Ethnologische Exzesse und evasive Elternschaft

Worüber Anna Kim in ihrem Roman „Geschichte eines Kindes“ reflektiert

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Individuelle und das Politische bildeten bei ihr immer eine Einheit. Ihre eigene Existenz sei immer politisiert worden und außerdem finde sich die Konjunktion von Privatem und Politischem auch bei Stefan Zweig, der für sie nicht zuletzt ein Vorbild für die Narration ihrer Romane, insbesondere für die Konstruktion von Rahmen- und Binnenerzählungen, sei. Was die österreichische Autorin Anna Kim hier erläutert, passt in vollem Umfang zu ihrem neuen Roman.

Während Kim in Die Heimkehr (2017) ihre koreanischen Wurzeln thematisiert, führt Geschichte eines Kindes in die USA – dies sei wohl Zufall, sagt sie im Interview und im Roman selbst bekennt sie, dass sie „glaube, dass das Leben weit mehr von Zufällen gesteuert wird, als wir wahrhaben können und wollen“. In diese Kontingenz fügt sich ein, dass ihr eine Geschichte begegnet, ihr „zufällt“. Ob dies noch Realität ist oder bereits Fiktion, sei dahingestellt. Im Roman wird dies nur ansatzweise aufgeklärt.

Eine Autorin aus Österreich reist in die USA, um am St. Julian College in Green Bay, Wisconsin, ein Semester als Writer in Residence zu verbringen. Sie mietet ein Zimmer bei einer Mrs. Joan Truttman, die sie mit der Geschichte ihres Mannes Daniel (Danny) vertraut macht. Er sei der einzige Schwarze in Green Bay und nun der einzige Schwarze im Pflegeheim, wo er nach einem Schlaganfall vorübergehend bleiben müsse.

Joan überlässt ihrer Mieterin die „Akte des Sozialdienstes der Erzdiözese Green Bay“, die Dannys Geschichte enthält. Nach seiner Geburt im Juli 1953 wird das Baby zur Adoption freigegeben. Die Vermittlung gestaltet sich insofern als schwierig, als „seine Körpermerkmale […] denen eines Negers entsprechen“ und die Mutter nur den Vornamen des Vaters nennen kann. So bleibt Danny zunächst im Krankenhaus, kommt dann in ein Waisenhaus, von wo aus er nach fast einem Jahr voller ergebnisloser Suchanstrengungen in eine Pflegefamilie entlassen werden darf.

Davor wird Dannys Fall einige Monate lang von der Sozialarbeiterin Marlene Winckler, einer Österreicherin, bearbeitet und kommentiert. Als auch die Familien der möglichen Väter befragt werden und die Wogen um das „Mischlingskind“ hochschlagen, unternimmt Dannys leibliche Mutter einen Suizidversuch. Daraufhin kehrt Marlene Winckler in ihr Heimatland zurück.

Bei ihrem Abschied von Green Bay verspricht die Autorin in Residence, in Wien Erkundigungen über Marlene Winckler einzuziehen. Es stellt sich heraus, dass diese sich als Wissenschaftlerin definierte und 1942 an einer Expedition ins Ghetto Tarnów teilnahm, um dort jüdische Familien anthropologisch zu untersuchen. Einige Jahre später wanderte sie in die USA aus.

Für die Lektüre des zweiten Teils der Dokumentation habe sie sehr lange gebraucht – dies bekennt die fiktive Autorin und Ich-Erzählerin. Die real existierende Anna Kim wiederum spricht von einem „schmerzhaften Prozess“, den sie durchlaufe, bevor ihre Romane zum Text fänden. In gewisser Weise spiegeln beide Bemerkungen die Lektüre des Romans. Obwohl sich die Erzählzeit kurzhalten lässt, ist sie alles andere als kurzweilig, weil man sich anstrengen, sich die Lektüre erarbeiten muss und dabei je nach individueller Disposition eine Art „schmerzhalten Prozess“ durchlebt. In erster Linie wird dieser von der schier unüberschaubaren Menge an Details befeuert, die sich durch Dannys Akte ziehen.

