Schriftsteller, Publizist, Redakteur

Das neue Jahrbuch „treibhaus“ berichtet über Alfred Andersch als Repräsentant der Literatur der frühen Bundesrepublik

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Jahrbuch treibhaus ­­– gemeinsam herausgegeben von Günter Häntzschel, Sven Hanuschek und Ulrike Leuschner im Münchener Richard Boorberg Verlag – ist der Erforschung deutschsprachiger Literatur in den 1950er Jahren gewidmet. Seit 2005 sind bisher 19 Ausgaben erschienen, die sich einer Dekade höchster Ambivalenz widmen und die im Zeichen von Kontinuität und Diskontinuität stand. Die Umschlaggestaltung des aktuellen, zwanzigsten Bands rekurriert auf den ersten Titel dieser Reihe, eine Hommage an Wolfgang Koeppens bahnbrechenden Roman, und weckt Assoziationen an den Dunst, die Abgeschlossenheit und Künstlichkeit sowie an „das Wuchern seltener Pflanzen“ (Verlagsprospekt) in Gestalt der Literatur der ersten bundesrepublikanischen Jahre. Die wechselnden Herausgeber verfolgen das Ziel, die Entwicklung der Literatur in beiden deutschen Staaten sowie in den deutschsprachigen Nachbarländern, von der Nachkriegszeit bis zu den 1960er Jahren nachzuzeichnen und der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem Zeitraum ein Forum zu bieten.

Alfred Andersch (1914–1980) war sicherlich eine der prägendsten Schlüsselfiguren im westdeutschen Literaturbetrieb der 1950er Jahre. Er gründete wegweisende Zeitschriften („Der Ruf“, „Texte und Zeichen“), und prägte ganze Radioreihen, durch die er zahlreichen Autorinnen und Autoren, die oftmals noch Unbekannte des Literaturbetriebs waren, gut bezahlte Sendungen verschaffte. Der Stil seiner eigenen Prosa war knapp und berichtend, seine Vorbilder waren Jean-Paul Sartre und Ernest Hemingway, und mit dem Roman Sansibar oder der letzte Grund konnte er seine Existenz als freier Schriftsteller sichern. Enttäuscht von der politischen Entwicklung in Deutschland, wanderte er aber schon 1958 mit seiner Familie in die Schweiz aus.

Eingeleitet wird der Band mit ausgewählten Briefen Anderschs an die Malerin und Grafikerin Gisela Groneuer, seiner zweiten, langjährigen Ehefrau. Ulrike Leuschner hat mit Unterstützung des Deutschen Literaturarchivs Marburg zahlreiche, bisher unveröffentlichte Briefe aus dem Andersch-Nachlass veröffentlicht und kenntnisreich kommentiert. Schon im ersten Brief Anderschs vom 6. Dezember 1945 an seine spätere Partnerin deutet sich die Geschichte vom Werden und Zusammenwachsen eines unkonventionellen Künstlerpaares an. Die Briefe setzen mit Anderschs Rückkehr aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft im Herbst 1945 ein und erstrecken sich über vier Jahre, bis die Liebenden im Sommer 1949 endlich ein gemeinsames Leben beginnen können. Der letzte abgedruckte Brief datiert vom 18. Mai 1949.

Der Briefteil des Bandes füllt circa ein Drittel des neuen Jahrbuchs und wirft Schlaglichter auf die Denunziationen, denen Andersch im Dritten Reich ausgesetzt war, auf seine Haft im KZ Dachau und auf die Umstände seine Desertion von der deutschen Wehrmacht. Beleuchtet werden auch die Umstände seiner Scheidung von seiner ersten Frau, die er böswillig im Stich gelassen habe, letztlich die sogenannte „W. G. Sebald-Debatte“, die sehr zur Rufschädigung Anderschs beigetragen hat.

Neue Quellenfunde entkräften indes diese Anwürfe, ergänzt um biografische Details darüber, dass Andersch aktiv der italienischen „Resistenza“ zuarbeitete, bevor er während seines Kriegseinsatzes in der Toskana 1944 zu den Amerikanern überlief.

