Vergnügliche Revolten

Drei Reclam-Anthologien „Zum Vergnügen“: Shakespeare, Wilde und Nietzsche

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spätestens seit Thomas Anz‘ Buch „Literatur und Lust“ ist durchgedrungen, dass Lesen „ein hochgradig emotionaler Vorgang“ ist, der, je nach Beschaffenheit der Lektüre und individueller Disposition des Lesers, höchst unterschiedliche Affekte zeitigt. Dabei beschränkt sich die Lusterfahrung keineswegs auf das Vernügen an komischen Gegenständen, sondern bezieht sich ebenso auf das Schreckliche und Tragische. Auch etwas Schaudererhaftes kann genossen werden, wobei es bei der Bewertung des Phänomens der ‚nicht mehr schönen Künste‘ vor allem auf die ‚Differenzqualität‘ des Literarischen ankommt: die Tatsache, dass Literatur weniger bestimmte Schreckenserfahrungen abbildet, sondern diese vielmehr mit ästhetischen Mitteln bearbeitet.

Das scheinen auch zwei der Herausgeber vorliegender, im Reclam-Verlag unter dem Reihentitel „Zum Vergnügen“ erschienenen Anthologien zu wissen. Nichts liegt ihnen ferner, als sich in ihrer Textauswahl auf die lustige und unbeschwerte Seite der sonst ach so ernsten Klassiker zu beschränken. Eine im weitesten Sinne lustvolle Wirkung, so dürfen wir für’s erste festhalten, geht keinesfalls nur von vordergründiger Komik aus. Zuweilen vermag uns auch die „forcierte Heiterkeit von Totentänzen“ (Ludger Lütkehaus über Friedrich Nietzsche) oder ein bis zum „Aberwitz“ getriebener „Widerspruchsgeist“ (Ulrich Horstmann über Oscar Wilde) in Entzücken zu versetzen.

Aber beginnen wir mit einem weniger gelungenen Beispiel, mit dem von Dietrich Klose besorgten Shakespeare-Bändchen. Sicherlich ist es ein lohnenswertes Unterfangen, hinter der Maske des der menschlichen Normalität fast entrückten Klassikers den leichtfüßigen Shakespeare wieder zu entdecken. Weniger plausibel mutet jedoch an, dass der Herausgeber in einer Art vorauseilendem Gehorsam ausschließlich Texte ausgewählt haben will, in denen der englische Dichter als Frohnatur und Schöpfer burlesker Bühnenstücke vernehmbar wird: „Shakespeare ‚zum Vergnügen‘ der Titel dieser kleinen Anthologie ist […] fast tautologisch.“

Kloses Auswahl präsentiert den liebestrunkenen Helden, den benebelten Geisterseher, den trinkfreudigen Falstaff. Sieht man aber einmal von den frühen Hanswurstiaden („Der Widerspenstigen Zähmung“, „Die beiden Veroneser“) und den allseits bekannten Komödien ab, so verdankt Shakespeare seine unerhörte Wirkung auf das Publikum jedoch nicht unbedingt seinem Ruf als Meister der unbeschwerten Unterhaltung. Den elisabethanischen Zeitgenossen dürstete viel zu sehr nach Blut, als dass sie sich mit derart heiterer Schonkost zufrieden gegeben hätten.

Hören wir dazu von berufener Seite Harold Bloom, Doyen der amerikanischen Literaturszene. Ein Stück wie der „Titus Andronicus“, sagt Bloom, entlasse den Zuschauer mit einer „beklommene[n] Heiterkeit“, da das Leiden hier mit beißender Ironie auf die Spitze des Monströsen getrieben werde – und damit über dieses hinaus. Im „Titus“ stiftet Aaron die Söhne Tamoras an, Lavinia über dem Leichnam ihres zuvor ermordeten Gatten zu vergewaltigen. Damit sie die Namen ihrer Peiniger nicht preisgibt, werden ihr Hände und Zunge abgeschnitten. Später wird sie dazu aufgefordert, mit Titus die abgehauenen Köpfe seiner zwei Söhne und seine eigene abgeschlagene Hand von der Bühne zu entfernen: „Lavinia hilf uns auch in diesem Werk, / Mit deinen Zähnen, Kind, halt meine Hand.“

Angesichts solcher Szenen mag man an die von Klose behauptete ‚Tautologie‘ nicht so recht glauben. Auch wenn das gegenläufige Moment in der Sammlung immer wieder durchscheint und sich Shakespeare dadurch gewissermaßen posthum gegen seine Vereinnahmung als mopsfideler Lachsack und possenreissender Entertainer zur Wehr setzt, fügt sich die Sammlung allzu willfährig der Vorgabe des Reihentitels.

