Krasse Klassiker des Gegenwartstheaters

George Taboris frühe Stücke zeigen den Weg zur Meisterschaft schwarzhumoriger Geschichtsdramatik

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon die äußeren Stationen von Georges Taboris bewegtem Leben lassen etwas erahnen von der Dramatik und Absurdität seines Jahrhunderts und von jener daraus emergierenden Lebensweisheit als Kennzeichen der Texte des 1914 Geborenen. Nach einer Kindheit in Budapest und dem Besuch der Hotelfachschule in Berlin folgten Migrantenjahre als englischer Korrespondent  und Geheimdienstmitarbeiter auf dem Balkan, in der Türkei, in Kairo und in Jerusalem. Anschließend wurde Tabori in London zum Romanautor, ging als Drehbuchschreiber nach Kalifornien und trat in New York als Theaterautor hervor. Nach diesen mannigfaltigen Beobachtungs- und Schreibeinsätzen an den Schauplätzen der Weltgeschichte war er gerade mal Ende 30. Früh schon hatte er Erfolge als Romancier. Mit Mitte 50 begann seine Theaterlaufbahn im deutschsprachigen Theaterbetrieb. Von 1970 bis zu seinem Tod im Jahr 2007 wirkte er als aufsehenerregender Dramatiker, zudem als von den Schauspielern geliebter Regisseur eigener wie fremder Stücke vor allem in Berlin, Bremen, Tübingen, Bochum, München und Wien.

Tabori hat lesenswerte Lebenserinnerungen verfasst (siehe auch hier) und in Erzählungen wie „Meine Kämpfe“ auf die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts reagiert. Die Plots und Themen seiner Theatertexte elaborierte er oft auch als Hörspielfassungen für das Berliner RIAS-Radioprogramm gemeinsam mit Jörg Jannings. An der chronologischen Stückesammlung bestens nachvollziehen lässt sich Taboris variierende Wiederaufnahme seiner Themen und Leitmotive und sein Werdegang als Großmeister des schwarzhumorigen Spiels mit den Niederlagen der Menschlichkeit. Die 15 Stücke im ersten Band der zweibändigen Neuausgabe seiner gesammelten Theatertexte heben an mit den in New York oder London uraufgeführten Stücken der 1950er-Jahre. Deren Erstling wurde gleich unter der Regie des berühmten Elia Kazan fürs Broadway inszeniert – kam dort allerdings wegen der von Kritikern schlecht bewerteten Voraufführungen nie an. Dieser erste Dramenband reicht bis ins Jahr 1985; im zweiten Band folgen Taboris bekannteste Stücke wie „Mein Kampf“, „Weismann und Rotgesicht“ und „Goldbergvariationen“, ferner ein Dutzend weitere Spätwerke dieses ewig jung Gebliebenen. Ein instruktives, kurzes Vorwort des befreundeten Tagesspiegel-Journalisten Peter von Becker portraitiert Tabori als Mensch und Autor. Die im Anhang gedruckten Notizen zum Entstehungsprozess der einzelnen Stücke, zu ihren Uraufführungen und zu weiteren Inszenierungen sind nützlich, dabei so knapp wie informativ.

Taboris erstes Theaterstück verhandelte unter dem biblisch invertierten Titel „Flucht nach Ägypten“ tragische Zumutungen des Schicksal einer (aus Österreich stammenden) Flüchtlingsfamilie, die während der Zeit des Nationalsozialismus eine Jüdin versteckte, weswegen der Vater ins Konzentrationslager kam. Sie emigrierte, nachdem auch noch das Textilgeschäft ausgebombt wurde – und sitzt nun in Ägypten fest, wo ihr das Geld ausgeht. Während der Familienvater aufgrund der Nazi-Folter im Rollstuhl sitzt, versucht seine attraktive Frau aufopferungsvoll das beste aus der misslichen Lage zu machen. Doch kann ihre große Hoffnung, Amerika, nur gesunde, tatkräftige Einwanderer gebrauchen: Man sortiert bei der Visumvergabe den zerschunden Mann aus medizinischen Gründen aus. Dieser ernste, melodramatische Stoff wird trotz Taboris Sinn für Zuspitzungen und groteske Lebenslagen in seiner ersten Theaterarbeit noch kaum ins Komische moduliert. Das ändert sich, nachdem auch sein zweites, ernstes, politisches Stück „Des Kaisers neue Kleider“ (schwarzhumorig als „eine Familienkomödie“ überschrieben), am Broadway 1953 durchgefallen war, obwohl dieses Drama über innerfamiliäre Heldenmythen, über Anpassung oder Unterwerfung eines Gelehrten in einer Diktatur für die traditionsreiche Anthologie „Best Plays of the Year“ ausgewählt wurde.

