einer liebenden Figur identifizieren und ihre Gefühle teilen. Bei der Erklärung solcher Gefühlsübertragungen greift die Literaturwissenschaft auf die interdisziplinäre Empathie-Forschung zurück. Zu ihr gehören auch neurowissenschaftliche Theorien, die in den 1990er Jahren „Empathie“ mit der Aufsehen erregenden, inzwischen allerdings umstrittenen Entdeckung von „Spiegelneuronen“ zu fundieren versuchten. Damit wurden Neuronen oder neuronale Netze im Gehirn bezeichnet, die bei der Beobachtung von Verhaltensweisen anderer jene Aktivitäten von Neuronen gleichsam nachahmen oder „spiegeln“, die bei eigenen Verhaltensweisen ähnlicher Art aktiviert sind. Liebesglück oder Liebesleid anderer Lebewesen, auch literarischer Figuren, kann jedenfalls von Außenstehenden, u.a. beim Lesen darüber, miterlebt werden.

Aber warum lassen wir uns beim Lesen freiwillig so gerne von Liebesleid affizieren? Warum ist das Liebesleid in literarischen Texten noch viel häufiger präsent als in der Realität? Warum beschwören so viele Liebesgedichte den Schmerz und werden trotzdem oder gerade deshalb so gerne gelesen? Und warum enden so viele beliebte literarische Liebesdramen und -geschichten mit dem Tod: Tristan und Isolde, Romeo und Julia, Die Leiden des jungen Werther oder Der Tod in Venedig, um nur vier berühmte Beispiele zu nennen. Eine Erklärung dafür können literaturwissenschaftliche Spannungstheorien liefern. Literarische Liebesgeschichten entfalten nämlich einen wesentlichen Teil ihrer Anziehungskraft durch bestimmte Arten von Spannung.

Spannung beruht vielfach auf einem partiellem Mangel an Information und auf dem Wunsch, ihn aufzuheben. Wir wollen beim Lesen zum Beispiel wissen, ob und wie die Liebenden Hindernisse überwinden, die ihrem Liebesglück entgegenstehen. Aber schon der Sachverhalt, dass es solche Hindernisse gibt, erzeugt eine Spannung ähnlicher und doch zugleich anderer Art. Sie beruht nicht nur auf dem Mangel an Information, sondern auf vielen anderen Mangelerfahrungen, die ebenso vielfältige Wünsche hervorrufen und den Menschen bis zu ihrer Erfüllung im Zustand der Spannung halten. Jene anthropologischen Bedürfnisse, die grundlegend für die Existenzerhaltung (Hunger, Durst) und die Arterhaltung (Liebe, Sexualität) sind, haben eine ebenso fundamentale Bedeutung für literarische Spannung. Wenn Julio Cortázars Roman Rayuela mit der Frage beginnt „Ob ich die Maga finden würde?“, ist der Wunsch, dies zu wissen, sogleich mit dem Wunsch kombiniert, die begehrte, aber abwesende Frau zu finden.

Nach traditionsreichen Definitionen der Rhetorik spielen Texte in der Erregung von Spannung mit spes und metus (Hoffnung und Furcht) der Rezipienten. „Hoffnung“ lässt sich auch durch andere Begriffe ersetzen: durch „Wunsch“ etwa, „Bedürfnis“ oder auch „Begehren“. Vom „Begehren“ spricht in diesem Zusammenhang beispielsweise Otto Ludwig, der sich als Autor der Erzählung Zwischen Himmel und Erde – mit der Geschichte eines Bruderkonflikts um eine von beiden begehrte Frau – literarischer Techniken der Spannungserzeugung gekonnt bediente. In seinen Romanstudien spricht er diesen Techniken folgende Wirkung zu: „Wir werden gewonnen, etwas leidenschaftlich zu begehren […]; dieses Begehren wird immer leidenschaftlicher durch Hindernisse.“ Was ist das für ein Begehren, das von Texten stimuliert werden kann? Wie wird es stimuliert? Und wie werden ihm Hindernisse in den Weg gelegt?