Als Meisterwerke der Schwermut hingegen hat der Gießener Amerikanist Ulrich Horstmann gelegentlich Shakespeares „Hamlet“ sowie einige seiner Sonette interpretiert. Kein Wunder also, dass auch Horstmanns Wilde-Anthologie den Leser gerade in jenem Punkt entschädigt, in dem Klose Schiffbruch erleidet: in der Konzentration auf den im Vergnüglichen bisweilen zutage tretenden Antagonismus, in der entschiedenen Transzendierung seiner komödiantisch halbierten, bauchklatschenden Variante.

Horstmann arbeitet seit Jahren zu Wilde, mitunter auch aphoristisch: „Dandy bis zum Abtritt. Die Wand, an die sie ihn stellten, war gekachelt.“ Zum 100. Todestag gratulierte er in der „Frankfurter Rundschau“ mit einem brillanten Artikel („Hinrichtung zur Unsterblichkeit“), der zeigt, dass man von einem ‚Lebenswerk‘ Wildes erst dann sinnvoll sprechen kann, wenn man die sakrosankte These von der über fünf Jahre dauernden geistigen Hinrichtung des Dichters vom Kopf auf die Füße stellt und sie als einen Teil eines von Wilde so gewollten „biografische[n] Gesamtkunstwerk[s]“ interpretiert. In der „Süddeutschen Zeitung“ vom gleichen Tag zog Horstmann ein zweites Mal den Hut und durchmusterte die Neuerscheinungen zum Jubiläum.

Auch die Anthologie will vor allem ein Schuld-und-Sühne-Schema auflösen helfen, das die Arbeiten Wildes und ihre eigentümliche Vergnüglichkeit so nachhaltig verfälscht: „Es kann […] mit dem biografischen Auseinanderdividieren des einen Lebenswerks in die bis 1895 währende Phase effektzentrierter hedonistischer Sprachspiele und das sich anschließende ‚geläuterte‘ Endspiel von ‚De Profundis‘ oder der ‚Ballade vom Zuchthaus von Reading‘ nicht seine Richtigkeit haben.“ Demgegenüber gilt es, die scheinbare Kluft komplementär zu überbrücken. Und was erschiene dazu geeigneter als eben Wildes Arbeiten selbst, deren unterhaltsame Provokationslust sich sogar in der Schäbigkeit des Exils Bahn bricht.

Den Briefen aus dem Gefängnis ist zu entnehmen, was dem homosexuellen Poseur Wilde wirklich wichtig war: die Untadeligkeit des Äußeren. Die More Adey am 6. Mai 1897 übersandte Liste der Bestellungen ist endlos und reicht von einem blauen Serge-Anzug („von Doré“), Filzhüten und Kragen über Taschentücher, Krawatten und Handschuhe bis hin zu perlmutternen Manschettenknöpfen, Haartonikum („ein herrliches Mittel namens Koko Marikopas“) und langen Nachthemden. „Safari zu den Salonlöwen“ überschreibt Horstmann das Kapitel, aus dem dieser Brief stammt, „Prinz Paradox oder Wie man ein Denkmal stürzt“ Wildes künstlerisch-lustvolle Selbstdemontage im Märchen vom „Glücklichen Prinzen“.

Die auf diese Weise entstehenden Arrangements (nur von einer Auswahl zu sprechen wäre in dem Fall zu wenig) tragen selbst unbedingt lustbetonte Züge und der Rezensent geht jede Wette ein, dass Horstmanns Anthologie noch den ausgebufftesten Wilde-Kenner in Erstaunen versetzen dürfte.