Taboris drittes Stück, „Brouhaha“ (1958) ist eine flotte Dritte-Welt-Revolutionskomödie, die noch oder gerade heute im Kontext forcierter akademischer und theaterpraktischer Postkolonialismusdebatten Beachtung verdient. In einem bankrotten arabischen Kleinstaat überbieten sich der König, der antikolonial eingestellte britische Konsul und ein amerikanischer Agent im Intrigieren, um an Aufmerksamkeit und Hilfsgelder zu kommen. Die Revolution, in die sich dann auch noch russische Marinetruppen einmischen, ist dabei keineswegs eine Sache des Volkes, sondern der Spielball diverser Sonderinteressen – nicht zuletzt der erotischen Interessen der Beteiligten, die hier, wie stets bei Tabori, explizit und humorvoll ausgespielt werden. Das Stück bietet ein Feuerwerk an geistreichen politischen Paradoxa nebst meisterhaft arrangierter Situationskomik. Es dürfte kaum andere Theatertexte geben, die derart souverän und leichthändig die Stellvertreter-Konflikte des kalten Kriegs und die strukturellen Probleme peripherer Länder mit allerhöchstem Unterhaltungswert auf die Bühne bringen. Doch auch diesem raffinierten Stück war in New York kein Erfolg beschieden, und in London auch nur ein mäßiger – obwohl der schon als Radiokomiker und Filmschauspieler berühmte Peter Sellers hier bei seinem Theaterdebüt den Sultan verkörperte.

Mit dem Stück „Die Kannibalen“ beginnt 1968 Taboris theatralische Auseinandersetzung mit dem Holocaust, und zugleich 1969 in der berühmten Experimental-Theater-Werkstatt des Berliner Schillertheaters seine nachhaltige deutsche Theaterarbeit. Das Kannibalen-Spiel-im Spiel-Geschehen, ein Erinnerungsdrama über die Schrecken der Lagerzeit, markiert zugleich den Beginn der anthropologisch-politischen Thematik des Essens und Hungerns, die Tabori in weiteren eigenen Stücken, ferner auch in seiner Bühnenadaptation von Franz Kafkas „Hungerkünstler“ immer wieder theatralisch verhandeln wird.

Unmittelbar gegenwartsbezogen wurde Tabori als Dramatiker, als er 1971 in der Antikriegsfarce „Pinkville“ Greuel des soldatischen Drills, der Verrohung, Vergewaltigung, Entfremdung und des traumatisierten Wahnsinns während des Vietnamkriegs auf die Bühne brachte. Direkt bezogen auf seine New Yorker Lebenswelt der 1960er-Jahre ist das Thema der Rassenkonflikte, das er – wiederum Formen des Spiels im Spiel verwendend – in „Die Demonstration“ durchspielt. Die prekäre Standortgebundenheit aller Verhandlungen dieser Konflikte wurde schon damals vom Dramatiker mit bedacht, indem er ein liberales weißes Ehepaar im (eskalierenden) Rollenspiel mit zwei Afro-Amerikanern deren von Verletzungen und Gewalt geprägte Lebenserfahrungen nachempfinden lassen will.

Wie der Dramatiker bestimmte Textpassagen in verschieden Stücken verwendet, lässt sich gut an Passagen aus seinem Stück „Clown“ nachverfolgen. Später finden sich diese in den Theatertexten „Der Voyeur“, „Peepshow“ und ebenso in „Weismann und Rotgesicht“ wieder.

Mit dem Baukastenstück ‚Sigmunds Freude‘ erreichte Taboris Schreiben und Inszenieren ein neues Stadium experimenteller Theaterarbeit. Aus einem Baukasten von 32 kleinen Spielanweisungen können die Schauspieler in dieser revueartigen „Show“ über „das Wesen des Glücklichseins“ im Rückgriff auf eigene Erfahrungen Aspekte des Glücklichseins vor- und mit dem Publikum durchspielen. Mindestens so interessant wie Taboris 32 Miniszenen-Skizzen (auf 8 Buchseiten) sind hierbei seine ebenso ausführlichen methodischen, geschichtsphilosophischen und theatertheoretischen Vorüberlegungen zu dieser sehr freien Spielvorlage. Dem Glück wird nachgespürt in basal biophysischen Prozessen wie dem Durst und dem erlösenden Trank freilich auch mit metaphysischen Fragen nach Inspiration oder zu Gefühlen bei der Problemlösung, der Heimkehr oder der Trauer.