Nach Freud wird die literarische Phantasie, die der Autoren und der Leser, generell aus dem Mangel geboren. „Man darf sagen, der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte. Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien“. So das berühmte Diktum aus dem Aufsatz Der Dichter und das Phantasieren. Wie im realen Leben gibt es auch in der Literatur subtile Mittel, Wünsche dadurch zu wecken, dass vorübergehend Gefühle des Mangels stimuliert werden, die den Wunsch nach ihrer Beseitigung wecken. Dazu gehört die hedonistische Kunst, Wünsche dadurch zu intensivieren, dass ihre dann um so lustvollere Befriedigung künstlich verzögert wird. Thomas Mann hat in dem Roman Buddenbrooks am Beispiel der Musik die Gleichartigkeit ästhetischer und erotischer Spannungskunst veranschaulicht. Hanno hat hier eine kleine musikalische „Phantasie“ komponiert und spielt sie an seinem achten Geburtstag vor. Den Schluss liebt er besonders: Ein leiser e-Moll-Akkord „wuchs, er nahm zu, er schwoll langsam, langsam an, im forte zog Hanno das dissonierende, zur Grundtonart leitende cis herzu, und während die Stradivari wogend und klingend auch dieses cis umrauschte, steigerte er die Dissonanz mit aller seiner Kraft bis zum fortissimo. Er verweigerte sich die Auflösung, er enthielt sie sich und den Hörern vor. Was würde sie sein, diese Auflösung, dieses entzückende und befreite Hineinsinken in H-Dur? Ein Glück ohnegleichen, eine Genugtuung von überschwenglicher Süßigkeit. Der Friede! Die Seligkeit! Das Himmelreich! … Noch nicht … noch nicht!“ Doch „dann war die Wonne nicht mehr zurückzuhalten. Sie kam, kam über ihn; und er wehrte ihr nicht länger. Seine Muskeln spannten sich ab, ermattet und überwältigt sank sein Kopf auf die Schultern nieder, seine Augen schlossen sich, und ein wehmütiges, fast schmerzliches Lächeln unaussprechlicher Beseligung umspielte seinen Mund“.

Thomas Manns Vergleich von musikalischer und sexueller Spannungslust entspricht der Einsicht, dass die Befriedigung der Wünsche auch ihr Ende mit sich bringt, zumindest ihr vorläufiges, dass das Ende jeden Begehrens in seiner Erfüllung liegt. Nach Freuds „Lustprinzip“ haben alle psychischen Aktivitäten, also auch die des Lesens, das Ziel, Unlust zu vermeiden und Lust zu verschaffen. Spannung wird dabei als Unlustgefühl klassifiziert. Nach Freud geht Lust mit Spannungsverminderung einher, Unlust mit Erhöhung der Spannung. Wie kommt es dann, dass Spannung manchmal geradezu süchtig genossen wird, dass wir es lustvoll auf uns nehmen, zu manchmal beklemmenden Mangelerfahrungen stimuliert zu werden, deren Aufhebung oft quälend lang hinausgeschoben wird und zuweilen gar nicht stattfindet? Schon Epikurs Hedonistik beschrieb bestimmte Formen der Lust als Aufhebung der Unlust. Und Kant schrieb in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht unter der Überschrift „Vom Gefühl der Lust und Unlust“ den im Druck hervorgehobenen Satz: „Also muß vor jedem Vergnügen der Schmerz vorhergehen“, und er fügte hinzu: „Auch kann kein Vergnügen unmittelbar auf das andere folgen“.

Nach Freud phantasiert nur der Unglückliche. Wenn der Leser (oder auch der Autor) jedoch nicht unglücklich ist, muss er sich durch Literatur unglücklich machen lassen, damit seine Wünsche und Phantasien in Bewegung geraten. Literarische Liebesgeschichten erzeugen Spannung, indem sie im Leser, oft über die Identifikation mit einer Figur des Textes, Unglücksgefühle stimulieren, die wiederum das Begehren hervorbringen, sie zu beseitigen. Dieses Begehren stößt auf Hindernisse und wird dadurch wach gehalten oder sogar noch gesteigert. Die Energie des Begehrens löst sich auf, wenn es sein Ziel erreicht hat oder in der Erreichung des Ziels endgültig gescheitert ist. Das deckt sich mit den Beschreibungen narrativer Grundmuster, wie sie von formalistischen Erzähltheoretikern vorgelegt wurden. „Die ideale Erzählung“, so Tzvetan Todorow, „beginnt mit einer Phase der Ruhe, in die irgendeine Kraft plötzlich störend eingreift. Das hat den Verlust des Gleichgewichts zur Folge. Durch eine in entgegengesetzter Richtung wirkende Kraft wird das Gleichgewicht wiederhergestellt. Dieses zweite Gleichgewicht ähnelt dem ersten, ohne mit ihm identisch zu sein.“ Der Verlust des Gleichgewichts ist mit Unlustergefühlen verbunden; die Wiederherstellung des Gleichgewichts mit Lust.

