Der Mann in den Bergen

Hermann Hesses Korrespondenz der Jahre 1933 bis 1939 zeigt den Dichter zwischen allen Stühlen

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hermann Hesse war ein großer Briefeschreiber, oft wider Willen. Mehr als 44.000 Sendungen an ihn sind überliefert, und ihre Beantwortung kostete ihn einen großen Teil seiner Arbeitskraft, besonders im Alter. Trotzdem oder gerade deswegen sind Hesses Briefe eine lesenswerte Parallelerzählung zu Biografie und literarischem Œuvre – mehr noch: Sie zeigen, wie beides zu einem gegebenen Zeitpunkt zusammenhängt. Volker Michels bietet in seiner Auswahledition eine sorgfältig abgewogene, überzeugende Mischung aus der Korrespondenz mit Familienmitgliedern, Kollegen, Freunden, Verlegern und einfachen Lesern, die Hesse um Rat in ihren Lebensnotlagen und sogar um Geld angingen. Nun also bereits in einem fünften Teil, der die Jahre 1933 bis 1939 abdeckt.

Dabei fallen zum einen die Kontinuitäten zu den vorigen Bänden auf. Einige Briefwechsel laufen wie ein Generalbass durch die Jahrzehnte. Selbst mit Schulfreunden aus der Maulbronner Seminarzeit – die er im Roman Unterm Rad verarbeitete – schreibt er sich bis ins hohe Alter. Auch die Klagen über sein Augenleiden, die hohe Arbeitsbelastung, die innere Ferne zum allgemeinen Literaturbetrieb wiederholen sich von Jahr zu Jahr. Hesse ist eben nicht nur ein Autor, der Krisen zum Gegenstand seines Oeuvres macht, er erlebt sie immer wieder selbst. Im Gegensatz zu den beiden vorhergehenden Bänden zu den Jahren 1916–1923 und 1924–1932 hat sich seine persönliche Lage aber beruhigt. Die dritte Ehe mit Ninon Dolbin gelingt wesentlich besser als die ersten beiden. Gemeinsam bewohnen sie seit 1931 ein Haus, das ihnen Hesses Mäzene Hans C. und Elsy Bodmer geschenkt haben. Die Suizidgedanken, wie sie noch im Steppenwolf (1927) prominent sind, scheinen ferngerückt. Dieser Roman und vor allem das nachfolgende Buch Narziss und Goldmund (1930) verkaufen sich gut und sorgen endlich für einigen Wohlstand. Selbst die Honorarzahlungen aus dem großen Markt Deutschland treffen zwar verzögert, aber einigermaßen zuverlässig ein. Also alles in Ordnung?

Keineswegs: Jetzt brechen die Katastrophen der Außenwelt in das Leben des Autors ein. Michels hat Anfang und Ende dieses Bandes mit Bedacht so gesetzt, dass er von der Machtübergabe an Hitler bis zum Anfang des Zweiten Weltkriegs reicht. Mit dem Nationalsozialismus beginnt eine schwierige Phase, so sehr sich Hesse im Tessiner Bergdorf Montagnola von den „Niederungen des Aktuellen“ fernzuhalten sucht. Privat bezieht Hesse sofort nach Hitlers Berufung Position. Schon im März 1933 schreibt er seinem Sohn Bruno: „Die deutschen Zustände bringen mich noch mehr in Sorgen, es steht auch mir wieder viel Häßliches und eine Art Krieg bevor, mit Anfeindungen, Boykott, schwarzen Listen etc. Immer das alte Lied.“ Sich selbst möchte er aus den politischen Kämpfen jedoch heraushalten. Dieses Verhalten rationalisiert er im Brief:

Ich habe den Krieg 1914-1918 so intensiv und bis zur Vernichtung erlebt, daß ich seither über eines vollkommen und unerschütterlich im Klaren bin: daß ich, für meine Person, jede Änderung der Welt durch Gewalt ablehne und nicht unterstütze, auch nicht die sozialistische, auch nicht die scheinbar erwünschte und gerechte. […] Die Welt ist krank an Ungerechtigkeit, ja. Sie ist noch viel mehr krank aus Mangel an Liebe, an Menschentum, an Brudergefühl. Das Bruder­gefühl, das dadurch genährt wird, daß man zu Tausenden marschiert und Waffen trägt, ist mir sowohl in der militärischen wie revolutionären Form nicht annehmbar.
(An Rudolf Jakob Humm, 19. März 1933)