Man stolpert aber ebenso über das Vexierspiel von Fiktion und Realität zu Beginn des Romans, was nicht verwundert, wenn man weiß, dass Anna Kim das „Spiel mit dem Irreführen“ liebt. In einem kurzen Prolog, sowohl der Auftakt für die Geschichte der Ich-Erzählerin als auch für die Dokumentation über Danny, konstruiert Kim eine Herausgeberfiktion, nutzt damit einen seit dem 18. Jahrhundert beliebten Kunstgriff, um die Authentizität der folgenden Fiktion zu akzentuieren. Dieses ludische Element ist nicht selbstzweckhaft, sondern ihm ist das Paradoxon oder auch das kreative Schlupfloch einer „subjektiven Objektivität“ immanent. Einerseits geht damit eine Art autobiografisches Fallenstellen einher – ihr sei die echte Geschichte zugefallen bzw. sie sei ihr „geschenkt“ worden, sie war als Writer in Residence in den USA – , andererseits wendet sich Kim dezidiert gegen platte Parallelen zur eigenen Biografie und unterstreicht damit ihr Bemühen um intensivierte realistische Transposition des Erlebten in die Fiktion.

Auf den Prolog folgen zwei Haupt-Ebenen der Darstellung: die Ausführungen zu Joan Truttman und der Autorin in Residence auf der ersten Ebene bilden nicht einen einfachen Rahmen um Dannys Geschichte, sondern alternieren mit dieser, extensivieren und intensivieren sich, als im letzten Teil des Romans Marlene Wincklers Tochter Silvia Hintergrundinformationen zu den Aktivitäten ihrer Mutter gibt.

Insgesamt lässt sich der Text auf der ersten Ebene weniger als Narration, vielmehr als Reflexion mit narrativen Elementen bezeichnen, in die sich Dannys Akte einfügt. Diese Dokumentation, qua definitionem mit Objektivitätsanspruch einhergehend, ist hochgradig ideologisch eingefärbt. Aus ihr erhellt, dass Dannys Existenz zum Politikum avanciert, dass das, was eigentlich privat sein sollte, weite Kreise des Öffentlichen zieht.

Mit Dannys Akte statuiert Kim des Weiteren ein naturalistisches Exempel, verortet sich in der Traditionslinie eines Determinismus à la Zola, den sie ad absurdum führt und so das selbstgewählte Procedere dekonstruiert. Die Suche nach dem Vater soll allein der Fixierung des Kindes auf genaue „Rassemerkmale“ dienen. Beide Männer, die als Vater infrage kommen, werden nahezu inquisitorisch durchleuchtet, unter anderem werden ihre Eltern befragt, ob es in der Familiengeschichte „Neger“ gegeben habe. Unterdessen wächst ein Kind heran, das vorerst nicht in einer interessierten Familie leben darf, weil seine „Rassemerkmale“ nicht „eindeutig auszumachen“ sind. Neben der Suche selbst ist die Hartnäckigkeit, mit der insistiert wird, skandalös. In der Dokumentation manifestiert sich diese in einer Flut von Kleinigkeiten, die weder inhaltlich noch ästhetisch zu funktionalisieren sind. Die Qualität der Aussage steht zurück hinter einer Quantität, die sich zäh und widerständig gibt und auf diese Weise die Wirkmacht der Ideologie spiegelt.

Segregation an sich ist mehr als verabscheuungswürdig. Auf die Spitze treibt sie das Sammeln, Ordnen und Klassifizieren von „Rassemerkmalen“, weil die alltägliche soziale Praxis des Ausgrenzens mit der These einer vermeintlich wissenschaftlich zu begründenden Alterität gestützt werden soll. Ethnologisch-anthropologische „Vermessungen“, all das, was Marlene Winckler zur Zeit des Dritten Reiches praktiziert hat, soll den klischierten Vorstellungen über „Rassen“ zuarbeiten und über die Rassen-Ideologie den Deckmantel der Anthropologie und Ethnologie ausbreiten. Vor allem in diesem Bereich hat Kim recherchiert. Im Quellenverzeichnis finden sich Verweise auf Ilse Arlt, zudem Titel, die auf Vermessungen der Physis mit einem „Parallelometer“ und „Somatometer“ hinweisen. Marlene Winckler, das hebt Kim hervor, sei der Ethnologin und Anthropologin Hella Pöch nachempfunden, die während der NS-Zeit als Expertin für die Identifikation von „Rassen“ galt.