Oft beginnt ein narrativer Text gleich mit der Darstellung einer spannungsvollen Situation gestörter Beziehungen. So der berühmte Anfang von Leo Tolstois Anna Karenina, dessen erster Satz sogleich die literarische Faszination am Unglück erklärt: „Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; aber jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Art unglücklich. Der ganze Haushalt der Familie Oblonski war in Unordnung geraten. Die Hausfrau hatte erfahren, daß ihr Mann mit einer französischen Gouvernante, die sie früher im Hause gehabt hatten, ein Verhältnis unterhielt, und hatte ihm erklärt, sie könne nicht länger mit ihm unter einem Dache wohnen. Drei Tage schon währte nun dieser Zustand, und er wurde sowohl von den Ehegatten selbst wie auch von den übrigen Familienmitgliedern und dem Hausgesinde als eine Qual empfunden.“

Eines der beliebtesten narrativen Muster in Liebesgeschichten, spannungsfördernde Unglücksgefühle zu beschreiben und hervorzurufen, sind Trennungsszenarien. In Heinrich von Kleists Novelle Das Erdbeben in Chili müssen sich zunächst zwei, die sich lieben und schon durch die Anfangsbuchstaben ihrer Namen zusammengehören, trennen: Jeronimo und Josephe. Das Gesetz des Vaters und das der Kirche unterbinden die weitere Vereinigung beider. Ihr Tod soll die Trennung besiegeln. Da stürzt das Erdbeben wie eine Revolution alle Verhältnisse um und bewirkt, dass die Liebenden in einer paradiesischen Szenerie wieder glücklich vereint sein dürfen. Auch aus diesem Paradies werden sie allerdings wieder vertrieben. Damit greift Kleist auf eine Urszene mythischer und literarischer Trennungsgeschichten zurück.

„Erzählen heißt spannen“, schreibt Thomas Mann in einem Essay über Kleist. Erzählen heißt, seit es Literatur gibt, auch trennen. Die Trennung des Odysseus von seiner geliebten Heimat und seiner Frau hält Homers Odyssee in spannungsvoller Bewegung. Die „Heimkehr eines lange fern von der Heimat und der Familie gewesenen Mannes“, so steht es in einem Lexikon literarischer Motive unter dem Stichwort „Heimkehrer“, „ist eine der spannungsgeladenen Grundsituationen, die sich immer wieder ereignen und die Anteilnahme der Miterlebenden auf sich lenken“. Es ist immer wieder die gleiche Geschichte, die da in Mythen und Dichtungen, aber auch von Philosophen und nicht zuletzt von Psychoanalytikern in zahllosen Variationen erzählt wird: als Vertreibung – sei es aus dem Paradies oder aus der symbiotischen Einheit mit der Mutter. In der Literatur der Zeit, aus der auch Kleist stammt, nimmt das Erzählen und Theoretisieren über Einheitsverluste geradezu obsessive Formen an: Dem Entwicklungsmuster „ursprüngliche Einheit – Trennung bzw. Entzweiung – Suche nach neuer Einheit“ folgen die Dichtungen und Dichtungstheorien Schillers, Goethes, der gesamten Romantik und der idealistischen Philosophie. Individuelle Lebens- und Liebesgeschichten sowie die gesamte Menschheitsgeschichte werden nach diesem Muster erzählt. Dass dabei die zahlreichen Trennungsgeschichten ihre ungeheure Attraktivität auch der Lust an der Spannung verdanken, ist allerdings bislang kaum gesehen worden. „Warum“, fragt Kant, „schließt ein Liebesroman mit der Trauung, und weswegen ist ein ihm angehängter Supplement-Band (wie im Fielding), der ihn, von der Hand eines Stümpers, noch in der Ehe fortsetzt, widrig und abgeschmackt? Weil Eifersucht, als Schmerz der Verliebten, zwischen ihre Freuden und Hoffnungen, vor der Ehe Würze für den Leser, in der Ehe aber Gift ist; denn, um in der Romansprache zu reden, ist ,das Ende der Liebesschmerzen zugleich das Ende der Liebe‘“ – und zugleich das Ende erzählter Liebesgeschichten.