Diese Linie lässt sich auf Dauer jedoch nicht durchhalten: Hesse gerät zwischen die Fronten – eben in die „Niederungen des Aktuellen“ (der von Michels gewählte Titel fasst Hesses Ansicht bündig zusammen). Auf der einen Seite kritisieren ihn Exilanten wie Leopold Schwarzwild, weil er nicht öffentlich Position gegen das Regime bezieht. Auf der anderen feindet ihn 1936 der Nazidichter Will Vesper an, weil er im schwedischen Bonniers Litterära Magasin Sammelrezensionen schreibt, in denen er auch Bücher jüdischer und exilierter Autoren empfiehlt – noch dazu „in jüdischem Sold“, da der Verlag jüdischen Eigentümern gehört. Pikant daran ist, dass Vesper Hesses unmittelbarer Vorgänger bei der Zeitschrift war, jedoch wegen allzu deutlicher NS-Propaganda entlassen wurde.

Über weite Strecken zeigen die Briefe, wie stark Hesse laviert: Während er sich privat sehr deutlich äußert, muss er gegenüber deutschen Lesern vorsichtig sein – die Post könnte geöffnet werden. Zudem will er seinen Verlegern gegenüber unbedingt loyal bleiben: Das ist zunächst der große alte Samuel Fischer, der ihn 30 Jahre lang an sein Haus bindet und im Herbst 1934 stirbt. Dann dessen Schwiegersohn Gottfried Bermann Fischer, der den eigentlichen S. Fischer Verlag verlassen muss und im Exil ein eigenes Haus in Wien aufbaut, das der deutsche Einmarsch 1938 wieder zunichtemacht. Und schließlich Peter Suhrkamp, der den verkleinerten Rumpfverlag trotz etlicher Anfeindungen durch die schwere Zeit zu steuern sucht. Es gibt aber auch pekuniäre Gründe für diese Treue, denn Hesse ist auf die Einkünfte aus dem großen Markt Deutschland angewiesen, die wegen ständig verschärfter Devisenbestimmungen immer spärlicher fließen. Als Thomas Mann 1936 klar Stellung gegen die Nazis bezieht, nachdem er lange aus ähnlichen Gründen stillgehalten hatte, sieht Hesse dies zunächst als eine Dummheit. Doch auch er merkt, dass seine Position im Laufe der Zeit immer schwieriger wird. Immer weniger Journale in Deutschland nehmen Hesses Beiträge an. Seine Bücher werden zwar nie offen verboten, sind aber in Deutschland Ende der 1930er Jahre nur noch unter dem Ladentisch zu kaufen. Und doch unterschreibt er noch nach Kriegsbeginn – „vorgestern habe ich wahrscheinlich eine große Dummheit begangen“ (28. September 1939) – einen neuen Vertrag mit S. Fischer.

Obwohl Hesse sich an vielen Stellen klar gegen Antisemitismus wendet und etliche jüdische Autoren hoch schätzt, findet man andererseits irritierende Passagen wie diese:

Die traurige Mentalität der deutschen Juden ist mir leider seit langem bekannt, ihr Verhalten gegen die Ostjuden war schon lang vor Hitler ein Verrat und eine Schande, beinah möchte man sagen „es geschieht ihnen recht“, wenn das nicht gegenüber ihrer jetzigen Lage unerlaubt roh wäre. Aber wir dürfen nicht vergessen: Juden wie Deutsche haben neben ihrer rohen dummen und feigen Mehrheit auch eine feine, weise und tapfere Minderheit, mag sie noch so klein sein.
(An Joseph Englert, 29. September 1933)

Widersprüchlich ist auch sein Verhalten gegenüber der Exilpublizistik: Einerseits versucht er bei den deutschen Behörden kein Aufsehen zu erregen, auch weil seine Geschwister und viele Freunde noch im Land leben, andererseits sagt er dem Freund Thomas Mann seine Mitarbeit bei der Exilzeitschrift Maß und Wert zu; und obwohl er vertraglich an den in Deutschland verbliebenen S. Fischer Verlag gebunden ist, will er Gottfried Bermann Fischer unterstützen, indem er auch bei ihm veröffentlicht. Michels Auswahl erlaubt einen Blick auf diesen diesmal durch äußere Krisen zerrissenen Hesse, der trotz allem in den Nebenstunden sein Glasperlenspiel voranzutreiben versucht, dessen Verbot er im Voraus ahnt. Tatsächlich wird der fertige Roman 1943 nur in der Schweiz erscheinen können.