„Eine überraschende Familienähnlichkeit“, meinte Thomas Mann einmal, verbinde Wilde mit Nietzsche, und er fährt fort, die Gemeinsamkeit zu benennen: der sie „als Revoltierende, und zwar im Namen der Schönheit Revoltierende“ einende Ästhetizismus. Als literarische Revolten lässt sich in Lütkehaus‘ Nietzsche-Anthologie in der Tat manches entziffern. An zahlreichen Stellen verschwistert sich dieser Antinomian spirit mit dem Vergnüglichen. Man schlage etwa die der „Fröhlichen Wissenschaft“ beigegebenen Lieder, nein, nicht des Prinzen Paradox, sondern des „Prinzen Vogelfrei“ auf: „So lang noch hübsch mein Leibchen, Lohnt’s sich schon, fromm zu sein. / Man weiß, Gott liebt die Weibchen, Die hübschen obendrein. / Er wird’s dem armen Mönchlein / Gewißlich gern verzeihn, Daß er, gleich manchem Mönchlein, So gern will bei mir sein.“

Wie aber kommt dieses Lachen in die Welt, wenn, wie Lütkehaus schon in seinem Buch „Nichts“ (1999) behauptet, Nietzsches Philosophie als „der mißlingende Versuch einer Biodizee angesichts des Nihilismus“ verstanden werden muss? Die Frage führt zum eigentlichen Kern der Anthologie. Ein knolliger Einfall sei es, bemerkt der Herausgeber im Vorwort, Nietzsche ‚zum Vergnügen‘ zu präsentieren, denn der Denker hat diese Empfindung bekanntlich zu den „Sklaventheorien vom Leben“ gerechnet und dem „Zeitalter des Ernstes“ auch sonst genug und übergenug seinen Tribut gezollt. Der Widerspruch löst sich indes auf, sobald man Nietzsches Heiterkeit als einen Akt literarischer Notwehr interpretiert, als verzweifelten Rettungsversuch eines Rettungslosen.

Versuchen wir es mit einem Aphorismus aus den „Nachgelassenen Fragmenten“: „Seines Todes ist man gewiß: warum wollte man nicht heiter sein?“ Der Mensch leidet so tief, vermeldet Nietzsche an anderer Stelle, dass er das Lachen erfinden musste. Sinn, die knappste aller Ressourcen, gibt es im Leben nicht – also feiern wir lachend und tanzend den Unsinn. Eben dieser Reflex begegnet sodann in der viel zitierten Nachricht vom Tode Gottes. Weit davon entfernt, eine historische Verdüsterung nach sich zu ziehen, gebiert sie „Licht, Glück, Erleichterung, Erheiterung, Ermutigung, Morgenröte“. Ebenfalls nachzulesen in der „Fröhlichen Wissenschaft“.

Wie Horstmann hat es auch Lütkehaus sich nicht nehmen lassen, zur lustvollen Lektüre selbst beizutragen. Am Ende des Vorworts stößt der Leser auf folgendes, laut Verfasser bisher unbekanntes Autograph, von Nietzsche „vorausschauend notiert“: „Friedrich Nietzsche zum Vergnügen / W ä r ‚ es, wenn ganz ohne Lügen / Narr‘n und Weise sich vertrügen. / Friedrich Nietzsche zum Vergnügen, / Fröhlich i s t die Wissenschaft / Wenn sie lügt gewissenhaft.“

Weitere in dieser Reihe erschienene Anthologien widmen sich den heiteren Seiten von Cicero (Hrsg. Marion Giebel), Nestroy (Hrsg. Jürgen Hein), Fontane (Hrsg. Christian Grawe), Goethe (Hrsg. Volker Ladenthin), Heine (Hrsg. Heinz Puknus), Jean Paul (Hrsg. Herbert Kaiser) und Eichendorff (Hrsg. Ulrike Hollender).

Titelbild

Dietrich Klose (Hg.): Habt ihr auch Schnupftücher genug bei euch? Shakespeare zum Vergnügen.
Reclam Verlag, Stuttgart 2000.
167 Seiten, 3,60 EUR.
ISBN-10: 3150097797

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Ulrich Horstmann (Hg.): Mein Name ist Prinz Paradox. Oscar Wilde zum Vergnügen.
Reclam Verlag, Stuttgart 2000.
188 Seiten, 3,60 EUR.
ISBN-10: 3150180597

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Titelbild

Ludger Lütkehaus (Hg.): Stehlen ist oft seliger als nehmen. Nietzsche zum Vergnügen.
Reclam Verlag, Stuttgart 2000.
165 Seiten, 3,60 EUR.
ISBN-10: 3150180503

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