Liebesromane und -geschichten sind unendliche Variationen von Trennungsgeschichten. Dieter Hildebrandt charakterisiert in seiner 2014 veröffentlichten „Geschichte des Liebesbriefs“ diesen gleich einleitend als „Dokument einer Liebe, die sich just nicht erfüllen kann, Zeugnis der Trennung von Menschen, die ohne einander nicht leben zu können glauben“, und kennzeichnet Liebesbriefe im letzten Kapitel erneut als „Dokumente des Begehrens und des Trennenden“. In seinem zuerst 1939 in Paris erschienenen Buch Die Liebe und das Abendland konstatiert der Schweizer Kulturhistoriker Denis de Rougemont: „Die glückliche Liebe hat in der abendländischen Kultur keine Geschichte.“ Und im Blick auf den Tristan-Mythos: „Was ist also der wahre Gegenstand der Legende? Die Trennung der Liebenden? Ja, aber im Namen der Leidenschaft und um der Liebe zu eben der Liebe willen, die sie quält, um sie zu erheben, sie zu verklären – auf Kosten ihres Glücks und selbst ihres Lebens“. Nicht jedoch auf Kosten der Spannungslust am Text. Künstlich und kalkuliert stimulieren literarische Texte Trennungsunlust und damit zugleich das Begehren nach lustvoller Vereinigung. Die Intensität der Vereinigungslust steht in direkter Abhängigkeit vom Ausmaß der zuvor stimulierten Trennungsunlust. Da Lust keine Ewigkeit kennt, muss der Text abbrechen, wo er sein Maximum an lustvoller Entspannung erreicht. Die Hochzeit, nicht nur in der Komödie, ist ein klassisches Mittel der Spannungsauflösung, aber auch der Tod – zuweilen beides zugleich. Im Phantasma des Liebestodes versuchen Texte zuweilen so etwas wie eine ewige Vereinigungslust zu versprechen, sie selbst jedoch müssen hier enden – wie Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften, der nach vielen inszenierten Trennungen mit den Worten schließt: „So ruhen die Liebenden nebeneinander. Friede schwebt über ihrer Stätte, heitere, verwandte Engelsbilder schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen.“ Oder wie Johann Peter Hebels Kalendergeschichte Unverhofftes Wiedersehen. Hier ist der Tod zunächst eine Macht, die die Liebenden trennt, schließlich aber auch die Bedingung ihrer ewigen Vereinigung.

Entspannende Wiedervereinigungen der Getrennten sind in der literarischen Moderne allerdings selten geworden. Nicht die Auflösung, sondern die Aufrechterhaltung der Spannung über das Textende hinaus erscheinen der Ästhetik der Moderne angemessener. Dem entspricht die Einsicht, dass die harmonische Vereinigung des Getrennten mit dem Tod eng assoziiert ist. Das spannungslose ist ein totes Kunstwerk. Völlige und dauerhafte Entspannung ist nur in tödlicher Ruhe zu haben. Trennungen, Spannungen, Differenzen hingegen bedeuten Leben. Und dem Leben sind lustvolle Entspannungen nur partiell und vorübergehend gegönnt. Die literarische Lust an der Spannung ist mithin auch eine Lust am Leben und an der Liebe.

Autoren setzen zuweilen das Liebesunglück ganz kalkuliert zur effektvollen Emotionalisierung des Lesenden ein. Dazu bekannte sich jedenfalls Edgar Allan Poe, der in einem poetologischen Essay mit provozierendem Zynismus die Trauer des Liebenden und den Tod einer schönen Frau zu Bestandteilen seiner literarischen Emotionalisierungskunst erklärte. Der „Tod einer schönen Frau“ sei „fraglos der dichterischste Gegenstand auf Erden – und ebenso zweifellos ist der geeignetste Mund für einen solchen Gegenstand der eines Liebenden, der die Geliebte durch den Tod verlor.“

Eine anschauliche Erklärung dafür, warum das literarisch vermittelte Unglück anderer der Lust am Lesen auch jenseits von Spannungseffekten nicht abträglich ist, sondern sie sogar befördern kann, und damit für das schon lange und heute immer noch irritierende Phänomen, dass wir offensichtlich Vergnügen am Unglück anderer Menschen empfinden können, lieferte schon in der Antike Lukrez. Er veranschaulichte und reflektierte das Phänomen mit dem Beispiel schaulustiger Beobachter eines Schiffbruchs. Seine Erklärung lässt sich auch auf „Schiffbrüche“ von Liebesbeziehungen übertragen:

Süß ist’s, anderer Not bei tobendem Kampfe der Winde
Auf hochwogendem Meer vom fernen Ufer zu schauen;
Nicht als könnte man sich am Unfall andrer ergötzen,
Sondern dieweil man es sieht, von welcher Bedrängnis man frei ist.

