Gar nicht trocken!

Christopher Clarks neuer Blick auf das Europa der Jahre 1848/49 – und bis heute: „Frühling der Revolution“

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der seit Erscheinen seines Buchs Die Schlafwandler als Bestsellerautor gefeierte australische Historiker Christopher Clark –derzeit Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine’s College in Cambridge – hat sich den gescheiterten Revolutionen der vierziger Jahre des vorletzten Jahrhunderts zugewendet. Auch die ihm zugewachsene neue Aufmerksamkeit als Kommentator einer Geschichtsserie im deutschen Fernsehen eines breiten Publikums dürfte dazu beigetragen haben, dass sich seine Monografie auf den aktuellen Bestsellerlisten einen sicheren Platz erobern konnte.

Clark nähert sich seinem Thema in einem breit angelegten Entwurf neuer Sichtweisen. Wie er in einem Interview bekannte, war er schon als Heranwachsender genervt von den trockenen Darstellungen in den Geschichtsbüchern, die ihm wie reine Ereignisberichte vorkamen. Heute zeigt er sich begeistert vom „Frühling der Revolution“ im europäischen Maßstab, der alles verändert habe. Er möchte das verbreitete Narrativ von der „gescheiterten Revolution“ korrigieren. Für ihn ist die Revolution von 1848/49 bei aller Widersprüchlichkeit ein vielstimmiges Ereignis, das neu erzählt werden muss, da es mehr als die beiden Seiten von Verlierern und Gewinnern gab. Die Radikalen seien gescheitert, aber die Liberalen hätten sich durchgesetzt, auch weil sie bereit gewesen seien, sich mit den konservativen Kräften zu verbünden. Der „Kampf für eine neue Welt“ – so der Untertitel seiner mehr als tausend Seiten umfassenden Monografie – sei zwar immer auch einer der Barrikaden und der Schüsse, würde sich aber nicht darin erschöpfen. Die alten Mächte hatten und haben, so Clark, langfristig keine Chance, wenn sich in der Bevölkerung Formen des zivilen Ungehorsams ausbreiten.

Clarks Darstellung verzichtet auf eine umfangreiche Bibliografie der Fachliteratur zur Geschichte des 19. Jahrhunderts und der Revolutionen im europäischen Maßstab, aber mehr als 130 Seiten sind allein dem beigefügten Kartenmaterial, den Anmerkungen und einem ausführlichen Register gewidmet. Die Ergebnisse der bisherigen Forschungen lässt er nur stellenweise einfließen, eine Auseinandersetzung mit ihnen steht nicht im Fokus seines Interesses. Dies wird den Leserinnen und Lesern schon bei Durchsicht des Inhaltsverzeichnisses verdeutlicht: man stößt auf ungewöhnliche und eher feuilletonistisch anmutende Überschriften: „Ordnungskonzepte“ – „Konfrontation“ – „Explosionen“ – „Entropie“. Nur die Einleitung wirft einen zunächst eher traditionell anmutenden Blick auf die geschichtlichen Abläufe von der Französischen Revolution bis zu ihrem Nachwirken. Dann aber, einsetzend mit dem Kapitel „Soziale Fragen“, geht es um die Hintergründe der Revolutionen von 1848, um den „wirtschaftlich motivierten Protest und das unübersehbare soziale Elend“, das eine polarisierende, politische Energie entfaltete, die Volksaufstände bis heute „geerbt“ hätten. Was folgt ist keine trockene Aufzählung von historischen Fakten, sondern eine Mischung aus Kommentierung von zeitgenössischen Romanen und Sozialberichten, manchmal minutiöse Beschreibungen von ikonisch gewordenen Kunstwerken, eine weit gefasste, oft ins Erzählerische abschweifende Schilderung des „politischen Universums“, in dem Revolutionen ausbrechen können, und alles das fast im Weltmaßstab, keinesfalls auf ein „Kerneuropa“ beschränkt.

Clark spannt einen weiten Bogen, der politische, soziale und philosophische Betrachtungen einschließt und reflektiert, weil die Ereignisse des frühen 19. Jahrhunderts große Nachwirkungen hatten, und weil die Revolutionen schon immer „den Monarchen eine Lektion über Macht des Nationalismus und den Nationalisten eine Lektion über die Unverzichtbarkeit staatlicher Macht erteilten“. Im Schlussteil wird deutlich, warum Clark über die herkömmlichen Würdigungen und Ereignisse in so vielen europäischen Staaten hinausgeht: er versteht sich als ein Zeitzeuge des heutigen ersten Viertels des 21. Jahrhunderts, der auf die Revolutionen zurückblickt, dem es unmöglich ist, sich den „Resonanzen“ zu entziehen. Die Fragen, die damals aufgeworfen worden seien – „zum Recht auf Arbeit, zum Gleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital, zur Erwerbsarmut, zur Verschärfung der Ungleichheit und zur sozialen Krise in den Städten“ –, sind für ihn allesamt noch immer aktuell.

Wie lässt sich die langsame Politik der Parlamente mit der schnellen Politik von Demonstrationen, Twitter, Flashmobs und außerparlamentarischen Bewegungen in Einklang bringen? Wann, wenn überhaupt, ist Gewalt eine legitime Form von Politik? Wie kann die Funktionalität liberaler Institutionen optimiert und gleichzeitig der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit oder nach tiefgreifenden – und möglicherweise unpopulären – Veränderungen Rechnung getragen werden, die erforderlich sind, um den Herausforderungen des Klimawandels zu begegnen?

Dieses Zitat macht deutlich, wodurch sich Clarks weit ausholende Geschichte seit dem „Frühling“ des Jahres 1848 von vielen anderen Publikationen über das 19. Jahrhundert unterscheidet, vor allem, warum sie das nach Ansicht des Autors tun muss: Wir leben in einer Zeit der Übergangssymptome (neue soziale Bewegungen, Trump-Kundgebungen, Occupy Wall Street, QAnon, die Gilet jaunes und vieles andere mehr), die vor dem Hintergrund des Aufruhrs der Revolutionen in der Mitte des 19. Jahrhunderts „gelesen“ werden müsse und uns dann weniger fremd erscheine. Clarks Fazit als Historiker ist, dass für uns als „Geschöpfe der Hochmoderne“ neue Affinitäten möglich sind und es daher „besonders spannend, ja sogar lehrreich“ sei, über die Menschen und Situationen von 1848 nachzudenken.

Dieser Ansatz macht die Lektüre des Buchs nicht leichter: Man kann es wegen der Fülle des ausgebreiteten Materials nur etappenweise lesen. Wer eine bloße Darstellung von historischen Fakten erwartet, sollte zu anderen, kompakteren aktuellen Darstellungen greifen, denn das Werk ist über lange Strecken auch ein historisches Lesebuch, das aber im besten Sinn. Das Buch hat einen schnellen Weg auf den deutschen Buchmarkt gefunden, die Originalfassung erschien ebenfalls 2023 bei Allen Lane, London unter dem Titel Revolutionary Spring. Fighting for a New World, 1848 – 1849.

Titelbild

Christopher Clark: Frühling der Revolution. Europa 1848.
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, Klaus-Dieter Schmidt, Andreas Wirthensohn.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2023.
1168 Seiten , 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783421048295

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