Die offizielle Zurückhaltung  ist jedoch nur eine Seite der Geschichte: Schon ab Februar 1933 bemüht sich Hesse darum, exilierte und verfolgte Autoren ganz praktisch zu unterstützen. Dazu gehören der junge Peter Weiss, dem er Illustrationsaufträge verschafft, Ernst Wiechert, Enrique Beck (der Übersetzer Federico Garcia Lorcas), der expressionistische Dichter Albert Ehrenstein und viele andere. Hesses Einsatz für andere ist an sich nicht neu. Wir lesen im Band auch, wie er sich für den längst in einer Heilanstalt lebenden Robert Walser oder für Emmy Ball-Hennings engagiert, die Witwe seines engen Freundes und Biografen Hugo Ball. Dieser Einsatz, der ohne Hesses pietistische Erziehung so kaum denkbar wäre, gewinnt aber zur Zeit des National­sozialismus eine neue Qualität. Die rigide Schweizer Fremdenpolizei wird ihm dabei fast zum Feind. Während er sich bei den Behörden für Emigranten einsetzt, klagt er über die häufigen Ausweisungsbefehle für

viele Dutzend Menschen, darunter viele Kollegen von mir […]; ihr Verbrechen besteht darin, daß sie Österreicher waren und aus guten Gründen ihren Paß nicht in einen reichsdeutschen verwandeln lassen wollen oder können. Wäre unsere Fremdenpolizei auf Hitler vereidigt, so könnte sie nicht prompter in seinem Sinn reagieren.
(An Georg Reinhart, 28. Mai 1938)

Hesses Bemühungen intensivieren sich noch einmal 1939, als nun auch jüdische Verwandte und Freunde seiner aus dem bukowinischen Czernowitz stammenden Frau seine Hilfe brauchen. Als der Krieg im September des Jahres beginnt, hat Hesse ihn längst erwartet. Sein Pessimismus schon der 20er Jahre hat Recht behalten.

Es ist ein widersprüchlicher Autor zwischen allen Stühlen, den uns Michels präsentiert. Aber gerade dieses Widersprüchliche macht den Band mindestens so lesenswert wie seine Vorgänger. Etwas ärgerlich ist wieder der selektiv gestaltete Anhang, der bei den Biografien vieler Briefschreiber einfach auf die Vorgängerbände verweist, sodass man bei der Lektüre nur dieser Briefe manchmal ratlos zurückbleibt. Man darf gespannt sein auf den nächsten Band, in dem sich wohl der Krieg und der Abschluss des Glasperlenspiels, vielleicht auch schon der 1946 verliehene Nobelpreis widerspiegeln werden. Zurück bleibt jedenfalls das Bild eines Autors, der aufgrund seiner Ideale und eigentlich gegen seinen Willen zum praktisch Engagierten wird:

Wie weit ein Dichter sich zu Gunsten Einzelner, die ihn in Anspruch nehmen, seinem Werk entziehen dürfe, weiß ich nicht; ich weiß nur, daß ich seit Jahr und Tag beinahe nur noch diesen Einzelnen, mir und dem Werk aber nicht oder kaum mehr gehöre, und da heute die Not so groß ist, mag es auch richtiger sein, daß der Künstler mit untergehe und sich in der großen Mühle verbrauchen lassen. Nun, das geschieht ohne unser Zutun.
(An Heinz Priebatsch, November 1939)

Titelbild

Hermann Hesse: »In den Niederungen des Aktuellen«. Die Briefe. 1933-1939.
Herausgegeben von Volker Michels.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
768 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428108

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