Wenn Historiker Déjà-vus haben

Ein Debattenbeitrag

Von Franz Sz. HorváthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Sz. Horváth

Wenn der Historiker in mir Déjá-vus hat, weiß er wie schwierig es ist, Parallelen zwischen Ereignissen der Vergangenheit und seiner eigenen Zeit zu ziehen. Wenn in Historikern beim Flanieren durch ihre Gegenwart Erinnerungen auftauchen, Bilder aus der Versenkung kommen und Wortfetzen längst Verstorbener im Ohr erklingen, wenn sie Schlagzeilen aus alten Zeitungen, Klagen und Anklagen von Tribunalen vor dem geistigen Auge Revue passieren lassen, dann wissen sie um das alte Bonmot Marxens: Geschichte wiederholt sich nicht und wenn doch, allenfalls als Farce. Das Interessante am Geschichtsbild des Ökonomen und Philosophen Marx ist, dass es aufgrund seines dialektischen Charakters die Rückkehr überwunden geglaubter Momente und Phänomene einschließt, auch wenn es grundsätzlich linear und teleologisch angelegt ist.

Meine Lektüre der vergangenen Tage war die Autobiographie des Mathematikers Egon Balas (1922–2019). Sie ist überschrieben mit Der Wille zur Freiheit. Der weltberühmte Mathematiker schildert darin seine „gefährliche Reise durch Faschismus und Kommunismus“: Der in Rumänien in eine ungarisch-jüdische Familie Geborene wurde 1941 zum Kommunisten, beteiligte sich am Kampf der Partei in der Illegalität. 1944 wurde er jedoch von der ungarischen Geheimpolizei gefasst, gefoltert und beinahe umgebracht. Nachdem er auch den Häschern der ungarischen Pfeilkreuzler entkommen war, gelang ihm nach 1945 eine Karriere im rumänischen Parteiapparat. Allerdings geriet er in den Orkus des Stalinismus, musste mehrfache betriebsinterne Tribunale über sich ergehen lassen und verbrachte 1952–54 mehr als zwei Jahre ohne Anklage und ohne Urteil in Einzelhaft. Man bezichtigte ihn des „bürgerlichen Objektivismus“, denn er entstammte einer zeitweilig wohlsituierten bürgerlichen Familie und er machte sich die schematischen Losungen des Stalinismus nicht zu eigen. Seine jüdische Abstammung, auch wenn sie ihm nie viel bedeutete, machte ihn im Zeitalter der stalinistischen „Ärzteverschwörung“, die auch in anderen Ostblockländern zu Ausbrüchen des Antisemitismus führte, verdächtig. Seine Abstammung und sein Wille, die wissenschaftliche Wahrheit über Dogmen zu stellen, waren seine „Fehler“. 

Die Autobiographie des Mathematikers Balas ist besonders aus der Perspektive und vor dem Hintergrund eines seiner Zeitgenossen interessant, Ernő Gáll (1917–2000). Dieser entstammte ebenfalls einer ungarisch-jüdischen Familie in Rumänien, war bereits vor dem Krieg Kommunist geworden, musste zwischen 1942–44 Arbeitsdienst leisten und verbrachte zwischen Dezember 1944 und April 1945 fünf Monate im KZ Buchenwald. Nach seiner Rückkehr nach Rumänien wurde er Chefredakteur der kommunistischen Parteizeitung „Igazság“ („Wahrheit“) und 1949 Universitätsprofessor. Insbesondere im Jahrzehnt zwischen 1945–55 engagierte er sich als Dogmatiker und Scharfmacher: er prangerte in Zeitungsartikeln Wissenschaftler und Forscher als bürgerlich, kosmopolitisch und nationalistisch eingestellt an, hetzte namentlich gegen Historiker, für die der Marxismus „nur eine“ mögliche Weltdeutung und kein ausschließliches Prinzip war und teilte die Welt dichotomisch in das Reich des (sozialistisch gewordenen) Guten und des (in der Agonie liegenden) imperialistischen Bösen ein.

