Russlands Eintritt in das 20. Jahrhundert
Felix Philipp Ingold über das Jahr 1913 als "Der große Bruch" in Russland
Von Natalie Reutlinger
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseGesamteuropäisch gesehen war das Vorkriegsjahr 1913 ein Jahr des "geistigen Umsturzes": neue Kulturentwicklungen, der gesellschaftliche Aufbruch und die Revolutionierung der Künste markieren einen Epochenumbruch, wie es ihn nach der Renaissance, in vergleichbarer Radikalität und Wirkungsbreite, nicht mehr gegeben hat.
Mitte 1914 wurde das Zarenreich Russland in den Ersten Weltkrieg involviert. Den verlustreichen Niederlagen folgten die große Oktoberrevolution, ein Bürgerkrieg und der Sturz der Monarchie. Das ehemalige Zarenreich erlebte das Kriegsende mit den Bolschewiki als neuen Machthabern. Rückblickend wird klar, dass das Jahr "1913 das letzte normale Jahr" in der Geschichte des russischen Imperiums gewesen ist.
Felix Philipp Ingold versucht, in seinem Buch das Jahr 1913 als Schlüsseljahr der russischen Moderne diskursiv und dokumentarisch zu vergegenwärtigen. Ingold ist Professor für Kultur- und Sozialgeschichte Russlands an der Universität St. Gallen und Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Zu seinen wissenschaftlichen und literarischen Werken gehören u. a. "Dostojewskij und das Judentum", "Der Autor im Text" und "Literatur und Aviatik".
"Der große Bruch" ist zum einen eine Gesamtdarstellung des Zeitraums von Ende 1912 bis Anfang 1914, die mit Hilfe von zahlreichen zeitgenössischen Bilddokumenten visualisiert wird. Die Bereiche Politik und Ökonomie, Technik und Bildung, Gesellschaft und Alltagswelt werden vorangestellt, bilden den zeitgeschichtlichen Rahmen, um im Kernbereich die künstlerische Kultur Russlands sehr detailliert zu präsentieren. Neben Literatur, Malerei, Philosophie und Theater finden sich auch Beiträge zur "primitiven" Kultur, zum modernen Ausdruckstanz und zum Film, die in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts allmählich an Bedeutung gewinnen. Um 1913 wurde der Film auch von den russischen "Zukunftianern" als gesamtwerkliches Medium entdeckt und mit Erfolg nutzbar gemacht. Es folgten Diskussionen, welche Position der Film neben dem etablierten Theater einnehmen sollte. So war für Leonid Andrejew die Trennung von Theater und Film entscheidend. Film sollte sich auf Bild und Bewegung beschränken, während er dem Theater das Wort und die Psychologie zusprach. Warnungen vor einer amerikanischen Kulturoffensive, die einen Verlust der echten Werte bedeuten würde, waren auch im russischen Zarenreich zu hören.
Diesem ersten Teil des Buches folgt die Chronik des Jahres 1913. Sie ist mit dem Glossar und den Personalnotizen, die Angaben zu den meistzitierten Autoren enthält, eine Art Basis für "Der große Bruch". In ihr findet man die wichtigsten kulturellen Ereignisse des Jahres 1913 im Bereich der Bild- und Wortkunst, des Theaters und der Philosophie. Zusätzlich erwähnt Ingold in einem gesonderten Abschnitt die jeweiligen politischen Ereignisse, mitunter auch die des Auslandes.
Der letzte Teil enthält eine umfangreiche Auswahl an dokumentarischen Texten, darunter kritische und programmatische Schriften, Tagebuch- und Erinnerungstexte aus der Zeit um 1913. Die Dokumente zeugen von Zeitgenossen, hauptsächlich aus den Bereichen der Literatur und Malerei, die den "Epochenumbruch erkennen und zu benennen wissen". Eine weitere Besonderheit dieser Dokumente ist, dass sie die umfangreichste und vielfältigste Materialiensammlung ihrer Art aus russischen Texten darstellt. Viele Texte wurden vom Autor selbst für sein Werk "Der große Bruch" ins Deutsche übersetzt.
Hervorheben möchte ich das Kapitel über die Fliegerei, da sie für die Menschheit zu Anfang des 20. Jahrhunderts eine der größten technischen Neuerungen darstellt. Das Subjekt scheint schwerelos zu werden und erobert sich einen neuen Raum: "Die Fliegerei als realisierte Fortschrittsmetapher". Die Piloten sind die Helden der damaligen Zeit, da sie sich durch einen besonderen Mut auszeichnen, ihren naturgegebenen Lebensraum verlassen und scheinbar schwerelos werden. Somit ist es nicht verwunderlich, dass die Flugthematik auch bald in die moderne Literatur Einzug fand. Eines der ersten und eindrücklichsten Beispiele ist für Ingold das Gedicht "Der Aviatiker" von Aleksandr Blok. Die siebte Strophe lautet folgendermaßen: "Und das Tier mit den verstummten Luftschrauben / Blieb hängen in furchterregender Schräge... / Such du mit ausgeblühten Augen / In der Luft einen Halt ... in der Leere!"
An solchen Beispielen erkennt man die Sachkunde und das Forschungsgebiet des Verfassers ("Literatur und Aviatik"). Die wichtigen Persönlichkeiten und deren Beiträge zum Kulturgeschehen werden knapp und präzis kommentiert, ökonomische und politische Fakten werden in Bezug auf Gesellschaft und Kultur funktional thematisiert.
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