Eine wunderbar pointensatte Komödie über das Altern, über zahllose Krankheiten und Ängste verfasste der 60-jährige Tabori in den 1970er-Jahren: „Die 25. Stunde“. Vorarbeiten hierfür reichen vermutlich in seine amerikanischen 1960er-Jahre zurück; nach der niederländischen Uraufführung brachte Karin Baier das Stück 1992 in Düsseldorf erstmals auf Deutsch zur Aufführung, bevor es der fast 80-jährige Tabori 1994 im Wiener Akademietheater erstmals selbst inszenierte. Dieses Stück hat angesichts der demographischen Entwicklung vermutlich und hoffentlich noch eine große Theaterzukunft vor sich. Lachen im Alter (und gerade auch übers Altern) ist gesund – und gewiss nicht die schlechteste Umgangsweise mit der eigenen Endlichkeit.

Taboris „Mutters Courage“ entstand aus einer Anfang der 1970er-Jahre veröffentlichten Erzählung. Der Text bringt als schambesetzt-peinlicher Mutter-Sohn-Dialog jene abenteuerliche Groteske auf die Bühne, die darstellt, wie eine einfache Jüdin aufgrund von Nachfragen, Zufällen und durch verschroben-korrekte Funktionsträger ihre schon erfolgte Deportation nach Auschwitz übersteht und – mit einiger Verspätung – noch am selben Abend zur geplanten Rommé-Runde bei ihrer Schwester und ihrem Schwager eintrifft.

Das thematische Material des Dramentexts „Der Voyeur“, die sozialen Konflikte des Rassismus in den USA, wurde in diversen Fassungen und Kontexten von Tabori bearbeitet. Der Titel adressiert die heiklen Beobachterpositionen – selbstredend auch die des Theaterspielens und Theaterschauens –, angesichts einer Handlung, die sich um Barmherzigkeit und Überwindungsversuche der Rassentrennung dreht, die in blutige Gewalt umschlagen und die letztlich von der Justiz (oder auch von der moralischen Anstalt des Theaters) kaum eindeutig oder angemessen beurteilt werden können.

Zu Taboris schwächeren Stücken gehören „Jubiläum“ von 1983 und „Peepshow“ von 1984. „Jubiläum“ spielt als Gespenster-Groteske auf einem Friedhof, wo tote Naziopfer mit gewalttätigen Neonazis über ihre Leiden und ihren Hass debattieren. „Peepshow“ hingegen mixt frech und fröhlich Taborische Biografiesplitter von Liebe, Sex und Tod mit Shakepearschen Figuren und Beckettschen Momenten. Mit „M nach Euripides“ nimmt diese Tabori-Edition auch eine (sehr freie) Klassikerbearbeitung auf, die den Medea-Stoff umschreibt und diesmal Jason zum Kindermörder macht. Aus seinen vielfältigen Bearbeitungen von Klassikern bringt dieser Band auch Taboris Bühnenadaptation von Franz Kafkas Erzählung „Ein Hungerkünstler“. Hieran lässt sich studieren, wie sich der versierte Theatermacher Texte szenisch zurechtlegt.

Die chronologische Ausgabe der gesammelten Theatertexte Taboris ist in zweierlei Hinsicht überaus nützlich: Den Theatermachern bietet sie den Zugang zu den jeweils knapp in ihrer Entstehungs- und Aufführungsgeschichte kommentierten Dramen, wobei sich gerade auch unter den älteren Stücken des ersten Bandes einige finden, die man gerne wieder auf den Spielplänen sähe. Den Philologen, den Theater- und Kulturhistorikern eröffnet diese Edition mit insgesamt gut 1500 Seiten der Theatertexte Taboris die Grundlage für die genauere Erforschung dieses Dramenautors, der in vielen Hinsichten zu den wichtigsten und originellsten Theatermachern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu zählen ist. Nicht umsonst erhielt Tabori 1992 den Büchner-Preis. 

Kollektive Spiel- und Experimentierformen, Körperbilder und Erinnerungsmodelle prägen diese Theatertexte. Das Verhältnis von Katastrophe, Trauma und ihrer psychischen wie ästhetischen Bearbeitung – nicht zuletzt durch den Einsatz von Komikverfahren – lässt sich kaum irgendwo so dringlich untersuchen wie im Werk George Taboris. Den Herausgebern, Maria Sommer und Jan Strümpel, und dem Steidl Verlag ist zu danken für diese willkommene und umsichtige Erschließung dieses bedeutenden Œuvres.

Titelbild

George Tabori: Theater. Band 1.
Herausgegeben von Maria Sommer und Jan Strümpel.
Übersetzt aus dem Englischen von Ursula Grützmacher-Tabori u.a.
Steidl Verlag, Göttingen 2014.
720 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783869307534

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