Beide, Balas wie Gáll, erkannten jedoch im Laufe der 1950er Jahre (Balas wohl schneller als Gáll), wie viel Unrecht das von ihnen propagierte System unschuldigen Menschen antat, wie viel Ungeduld, Paranoia und Terror verbreitet wurde. Gáll blickte seit den 1970er Jahren selbstkritisch auf seine eigene Verwicklung in und Verantwortung für die sprichwörtliche Hexenjagd zurück und distanzierte sich von seinen Artikeln aus den 1950er Jahren. Balas gelang es 1966, das Land zu verlassen und er schlug in den USA eine erfolgreiche Karriere als Mathematiker ein. Selbstverständlich kannten die beiden einander, wechselten noch Jahre später Briefe und wussten, was sie jeweils überlebt hatten.

Wenn der Historiker in mir Déjà-vus hat, weiß er, dass Geschichte sich nie exakt genauso wiederholt, wie sie einmal stattgefunden hat. Dennoch gibt es Muster, Argumente und Strukturen des Denkens, die aus der Ferne den Hut erheben und einem zuwinken. Deshalb erkennt der Historiker, der soeben die schmerzhaften Seiten des Stalinismus mit seinen willkürlichen Anklagen, essentialistischen Anschuldigungen, intoleranten Fehlschlüssen und Instrumentalisierungen durchblätterte, das Feixen des Vergangenen in der Ungeduld heutiger Aussagen und Verzerrungen. Nichts anderes grüßt nämlich wieder, wenn eine niederländische Übersetzerin oder ein Katalane das Gedicht „The Hill We Climb“ Amanda Gormans nicht übersetzen dürfen, vor allem weil sie keine Schwarzen sind. (Amanda-Gorman-Übersetzer: »Ich wurde abgelehnt, weil ich die falsche Hautfarbe und das falsche Geschlecht habe«) Im Stalinismus sprachen die ideologischen Dogmatiker ihren auserkorenen Gegnern aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht (Bürgertum) oder einer religiös-ethnischen Gruppe (Judentum) ab, bestimmte Argumente oder überhaupt die Welt zu verstehen. Das führte letztlich zum Ausschluss dieser Personen aus der Gemeinschaft und zum Entzug ihrer Rechte. Heute sind es das Alter, die Zugehörigkeit zu einer (als einheitlich gedachten) Gruppe (Weiße) und die vermeintlich inadäquate Sicht auf die Phänomene, die Einzelne disqualifizieren sollen. Auch wenn der Stalinismus in seiner extremen Form den Tod zahlreicher Unschuldiger zu verantworten hatte, während die heutigen Identitätsdiskurse friedlich vorgehen: in beiden gesellschaftlichen Diskursen werden individuelle Leistung und Kompetenz missachtet, stattdessen gibt es Rechte qua Abstammung. Das ist beiden Diskursen gemeinsam.

In so manchen Rezensionen liest sich das dann so: „[…] bei aller Begeisterung, die Chomsky heute noch zu entfachen vermag, zeigt sich gerade an ihm die Gefahr, dass der beschränkte Blick des weißen alten Mannes die Sicht auf wichtige gesellschaftliche Probleme auch verstellen kann. […] müsste vielleicht gerade er – Noam Chomsky – sich der Äußerung einmal enthalten und andere sprechen lassen.“ Die Forderung des Autors kommt damit einem Sprechverbot nahe auf der Basis, dass jemand a) einen „beschränkten“ Blick habe, b) weiß, c) alt und d) ein Mann sei. Diese Eigenschaften disqualifizieren heute offenbar mehr als es inhaltliche Aussagen je täten. Für solche kann man sich nämlich entschuldigen, um weiterspielen zu können. Die Zugehörigkeit zu den erwähnten Kategorien scheint aber endgültig zu disqualifizieren. Dieser Sprechakt ist willkürlich: Wie soll ich erkennen, ob eine Perspektive beschränkt ist oder nicht, wenn ich sie gar nicht erst öffentlich werden lassen will? Der Sprechakt ist aber auch unduldsam. Dennoch gelten solche Äußerungen heute als progressiv, obwohl sie Grundsätze der Aufklärung in ihr Gegenteil verkehren.