Nach der psychologischen These, die diese Verse enthalten, besteht die Schaulust am Schrecklichen nicht in Schadenfreude darüber, dass anderen ein Unglück passiert, sondern darin, dass man sich bewusst wird, „von welcher Bedrängnis man frei ist“. In der Konfrontation mit dem Tod einer liebenden oder einer geliebten Person, die andere zu erleiden haben, bemerken wir beim Lesen mit Erleichterung, woran wir uns oft allzu sehr gewöhnt haben: dass wir das Privileg haben, noch zu leben, dass es uns trotz eigener Liebesleiden in der Regel besser geht als denen, die in das schreckliche Geschehen oft tödlich endender Liebesgeschichten involviert sind,  bessser als Tristan und Isolde, Romeo und Julia oder dem jungen Werther – oder dem in Faust verliebten Gretchen.

Hinweis: Der Beitrag greift auf einen Vortrag bei einem Symposium des Deutsche Hochschulverbands mit dem Titel „Das schönste Gefühl: Liebe im Spiegel der Wissenschaft“ am 7. November 2018 im Wissenschaftszentrum Bonn zurück. Eine stark gekürzte Fassung ist zusammen mit anderen Beiträgen zu dem Symposium erschienen in: Forschung & Lehre 25. Jg., 12/2018 (Schwerpunkt: Liebe), S. 1048-1050.

Literaturhinweise:

Kein Bild

Henriette Herwig / Miriam Seidler (Hg.): Nach der Utopie der Liebe? Beziehungsmodelle nach der romantischen Liebe.
Ergon Verlag, Würzburg 2014.
336 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783956500558

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Oliver Sill: Sexualität und Sehnsucht. Die Liebe in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2016.
243 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783849811921

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Oliver Sill: Sitte - Sex - Skandal. Die Liebe in der Literatur seit Goethe.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2009.
214 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783895287558

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Rainer Moritz: Wer hat den schlechtesten Sex? Eine literarische Stellensuche.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015.
240 Seiten, 17,99 EUR.
ISBN-13: 9783421046444

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Rainer Moritz: Matratzendesaster. Literatur und Sex.
Reclam Verlag, Stuttgart 2019.
186 Seiten, 11,95 EUR.
ISBN-13: 9783150203897

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Dieter Hildebrandt: Die Kunst, Küsse zu schreiben. Eine Geschichte des Liebesbriefs.
Carl Hanser Verlag, München 2014.
416 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446244962

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Gregor Schuhen: Erotische Maskeraden. Sexualität und Geschlecht bei Marcel Proust.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2007.
294 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783825353186

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Markus Tiedemann: Liebe, Freundschaft und Sexualität. Fragen und Antworten der Philosophie.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 2014.
327 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783487151380

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Peter Gülke: Musik und Abschied.
Bärenreiter Verlag, Kassel 2015.
362 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783761823774

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Michael Gratzke: Liebesschmerz und Textlust. Figuren der Liebe und des Masochismus in der Literatur.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2000.
400 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3826017501
ISBN-13: 9783826017506

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Stefan Neuhaus: Sexualität im Diskurs der Literatur.
Francke Verlag, Tübingen 2002.
207 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3772033318

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Stefan Neuhaus (Hg.): Figurationen der Liebe in Geschichte und Gegenwart, Kultur und Gesellschaft.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2012.
326 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783826050299

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Ingrid Spörk: Liebe und Verfall. Familiengeschichten und Liebesdiskurse im Realismus und Spätrealismus.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2000.
271 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3826014901

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Kathrin Weber / Tilmann F. Kreuzer (Hg.): Invidia – Eifersucht und Neid in Kultur und Literatur.
Psychosozial-Verlag, Gießen 2011.
257 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783837921168

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Anne Meinberg: Von der Liebe will ich erzählen. Liebe und Sexualität im Erzählwerk von Adolf Muschg.
Bouvier Verlag, Bonn 2007.
193 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783416032049

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Bettina Bussmann (Hg.): Liebe. Freundschaft, Sexualität, Familie.
Reclam Verlag, Stuttgart 2011.
167 Seiten, 4,80 EUR.
ISBN-13: 9783150150665

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Dave Monroe (Hg.): Philosophie für Verdorbene. Essays über Pornografie.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Heike Steffen.
Rogner & Bernhard Verlag, Berlin 2011.
250 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783807710662

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Cristina Beretta: Das erotische Unbehagen in der russischen Literatur um 1900. Subversive Entsagung von Arthur Schopenhauer über Lev Tolstoj und Vladimir Solov’ev zu Fedor Sologub.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2011.
520 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783825359270

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Wilhelm Schmid: Die Liebe neu erfinden. Von der Lebenskunst im Umgang mit Anderen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
397 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783518422038

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Christian Metz: Die Narratologie der Liebe. Achim von Arnims "Gräfin Dolores".
De Gruyter, Berlin 2012.
453 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110265200

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