In einem resümierenden Beitrag – „Was für Narren wir doch waren!“ – schildert Leuschner die Höhen und Tiefen einer dynamischen Paarbeziehung auf dem Hintergrund des vielschichtigen literarischen und zeitgeschichtlichen Panoramas der beginnenden 1950er Jahre der Bundesrepublik. Begleitet wird dieses Porträt aus Briefen von weiteren Quellen, zwei Artikeln Anderschs aus der Zeitschrift Der Ruf vom 1.10.1946 und vom 15.11.1946, die von der Entwicklung des kulturellen Lebens in Westdeutschland berichten, sowie von einem wichtigen Zeitdokument: Anderschs letztem Brief an Gisela Gronauer vor seiner Desertion am Pfingstsonntag 1944, der schon einmal von Anderschs Tochter Annette Korolnik-Andersch publiziert worden ist. Dieser Brief ist deshalb so wichtig für das spätere Werk, weil er die Ich-Perspektive und die Erlebnisschildrungen des späteren Erzählers aus dem Roman Die Kirschen der Freiheit schon vorausnimmt und deshalb auch hier nochmals dem Lesepublikum vorgestellt werden kann.

Die literaturwissenschaftlichen Beiträge greifen Aspekte auf, die das Spektrum von Anderschs vielfältigem Schaffen wie auch sein Wirken als „Netzwerker“ zeigen. So recherchierte er zwei Jahre nach Erscheinen dieses Buches für ein geplantes Radiofeature über das norddeutsche Wattenmeer. Dabei entstand quasi als Seitenstück eine Novelle mit dem Titel Diana mit Flötenspieler, die 1958 in dem Erzählband Geister und Leute erschienen ist. Der Literaturwissenschaftler Sven Hanuschek geht Anderschs detaillierten Recherchen nach und setzt sich mit Anderschs Fiktionalisierungstechniken auseinander.

Ein weiterer grundlegender Beitrag von Diego León-Villagrá setzt sich mit den zeitgenössischen Reaktionen auf das erste Heft der von Andersch herausgegebenen Zeitschrift Texte und Zeichen auseinander, in dem u.a. Arno Schmidts Erzählung Seelandschaft mit Pocahontas erstabgedruckt wurde, was zur Androhung eines gerichtlichen Verfahrens gegen den Autor führte. Darüber und über die damaligen staatsanwaltlichen Ermittlungen auch gegen den Herausgeber wird ein lebendiges Bild der neu aufgekommenen drohenden Zensurmaßnahmen gegen die sich gerade entwickelnde westdeutsche Literatur von klerikal-konservativer Seite gezeichnet.

In den abschließenden Beiträgen geht es um die Entwicklung und Förderung einer Medienöffentlichkeit durch Anderschs breites Engagement für einen demokratischen Rundfunk. Besonders in seinen „Nachtprogrammen“ erwies sich der Redakteur Andersch als Förderer eine lebendigen Streitkultur, so in seinen Studio-Einladungen an Adorno und den schon damals umstrittenen Rechtsphilosophen Carl Schmitt. Die nächsten Aufsätze widmen sich Anderschs Unterstützung von Heinrich Böll, seiner Umwerbung des Komponisten Hans Werner Henze und seinem energischen Eintreten für den noch weithin unbekannten Autor Arno Schmidt.

Von Beginn an war Anderschs Erzählwerk vom Umschlag einer genau beschriebener Faktizität in Utopie geprägt, verhalten dagegen blieb seine Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Nationalsozialisten, wie es der abschließende Beitrag von Axel Dunker über Anderschs Anteil am zeitgenössischen Euthanasie-Diskurs (im Roman Sansibar oder der letzte Grund aus dem Jahr 1958) zeigt. Insgesamt kann dieser neue Band auch durch seine typografische Gestaltung, die vielen Bildbeigaben und nicht zuletzt durch die gediegene Hardcover-Aufmachung überzeugen und setzt damit die Reihe, die sich auch bisher schon mit einzelnen Autoren wie Wolfgang Koeppen, Wolfgang Hildesheimer und Wolfdietrich Schnurre auseinandergesetzt hat, gelungen fort.

Titelbild

Günter Häntzschel / Sven Hanuschek / Ulrike Leuschner (Hg.): Alfred Andersch.
edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag, München 2024.
395 Seiten , 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783967077018

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