Dabei springen das Essentialistische und Kollektivistische des Zitats jedem Historiker und Gesellschaftswissenschaftler ins Auge, erst recht, wenn es in den Kontext aktueller Debatten um Amanda Gorman, „critical whiteness“, „cultural appropriation“ usw. eingebettet wird. Dabei geht es generell darum, dass Weiße aufgrund ihrer Sozialisation und Lebenswelten, die sie angeblich automatisch in eine privilegierte Lage versetzen, sich die kulturellen Artefakte von Nichtweißen auf illegitime Art und Weise aneignen und ihrer natürlichen Kultur entfremden würden. Dass solche Denkmuster letztlich auf Spaltung hinauslaufen, anstatt das Gemeinsame zu suchen und das Wertvolle des zu betonen, dass jemand sich für Neues und Fremdes interessiert, liegt auf der Hand. Das Zitat wie auch die ihm zugrunde liegende Haltung verweisen auf das Poppersche „Toleranzparadox“ und es fordert daher zu einer Antwort heraus. Hierbei geht es nicht um die jeweilige Person und ihre Aussagen: Ob Chomskys rezensiertes Buch einen „beschränkten“ Blick (man beachte und betone hier die Mehrdeutigkeit des Begriffes!) offenbare oder nicht, ist in diesem Kontext zweitrangig. Ob seine Ansichten zutreffend oder inadäquat sind, ebenfalls. Was auf dem Spiel steht, ist nichts weniger als dass wir, die westlichen Gesellschaften, uns nicht von jenem Gipfel stoßen lassen, den wir bereits erklommen haben. Die freie Luft auf diesem Gipfel, die Voraussetzung eines freien Geistes, drückt ein Voltaire zugeschriebener Satz am pointiertesten aus: „Ich lehne ab, was Sie sagen, aber ich werde bis auf den Tod Ihr Recht verteidigen, es zu sagen.“ Was auf dem Spiel steht, sind also die Werte der Aufklärung: Meinungsfreiheit, Toleranz, Gleichheit.

Denn der Historiker in mir sieht in den aktuellen Debatten eine Welle des Totalitarismus heranbrausen, die es nicht auf eine Auseinandersetzung, nicht auf die Kraft des Arguments, die Euphorie der Leistung und den Schwung der Debatte anlegt, sondern darauf, all dies zu unterbinden. Damit nichts mehr gesagt wird. Man fordert, wie der obige Autor, das Recht „marginalisierte[r] Gruppen […] für sich selbst sprechen [zu] können“ (Ergänzungen von mir, F.H.), und merkt nicht, dass man dabei anderen das gleiche Recht abspricht. Anstatt Übersetzungen miteinander zu vergleichen, untersagt man sie. Anstatt die Verdienste von Individuen zu untersuchen, werden diese willkürlich bestimmten Gruppen zugeschlagen, ihnen bestimmte Einstellungen unterstellt und sie in Gruppenhaft genommen. Im Namen des Diskurses wird der Diskurs unterbunden.

Was der Historiker in mir erlebt, ist somit die Rückkehr des Kollektivs und sich selbst ermächtigender Akteure, die sich anmaßen, den Kurs der Geschichte bestimmen zu wollen. Zu entscheiden, wer etwas sagen kann. Zu bestimmen, wer qualifiziert ist, künstlerisch tätig zu werden. Das ist eine Beschneidung individueller Freiheiten und Rechte, das Grab aufklärerischen Gedankenguts. Diesem Ansinnen müssen wir widersprechen, wollen wir keine Rückkehr jener Zeiten und jener Gesellschaft, die einer der besten Kenner des Stalinismus, Orlando Figes, die Gesellschaft der „Flüsterer“ nannte. Ich will nicht (wieder) flüstern müssen.