In ihrem Vorwort betont Kim, dass sie „die Vergangenheit unverändert, unbeschönigt dargestellt“ habe. Gerade in puncto Wortschatz habe sie nichts euphemisiert. Die Verletzungen der Ausgegrenzten jedoch lägen nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart und seien nicht nur an „gewisse Wörter“ geknüpft, denn

obwohl wir gewisse Wörter, Begriffe abgeschafft haben, haben wir es doch nicht geschafft, uns von den Ideen zu trennen, die ihr Innerstes, ihren Kern bilden. Somit riskieren wir, wenn wir Geschichten wie diese weitergeben, auch einen Blick auf die Unterseite der Sprache: auf ihre Kehrseite.

Die „Unterseite der Sprache“, alles Kehrseitige, so lässt sich folgern, alliiert mit dem Präverbalen, Vorbegrifflichen und allem nicht explizit Aufgenommenen oder Gelernten, mit allem, was weiterwirkt, wenn perniziöse ideologische Grundfesten längst abgerissen sind und dennoch Separation betrieben wird. Ihr Mann sei einsam gewesen und sie vermutlich einsam mit ihm, erklärt Joan Truttman und ergänzt, dass sie Dannys Dokumentation deshalb weiterreiche, weil eine Asiatin in Österreich wohl ähnliche Erfahrungen wie Danny in Green Bay gesammelt habe.

Mit ihrem Protagonisten Daniel Truttman insinuiert Kim nicht nur, dass die in den USA der 1950er Jahre gesetzlich verankerte und immerhin 1964 mit dem Civil Rights Act aufgehobene Rassentrennung weitergärt, sondern auch, dass selbst in einem liberalen Land wie Österreich Momente der Exklusion bzw. ein vom Phänotyp einer Person getriggerter Alltagsrassismus zu spüren sind.

Eine solche interpersonale Unbehaglichkeit, etwas zumindest implizit Politisches, bedingt eine existenzielle Sinnsuche, die sich bei allen Hauptfiguren durch die Renitenz der Mutter, ihre widerwillige Rollenübernahme oder ihre Absenz potenziert. Danny kann in den ersten Lebensmonaten keine Bindung zu einer Bezugsperson aufbauen, Joan hatte eine Mutter, „die lieber keine gewesen wäre“; dasselbe trifft auf die fiktive Autorin/Ich-Erzählerin sowie auf Marlene Wincklers Tochter zu. Ihre Geschichten werden zwar nicht auserzählt, aber doch so angerissen, dass die Geschichte eines Kindes die Geschichten mehrerer Kinder, deren Schicksale Parallelen aufweisen, erkennen lässt.

Im Gegensatz zum Essay gebe es im Roman nicht den „Raum zum Durchanalysieren und Durchdenken“ eines Themas, pointiert Kim im oben genannten Interview. Dem ist entgegenzuhalten, dass Geschichte eines Kindes viele Abschnitte voller kluger Gedanken aufweist, mit denen die Interdependenz von Privatem und Politischem im Allgemeinen und die fortbestehende Dynamik des einstmals Politischen im Privaten verdeutlicht wird. Diese Reflexionen indessen nehmen dem Text ab und an genauso die Leichtigkeit wie die Dichte der Dokumentation in Dannys Akte. Außerdem hätte man sich mehr Transparenz in der Gemengelage der historischen Modelle und im Umkreis der anthropologisch-ethnologischen Grundlagentexte wünschen dürfen.

Anna Kim hat einen höchst interessanten, streckenweise faszinierenden Roman vorgelegt, dem das in der Verlagsankündigung herangezogene Adjektiv „berührend“ allerdings mehr als fern liegt. Bei den meisten Rezipient*innen wird der Text eher eine rationale als eine emotionale Ebene ansprechen. Sollte er bis zu letzterer vordringen, wird er weit mehr als nur berühren – nämlich bestürzen und wütend machen.

Titelbild

Anna Kim: Geschichte eines Kindes.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
220 Seiten,
ISBN-13: 9783518430569

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